Zum Inhalt

Fritz Mauthner — Denken und Sprechen

 

FRITZ MAUTHNER
Denken und Sprechen

Es gibt nirgends etwas wie “graben” oder “gehen”, es gibt nur unzäh­lige Bewegungen oder Handlungsdifferentiale, die wir je nach dem Zwecke der Handlung als “graben” oder als “gehen” begreifen.”

Nicht nutz­los schei­nen mir alle diese Betrachtungen über das Verhältnis von Denken und Sprechen. Aber denk­haft sind sie und sprach­haft, vor der letz­ten sprach­kri­ti­schen Arbeit ange­stellt. Darum klin­gen sie aus in der tragi­schen Verzweiflung, die fast wieder Wortknechtschaft ist, anstatt in dem resi­gnier­ten lachen­den Zweifel sprach­kri­ti­scher Befreiung. Am Ende des Weges hätte ich fragen dürfen: Was geht es mich an, daß die Worte Denken und Sprechen zufäl­lig entstan­den sind? Daß die beiden Worte im Sprachgebrauche einan­der unre­gel­mä­ßig durch­schnei­den? Daß ihre Umfänge sich nicht zu saube­ren Kreisen gestal­ten? Und hätte ich nicht ebenso breit und gewis­sen­haft ähnli­che Verhältnisse analy­sie­ren müssen? Gott und Welt? Energie und Stoff? Leben und Organismus? Sprechen und Verstehen? Und scho­las­tisch nicht immer wieder auf den Gegensatz von subjek­tiv und objek­tiv kommen müssen?

Am Ende des Weges aber könnte ich aber doch, anschau­li­cher als bisher, klar zu machen suchen, warum ich Denken und Sprechen immer wieder gleich setzen muß, als die beiden gleich­wer­ti­gen Begriffe für die Summe des mensch­li­chen Gedächtnisses, warum ich trotz­dem die verschie­dene Tönung der Begriffe im Sprachgebrauche zugebe. An dieser Stelle muß ich kurz vorweg­neh­men, was erst bei der Kritik des Zeitworts (im 2. Kapitel des 3. Bandes) deut­lich werden wird:

Daß es irgend ein Verbum in der Welt unse­rer Vorstellungen nicht gibt, daß die Vorstellungen des Handelns insge­samt durch einen heim­li­chen Zweck entste­hen, durch den Zweck im Verbum, außer­halb der Natur, durch die mensch­li­che Zweckvorstellung. Es gibt nirgends etwas wie “graben” oder “gehen”, es gibt nur unzäh­lige Bewegungen oder Handlungsdifferentiale, die wir je nach dem Zwecke der Handlung als “graben” oder als “gehen” begrei­fen. Es gibt nirgends ein “Begreifen”, es gibt nur unzäh­lige mikro­sko­pi­sche (bild­lich, nicht mate­ria­lis­tisch) Bewegungen oder Veränderungen, die wir als “begrei­fen” begrei­fen oder zusam­men­fas­sen. Solche Verba sind auch Denken und Sprechen. Zusammenfassungen mensch­li­cher Bewegungen zu einem Zweck. Handlungen, die ausein­an­der­fal­len, wenn der Ort der Handlung in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt. Die zusam­men­fal­len, wenn die Aufmerksamkeit sich rich­tet auf den Erzeuger des Verbums, den Zweck.

Sprache oder Denken ist da, so oft mensch­li­ches oder tieri­sches Handeln durch Gedächtniszeichen erleich­tert wird, also eigent­lich immer. Im wissen­schaft­li­chen Sprachgebrauch wird bald der Begriff Denken, bald der Begriff Sprechen unkon­trol­lier­bar erwei­tert und dann decken sich beide Begriffe für ein Weilchen nicht. In der Sprache nicht. Das diskur­sive Denken ist mit der Sprache iden­tisch. Das Denken kann aber auch sprung­haft werden und dann läßt es die Krücken der Sprache los. Wie beim Sprunge über den Graben, beim verstan­des­mä­ßi­gen Handeln von Mensch und Tier. Wirklich ebenso. Das verstan­des­mä­ßige Handeln fällt unter den erwei­ter­ten Begriff Denken. Nicht anders könnte man auch den Begriff “spre­chen” erwei­tern auf jede Benützung von Gedächtniszeichen, mit deren Hilfe sich das Tier in der Welt orien­tiert. Sprunghaft wären dann die Instinkthandlungen bei Mensch und Tier.

Der Zweck im Verbum ist zum gegen­sei­ti­gen Verstehen notwen­dig. Darum ist die Mitteilungsmöglichkeit bei den Tieren (Tierstaaten ausge­nom­men) so gering. Darum verste­hen Menschen und Tiere einan­der nicht leicht. Der Mensch sagt: “Ich denke ich spre­che; der Hund bellt.” Der Hund bellt viel­leicht: “Ich denke und spre­che; der Mensch bellt.” Der Mensch: “Ich spre­che; der Buchfink singt.” Der Buchfink: “Ich spre­che; der Mensch singt.” A sagt: “Ich denke; B spricht.” B sagt: “Ich denke; A spricht.”

Noch ein Beispiel, um das Verhältnis von Denken und Sprechen lachend klar zu machen. Wie bei der Handlung des Sprechens der Zweck im Verbum oft nicht zum Bewußtsein kommt, so auch nicht immer bei der Handlung des Gehens. Man nennt die zweck­lose Fortbewegung “gehen”, land­schaft­lich auch laufen oder sprin­gen. (Ähnlich für spre­chen: reden oder sagen.) Läuft aber der Hund oder der Mensch dem Hasen nach, so jagt er den Hasen. Da haben wir zwei Worte, jagen und laufen, die sich ebenso weit vonein­an­der entfer­nen wie denken und spre­chen, und die dennoch zusam­men­fal­len, bis in ihre Bewegungsdifferentiale.

Der Zweck erzeugt sich das Verbum, die zweck­mä­ßige Menschensprache mit ihren Begriffen und Kategorien erzeugt sich das Denken. Vielleicht ist die hier versuchte Darlegung des Verhältnisses von Denken und Sprechen nicht gar zu ferne von KANTs tiefs­ter Lehre, seiner wahr­haft koper­ni­ka­ni­schen Revolution: “Zur Erfahrung wird Verstand erfor­dert.” Und Vernunft. Denn die objek­tive Welt stammt von unse­rer Begriffswelt ab, die eroberte Gedankenwelt von der ererb­ten Sprache.

LITERATUR — Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. III, Frankfurt/Berlin/Wien 1982

Published inAllgemeine Semantik

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert