“Worte wie Pflanze, Tier, Himmel, Licht, Sprechen, Denken, Vernunft, Verstand, Leben, Tod, Gesundheit, Krankheit u.s.w. gebrauchen wir nur darum, weil wir sie ererbt haben, genau so, wie das eben ausgekrochene Küken das Körnchen aufpickt…”
Dies steht der Erkenntnis der Wahrheit am starrsten im Wege, daß die Menschen alle glauben zu denken, während sie doch nur sprechen, daß aber auch die Denkgelehrten und Seelenforscher allesamt von einem Denken reden, für welches das Sprechen höchstens das Werkzeug sein soll. Oder das Gewand. Das ist aber nicht wahr, es gibt kein Denken ohne Sprechen, das heißt ohne Worte. Oder richtiger: Es gibt gar kein Denken, es gibt nur Sprechen. Das Denken ist das Sprechen auf seinen Ladenwert hin beurteilt.
Wenn ich nur stark genug sagen könnte, wie gemein die Worte des Alltags, die Worte der Gemeinsprache zwischen gemeinen Menschen sind. Worte sind eingesalzene Heringe, konservierte alte Ware. Wer zu denken glaubt, der hat Hunger nach Mitteilung, und darum schmeckt ihm die eingesalzene alte Ware. Und wenn man mag, so darf man das Denken mit der Heringslake vergleichen, die das konservierte Zeug um so reicher umspült, je weniger Ware im Umfang und Begriff der großen Tonne noch vorhanden ist, die, an sich wertlos und kraftlos, sich für die Hauptsache hält — und in die Ladenschwengel und Köchinnen und andere denkende Menschen mit schmutzigen Fingern hineinpatschen, einen elenden Hering zu gattern, und sich nachher die Lake von den Fingern lecken, um andachtsvoll mit Ladenschwung und Küchenernst zu sagen: Das schmeckt salzig, das ist das Denken. Und die sprechenden Menschen sind das Salz der Erde.
Noch schlimmer als um die Ästhetik des Denkens steht es um seine Ethik. Die ältere Medizin, die noch nicht von den Wirkungen der ausgeatmeten Kohlensäure wußte, schrieb die Schädlichkeit des Menschengedränges einem Gifte zu, dem Anthropotoxin. Das wahre Anthropotoxin oder Menschengift ist das Sprechen.
Ein Denken über dem Sprechen, eine Logik über die Sprachlehre hinaus, einen Logos über die Worte hinaus, Ideen über die Dinge hinaus gibt es so wenig wie eine Lebenskraft über dem Lebendigen, wie eine Wärme über der Wärmeempfindung, wie eine Hundheit über den Hunden. Und wem ein Gefallen geschieht mit abstrakten Worten, der mag immer von einer Sprachigkeit reden, die zum Sprechen führt, sein Wissen wird davon etwa so viel gewinnen wie von: die Tiere haben freie Bewegung, weil sie beweglich sind. Oder noch besser — die Tiere haben freie Bewegung, um die Beweglichkeit zu ermöglichen. Die Menschen sprechen, weil sie (denken) die Sprachigkeit besitzen. Die Menschen sprechen, um ihre Sprachigkeit zu zeigen (um zu denken).
Der Irrtum ist wohl daher entstanden, daß man dem Denken, der Sprachigkeit wie anderen ‑heiten und ‑keiten und ‑schaften irgend etwas Gespenstisches, Göttliches, Übermenschliches als Diadem auf den kopflosen Rumpf gestülpt hat. Da müssen dann die ‑heiten und ‑keiten und ‑schaften und mit ihnen natürlich das Denken etwas extra Anständiges sein. Nun ist aber das Sprechen offenbar gewöhnlich ein Geschnatter, in besseren Fällen ein Kellnerbefehl oder eine Notiz. Da muß also hinter dem albernen Sprechen noch das Denken stehen, das kopflose Abstraktum mit dem Königsdiadem. Es klingt furchtbar vornehm: Denken. Wer denkt, der spricht. Und umgekehrt. Wer spricht, der denkt. Woraus zu entnehmen, wie gemein das Denken ist.
Wenn PLATONs Wort, das Denken sei ein innerliches Sprechen, ein Urteil über zwei klar definierte Begriffe enthielte, so wäre die Identität von Denken und Sprechen eine sehr alte Behauptung; denn auf die relative Qualität des Laut oder Leise kommt es umsoweniger an, seitdem auch beim stummen Sprechen oder artikulierten Denken Bewegungsgefühle nachgewiesen worden sind. Aber die Gleichsetzung von Denken und Sprechen ist immer noch so ein gewagter Gedanke, daß auch in diesem Buche, so oft das Denken mit dem Sprechen identifiziert wurde, das Sprachgewissen hinterher vor dieser Gleichung warnte. Sprachkritik ist selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt. Schon 1784 schrieb HAMANN an HERDER “Wenn ich auch so beredt wäre wie DEMOSTHENES, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen.” Es ist nicht bloß Bescheidenheit, wenn HAMANN da von seinem Markknochen” spricht, und dann wieder von seinem “Misthaufen” (im Gegensatz zu HERDERs “Lustgarten”.
Es ist mehr. Sprachkritik ist bedenklicher als jede andere wissenschaftliche Disziplin. Das Werkzeug, die Sprache, empört sich, will mitreden. Auch bei dem Satze: Vernunft ist Sprache. Die Sache ist darum so schwierig, weil wir auch heute noch eine klare Definition weder des Sprechens noch des Denkens besitzen. Die Unsicherheit über das Wesen der Sprache möchte noch hingehen, weil man doch wenigstens für praktische Zwecke ungefähr eine Vorstellung beim Gebrauche des Wortes Sprache hat. Das Wesen des Denkens jedoch ist so unfaßbar, daß man sich jedesmal etwas anderes vorstellt, je nachdem man dem Denken dieses oder jenes Prädikat gibt. Sagt man das Denken ist Sprache, so stellt man sich eben sofort oder unmittelbar vorher unter dem Denken gerade das Sprechen vor.
Wie dem auch sei, kein Mensch hätte für sich allein genügende Erfahrungen gesammelt, um aus ihnen heraus das ungeheure Gerüst seiner Muttersprache (in deren latenten Klassifikationen all seine Welterkenntnis und all sein Schließen, also all sein Denken apriorisch steckt) aufbauen zu können; den weitaus größten Teil seiner Sprache, den er für erworbenes Gedächtnis hält, hat er ererbt; darum verwendet der Durchschnittsmensch seine Sprache auch so gedankenlos; denn von nichts gilt so sehr wie von der Sprache: “Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.” Es steckt also in dem Gebrauch der Muttersprache eine unverhältnismäßig große Masse von ererbtem, nicht erworbenem, nicht nachkontrolliertem Gute, das auf Treu und Glauben benutzt wird. Man könnte das in historisch-philosophischem Scherze auch so ausdrücken, daß der denkende Mensch nur erworbene Begriffe anwenden sollte, daß er aber unbewußt viel häufiger angeborene Begriffe ausspreche.
Natürlich meine ich damit nicht die angeborenen Begriffe der älteren Psychologie, sondern das, was in unseren Alltageworten an ererbten, nicht nachkontrollierten Klassifikationen und Abstraktionen steckt. Wem das klar geworden ist, der wird nicht daran zweifeln, daß wir, und wären wir Doktoren der Philosophie, Worte wie Pflanze, Tier, Himmel, Licht, Sprechen, Denken, Vernunft, Verstand, Leben, Tod, Gesundheit, Krankheit u.s.w. nur darum gebrauchen, weil wir sie ererbt haben, genau so, wie das eben ausgekrochene Küken das Körnchen aufpickt, wie die Amsel ihr Nest baut. Die noch unter dem menschlichen Verstande eingeordnete Denktätigkeit der Tiere nennen wir Instinkt; die über dem menschlichen Verstande klassifizierte Denktätigkeit in Worten nennen wir Vernunft. Wir haben aber jetzt schon in erster Andeutung erfahren, daß in dieser Vernunft eine Masse ererbter, nicht individuell erworbener, nicht nachkontrollierter, also, instinktiver Denktätigkeit versteckt ist. Man wende mir jetzt nicht wieder ein, daß die Sprache noch etwas außer ihren Teilen sei, daß das Abstraktum Sprache etwas sei außer den Worten. Nimmt man von einem Gebäude alle Steine fort und alles andere Material, so kann ein Erinnerungsbild übrig bleiben, aber ein Gebäude ist nicht mehr da. Die Sprache an sich ist ein wesenloses Unding und kann immer noch, wenn es einem Spaß macht, dem Denken an sich gleichgesetzt werden.
Nun vollziehen sich Verstandesoperationen aber sehr oft ohne Mitwirkung der Sprache und sind doch Denktätigkeiten. Wenn ein Ingenieur eine Brücke von hundert Meter Spannweite zu bauen hat, so braucht er dabei allerdings gewöhnlich die Sprache, aber doch nur insofern, als Formeln und dergleichen ihm die Arbeit erleichtern. Besäße er Balken von der nötigen Länge und eine entsprechende Körperkraft, so würde er bei der Arbeit sprachlos bleiben, in anderem Sinne als die Zuschauer. Und tatsächlich vollzieht sich das eigentliche Brückenbauen so gut wie sprachlos, höchstens daß Bestellungen bei den einzelnen Fabriken ein paar technische Ausdrücke und Ziffern erfordern. Das ist Verstandesarbeit. Springt ein Mensch oder ein Hund über den Graben, so mißt er dabei sprachlos die Entfernung. Auch das ist Verstandesarbeit. Sieht der Mensch oder der Hund jenseits des Grabens eine Erdbeere oder einen Hasen, das, was ihn lockt, so hat er doch nur die Veränderung auf seiner Netzhaut gedeutet und über den Graben hinüber projiziert, was aber wieder Verstandesarbeit war. Auf diese letzte Art von Verstandesarbeit, auf das Ausdeuten der Sinneseindrücke (auch das einfachste Sehen, Hören u.s.w. ist, wie wir jetzt wissen, Verstandesarbeit, ein Ausdeuten von Reizen, die erst durch Verstand zu Empfindungen werden) läuft alle Denktätigkeit des Verstandes hinaus.
Diese Tätigkeit ist aber doch nichts anderes als eine erworbene Fähigkeit, das Individuum der Außenwirkung anzupassen, welche wir Wirklichkeit nennen. Ohne Begriffe oder Worte kommt auch da kein Mensch und kein Hund aus. Größenverhältnisse sowohl wie Gesichtsbilder sind ererbte Vorstellungen, und nur darum fehlt uns bei ihnen das Bewußtsein von Worten oder Begriffen, weil diese Verstandestätigkeiten unendlich eingeübt worden sind, seitdem es Organismen auf der Erde gibt, und weil diese Tätigkeiten dadurch automatisch geworden sind. Es gibt nur eine Vorstellung, die noch mehr eingeübt ist, die durch noch zahlreichere Experimente unser geworden ist, die oberste weltbauende Vorstellung von einer Wirklichkeitswelt da draußen. Diese Vorstellung scheint uns komischerweise unbeweisbar, weil sie unaufhörlich bewiesen wird. Wenn wir essen, vollziehen wir jedesmal den Beweis, daß Außenwelt zu Innenwelt werden kann. Die Verstandestätigkeit scheint uns begrifflos, weil es keinen Blick und keine Fingerbewegung gibt, ohne daß Raumbegriffe u.s.w. mitgeübt würden. Ist der Graben, über den der Mensch zu springen hat, eine Elle breit, also nicht breiter als der unendlich oft eingeübte menschliche Schritt, so springt der Mensch gedankenlos hinüber; sein Verstand arbeitet automatisch. Ist der Graben über die Gewohnheit hinaus breit, so denkt der Mensch vor dem Sprunge, und der Hund bellt vielleicht. Ist die Spannung gar hundert Meter breit und der Ingenieur auf diese Breite nicht gerade so eingeübt, daß er auch diesen Sprung automatisch vollzieht, so arbeitet der Verstand nicht mehr geräuschlos: der Ingenieur denkt und schreibt Ziffern. Nur die Natur hat keinen Verstand, keine Vernunft, keine Sprache. Wer die Natur zur Lehrerin nehmen könnte, wäre weise ohne Sprache.
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