Zum Inhalt

Anatol Raport — Die Abstratktionsleiter

Der Zweck der Abstraktionsleiter besteht darin, den Abstraktionsprozess bewußt zu machen.

Wie wir die Dinge benen­nen und wo wir die Unterscheidungslinie zwischen einer Klasse von Dingen und einer ande­ren ziehen, hängt von unse­rem Interesse ab. Zum Beispiel werden Tiere auf die eine Weise von der Fleischindustrie, auf eine andere Weise von der Lederindustrie, auf wieder eine andere Weise von der Pelzindustrie und auf eine noch andere Weise von den Biologen klas­si­fi­ziert. Keine dieser Klassifikationen ist irgend­wie endgül­ti­ger, als eine andere; jede von ihnen ist für ihren Zweck nützlich.

Dies gilt natür­lich für alles, was wir wahr­neh­men. Ein Tisch ist ein Tisch für uns, weil wir seine Beziehung zu unse­rem Verhalten und Interesse verste­hen können. Wir essen an ihm, arbei­ten auf ihm, legen Gegenstände auf ihn. Aber für eine Person, die in einer ande­ren Kultur lebt, in der keine Tische gebraucht werden, mag er ein sehr großer Stuhl, eine kleine Plattform oder ein bedeu­tungs­lo­ses Gebilde sein. Wenn unsere Kultur und Erziehung eine andere wäre, so würde das heißen, daß unsere Welt auch eine andere wäre.

Viele von uns können zum Beispiel nicht unter­schei­den zwischen jungen Hechten, Lachs, Heilbutt, Barsch und Makrelen; wir nennen sie einfach Fisch. Für einen Fischliebhaber indes­sen sind diese Unterscheidungen wich­tig, da sie für ihn den Unterschied zwischen einer guten Mahlzeit oder einer schlech­ten bedeu­ten. Für einen Zoologen werden selbst feinere Unterscheidungen von großer Wichtigkeit, da er andere Ziele verfolgt. Wenn wir dann die Aussage hören “Dieser Fisch ist ein Exemplar von Pompano, Trachinotus Carolinus”, so nehmen wir dies als wahr hin, selbst wenn es uns gleich­gül­tig ist, nicht weil dies sein rich­ti­ger Name ist, sondern weil er so in dem voll­stän­digs­ten und allge­meins­ten System der Klassifizierung klas­si­fi­ziert wird, das Leute entwi­ckelt haben, die an Fischen das größte Interesse haben.

Es gilt, die Abstraktionsebenen bewußt zu machen. Durch unsere Sinne erhal­ten wir Kenntnisse über die Welt. Indessen geben uns unsere Sinne nur lücken­hafte Informationen über die physi­ka­li­sche Wirklichkeit. Was wir als einen Gegenstand wahr­neh­men, ist in Wirklichkeit ein schreck­lich kompli­zier­tes Zusammentreffen von Vorgängen, die sich unmög­lich in ihrer Vollständigkeit beschrei­ben lassen. Aber unser Nervensystem verar­bei­tet unsere Sinneseindrücke derart, daß wir einen Gegenstand als etwas wahr­neh­men. Dieser wahr­ge­nom­mene Gegenstand ist die erste Abstraktionsebene. Namen von Klassen von Gegenständen, Eigenschaften, die Klassen defi­nie­ren, Verallgemeinerungen, Theorien und so weiter stehen auf zuneh­mend höhe­ren Abstraktionsebenen.

Das Universum ist in stän­di­gem Fluß. Die Sterne wach­sen, kühlen sich ab, explo­die­ren. Selbst die Erde bleibt nicht gleich; Berge werden abge­tra­gen, Flüsse wech­seln ihr Bett, Täler vertie­fen sich. Auch alles Leben ist im Prozess der Verwandlung durch Geburt und Wachstum zu Verfall und Tod. Sogar was wir als leblose Materie — Stühle, Tische, Steine — zu nennen pfle­gen, ist nicht starr, wie wir jetzt wissen, denn auf submikro­sko­pi­scher Ebene besteht sie aus einem Wirbel von Elektronen.

Wenn ein Tisch heute fast so aussieht, wie er gestern oder viel­leicht vor hundert Jahren aussah, so nicht deshalb, weil er sich nicht verän­dert hat, sondern weil diese Veränderungen für unsere grobe Wahrnehmung allzu gering­fü­gig gewe­sen sind. Für die moderne Naturwissenschaft gibt es keine festen Körper. Wenn die Körper für uns fest ausse­hen, so nur deshalb, weil die Bewegung ihrer kleins­ten Teilchen zu rasch oder zu sehr im Kleinen abläuft, um wahr­ge­nom­men zu werden. Sie sind fest nur in dem Sinne, in dem eine schnell rotie­rende Farbkarte weiß ist oder eine sich schnell drehende Kreiselspitze stillsteht.

Unsere Sinne haben enge Wahrnehmungsgrenzen, so daß wir stän­dig Instrumente wie Mikroskope, Teleskope, Tachometer, Stethoskope und Seismographen benut­zen müssen, um die Vorgänge entde­cken und aufzu­zeich­nen, die unsere Sinne nicht unmit­tel­bar wahr­neh­men können. Wir nehmen Unterschiede nicht wahr, bevor sie nicht eine gewisse endli­che Größe über­schrit­ten haben. Die Art, in der wir Gegenstände wahr­neh­men, ist das Ergebnis der Besonderheiten unse­res Gehirns. Es gibt Lichtwellen, die wir nicht sehen können, und, wie selbst Kinder heut­zu­tage mit ihren Hochfrequenzpfeifen wissen, Schallwellen, die wir nicht hören können. Es ist deshalb absurd zu glau­ben, daß wir jemals etwas wahr­neh­men, wie es wirk­lich ist.

So wenig ausrei­chend unsere Sinne sind, so sagen sie uns doch mit Hilfe von Instrumenten vieler­lei. Die Entdeckung der Mikroorganismen mit Hilfe des Mikroskops hat uns eine gewisse Herrschaft über die Welt der Bakterien gege­ben. Wir können keine elek­tro­ma­gne­ti­schen Wellen sehen, hören oder fühlen, aber wir können sie für nütz­li­che Zwecke erzeu­gen und umwan­deln. Das meiste bei der Eroberung der äuße­ren Welt, in der Technik, in der Chemie und in der Medizin verdan­ken wir der Anwendung von aller­lei ausge­klü­gel­ten Mechanismen, um die Leistungsfähigkeit unse­res Gehirns zu erhö­hen. Im alltäg­li­chen Leben genü­gen unsere Sinne noch nicht einmal zur Hälfte, um ohne Hilfsgeräte in der Welt durch­zu­kom­men. Wir können nicht einmal den Vorschriften über die Geschwindigkeitsbegrenzungen nach­kom­men oder unsere Gas- und Elektrizitätsrechnungen ohne Meßinstrumente aufstellen.

Unser Interesse für den Abstraktionsprozess mag befremd­lich erschei­nen, da das Studium der Sprache allzu­oft Fragen der Aussprache, der Rechtschreibung, des Wortschatzes, der Grammatik und des Satzbaus beschränkt ist. Die Methoden, nach denen in altmo­di­schen Schulsystemen gelehrt wird, sind offen­bar weit­hin für die verbrei­tete Vorstellung verant­wort­lich, daß die Methode des Sprachstudiums sich ausschließ­lich auf Wörter beschränkt.

Liesel, die Kuh
Um auf die Beziehungen zwischen Worten und dem, wofür sie stehen, zurück­zu­kom­men, wollen wir anneh­men, daß vor uns “LIESEL”, eine Kuh, steht. LIESEL ist ein leben­der Organismus, der sich stän­dig verän­dert, stän­dig Futter und Luft verbraucht, umwan­delt und wieder von sich gibt. Ihr Blut zirku­liert, ihre Sinnesorgane geben ihr Nachrichten. Durch das Mikroskop ist sie eine Masse von verschie­den­ar­ti­gen Korpuskeln, Zellen Bakterienorganismen; vom Standpunkt der moder­nen Physik aus gese­hen, ist sie ein bestän­di­ger Elektronentanz. Was sie in ihrer Gesamtheit ist, können wir niemals wissen, selbst wenn wir in einem bestimm­ten Augenblick sagen könn­ten, was sie war. Im nächs­ten Augenblick hätte sie sich so sehr verän­dert, daß unsere Beschreibung nicht mehr genau wäre. Es ist unmög­lich, voll­stän­dig zu sagen, was LIESEL oder irgend ein ande­res Ding wirk­lich ist. LIESEL ist kein stati­sches Objekt, sondern ein dyna­mi­scher Prozess.

Die LIESEL, die wir wahr­neh­men, ist aber wieder etwas ande­res. Wir nehmen nur einen klei­nen Bruchteil der voll­stän­di­gen LIESEL wahr: die Lichter und Schatten ihres Äußeren, ihre Bewegungen, ihre allge­meine Gestalt, ihre Geräusche, die sie macht, und die Empfindungen, die sie in unse­rem Tastsinn hervor­ruft. — Und infolge unse­rer frühe­ren Erfahrung beob­ach­ten wir Ähnlichkeiten zwischen ihr und gewis­sen ande­ren Tieren, auf welche wir in der Vergangenheit das Wort Kuh ange­wandt haben.

Der Abstraktionsprozess
Der Gegenstand unse­rer Wahrnehmung ist also nicht das Ding-ansich, sondern eine Wechselwirkung zwischen unse­rem Gehirn und etwas, das außer­halb unse­res Gehirns ist.

LIESEL ist einma­lig. Es gibt nichts im Universum, das ihr in jeder Hinsicht gleicht. Wir abstra­hie­ren aber und wählen aus der VerwandlungsLIESEL die Züge aus, in denen sie ande­ren Tieren ähnlich ist, und wir klas­si­fi­zie­ren sie als “Kuh”.

Der Gegenstand , den wir sehen, ist eine Abstraktion auf der unters­ten Ebene; aber es ist immer noch eine Abstraktion, weil sie Merkmale des Vorgangs ausläßt, der die wirk­li­che LIESEL ist.

Das Wort LIESEL (Kuh‑1) ist die unterste verbale Abstraktionsebene, auf der weitere Merkmale ausge­las­sen sind — die Unterschiede zwischen LIESEL gestern und LIESEL morgen — und wobei nur die Ähnlichkeiten ausge­wählt sind.

Das Wort Kuh wählt nur die Ähnlichkeiten zwischen LIESEL (Kuh‑1), Grete (Kuh‑2) und so weiter aus und läßt daher noch mehr von LIESEL aus.

Das Wort Viehbestand wählt (oder abstra­hiert) nur die Züge aus, die LIESEL mit Schweinen, Küken, Ziegen und Schafen gemein­sam hat.

Der Begriff Betriebsinventar abstra­hiert nur die Züge, die LIESEL mit Scheunen, Zäunen, Betriebsinventar, Möbeln, Generatoren und Traktoren gemein­sam hat, und steht deshalb auf einer sehr hohen Ebene der Abstraktion.

Die Abstraktionsleiter
beruht auf einem von ALFRED KORZYBSKI erfun­de­nen Diagramm

1. Die Kuh besteht letzt­lich aus Atomen, Elektronen usw. entspre­chend der derzei­ti­gen wissen­schaft­li­chen Erkenntnis. Die Merkmale sind auf dieser Ebene unend­lich und ändern sich bestän­dig. Dies ist die Prozeß-Ebene.

2. Die Kuh, die wir wahr­neh­men, ist nicht das Wort, sondern der Gegenstand unse­rer Erfahrung, das, was unser Gehirn aus der Totalität abstra­hiert (auswählt), die die Verwandlungskuh darstellt. Viele Merkmale der Verwandlungskuh sind ausgelassen.

3. Liesel
Das Wort “Liesel” (Kuh‑1) ist der Name, den wir dem Gegenstand der Wahrnehmung auf Ebene 2 geben; der Name ist nicht der Gegenstand; er steht für den Gegenstand und läßt viele Merkmale des Gegenstandes außer Betracht.

4. Kuh
Das Wort Kuh steht für die Merkmale, die wir von Kuh‑1, Kuh‑2, Kuh‑3 etc. abstra­hiert haben. Merkmale, die einzel­nen Kühen zukom­men, sind ausgelassen.

5. Viehbestand
Wenn von LIESEL nur als Viehbestand die Rede ist, dann wird nur darauf Bezug genom­men, was sie mit Schweinen, Küken, Ziegen usw. gemein­sam hat.

6. Betriebsinventar
Wenn LIESEL als Betriebsinventar aufge­führt wird, dann wird nur darauf Bezug genom­men, was sie mit allen ande­ren verkäuf­li­chen Gegenständen der Farm gemein­sam hat.

7. Vermögen
Wenn LIESEL als Vermögensposten aufge­führt wird, werden die meis­ten ihrer Merkmale ausgelassen.

8. Reichtum
Der Begriff des Reichtums liegt auf einer äußerst hohen Abstraktionsebene, auf der fast alle Merkmale von LIESEL ausge­las­sen sind.

Der Zweck der Abstraktionsleiter besteht darin, den Abstraktionsprozess bewußt zu machen. Wenn wir die Abstraktionsleiter benüt­zen, können wir wohl Aussagen, wie auch Wörter verschie­de­nen Abstraktionsebenen zuwei­sen. Frau Levin macht gute Kartoffelpuffer mag als eine Aussage auf einer ziem­lich niede­ren Abstraktionsebene ange­se­hen werden, obgleich sie sicher­lich viele Merkmale ausläßt, wie die Bedeutung von Güte bei Kartoffelpuffern und die selte­nen Gelegenheiten, wenn ihr Kartoffelpuffer nicht gut geraten.

Frau Levin ist eine gute Köchin ist eine Aussage auf einer höhe­ren Abstraktionsebene, da diese Aussage sich nicht nur auf das Geschick von Frau Levin bei Kartoffelpuffern bezieht, sondern auch auf Braten, saure Gurken, Nudeln, Strudel und so weiter, wenn auch dabei nicht im einzel­nen erwähnt wird, was sie fertigbringt.

Die Frauen von Chicago sind gute Köchinnen ist eine Aussage auf einer noch höhe­ren Abstraktionsebene; sie kann nur (wenn üerhaupt) aus der Beobachtung der Kochkünste einer statis­tisch erheb­li­chen Zahl von Frauen in Chicago gemacht werden.

Die Kochkunst in Amerika hat einen hohen Stand erreicht wäre eine noch höhere abstrakte Aussage und müßte, wenn man sie über­haupt macht, sich nicht nur auf die Beobachtung der Hausfrauen von Chicago, New York, San Francisco, Denver, usw. stüt­zen, sondern auch auf die Beobachtung der Qualität der Mahlzeiten, die in Hotels und Restaurants serviert werden, der Qualität der Ausbildung an Oberschulen und College-Abteilungen für Hauswirtschaft, der Qualität der Aufsätze über Kochkunst in ameri­ka­ni­schen Büchern und Illustrierten und vieler ande­rer erheb­li­cher Faktoren.

Abstraktionen auf mehr oder weni­ger hoher Ebene können bewußt oder unbe­wußt dazu benutzt werden, Menschen zu mani­pu­lie­ren. Ein Zugriff konkur­rie­ren­der Mächte auf Ölvorkommen wird dann als Schutz der Integrität klei­ner Nationen bezeich­net. Die Ablehnung der Zahlung von Beiträgen zur Sozialversicherung kann als Aufrechterhaltung des Systems des freien Unternehmertums bezeich­net werden. Wenn den Schwarzen in Verletzung der Verfassung der Vereinigten Staaten ihr Stimmrecht vorent­hal­ten wird, so kann dies als Bewahrung der staat­li­chen Rechte ausge­ge­ben werden.

Wie die Abstraktionsleiter zeigt, ist alles, was wir wissen, eine Abstraktion. Was wir über den Stuhl wissen, auf dem wir sitzen, ist eine Abstraktion von seiner Totalität. Wenn wir Weißbrot essen, dann können wir nach dem Geschmack nicht beur­tei­len, ob es mit Vitamin B ange­rei­chert ist, wie es auf der Verpackung heißt oder nicht; wir müssen einfach darauf vertrauen, daß der chemi­sche Prozess, aus dem die Worte Vitamin B abstra­hiert sind, tatsäch­lich statt­ge­fun­den haben. Was wir über unsere Freundin oder Frau wissen, selbst wenn wir 30 Jahre mit ihr befreun­det, bzw. verhei­ra­tet sind, ist wiederum eine Abstraktion. Das Mißtrauen aber auf alle Abstraktionen ohne Unterschied ausdeh­nen zu wollen, ist Unsinn. Wir dürfen nur nicht verges­sen, daß Abstraktionen prak­tisch sein können, wenn wir uns bewußt sind, wie sie verwen­det werden. Abstraktionen haben über­haupt nur prak­ti­schen Wert. Wenn es keine objek­tive Realität gibt, gibt es auch keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, weil keine Theorie mehr als prak­ti­schen Wert besitzt.

LITERATUR, Anatol Rapoport, Allgemeine Bedeutungslehre, Darmstadt 1972

Published inWeitere Texte

Kommentare sind geschlossen.