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5. Tatsachen

Die Lehre vom Primat der Wiederholungen besagt, daß das wieder­holte Auftreten von einer Erscheinung uns irgend­wie zur Annahme eines allge­mei­nen Gesetzes berechtigt.”

Die alte Erkenntnistheorie, die von ARISTOTELES bis zur Scholastik unum­schränkt herrschte, beruhte auf dem Satz, daß ein Allgemeines das Bestimmende und gestalt­ge­bende Innere der Dinge sei. Wissenschaft war durch die Anerkennung der unab­hän­gig vom Subjektiven bestehen­den objek­ti­ven Realität und der Anerkennung objek­ti­ver Gesetzmäßigkeiten defi­niert. Die Dinge-ansich waren Dreh- und Angelpunkt der Erkenntnis. Die alte Logik hielt sich an das posi­tiv Gegebene, an das Wahrnehmbare und angeb­lich eindeu­tig, nämlich das mittels einer sinn­li­chen Erfahrung Beobachtbare. Die klas­si­sche, d.h. die aris­to­te­li­sche Logik, verkör­perte die Theorie des wahren, gesi­cher­ten und zurei­chend begrün­de­ten Wissens. Die Methode der Naturwissenschaft galt als eine exakte. Exakte Wissenschaften wie Mathematik, Physik und Chemie erlang­ten ihre Erkenntnisse durch Messungen und eine logisch-mathematische Beweisführung, die nach­ge­prüft werden konnte. Mathematisierbarkeit galt als Index wahrer Wissenschaftlichkeit.

Im Zusammenwirken von KEPLER, GALILEI, DESCARTES und NEWTON bildete sich die mathe­ma­ti­sche Naturwissenschaft als Erkenntnis einer Ordnung der Natur nach Gesetzen. Das Buch der Natur liegt aufge­schla­gen vor uns. Um es lesen zu können, bedür­fen wir der Mathematik, denn es ist in mathe­ma­ti­scher Sprache geschrie­ben. Das Weltsystem ist abso­lut geschlos­sen und entwi­ckelt sich nach streng mathe­ma­ti­schen Gesetzen. Das Credo der moder­nen Naturwissenschaft war: beob­ach­ten, messen, berech­nen. Ubi mate­ria, ibi geome­tria, wo Materie ist, da ist auch Mathematik. Überall entdeck­ten die Ahnherren der Wissenschaft in der Natur objek­tive Tatsachen.

Die wissen­schaft­li­che Objektivität schien so einleuch­tend, wie das Zählen von eins bis drei. Wissenschaft und Allgemeingültigkeit waren auswech­sel­bare Begriffe. Wissenschaft wurde für die Methode gehal­ten, mit der sich von subjek­ti­ven Wünschen unab­hän­gige, also unbe­stech­li­che Erkenntnis errei­chen läßt. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren für jeden Verstand als gleich anzu­se­hen. Das reine Wissen, frei von allen welt­an­schau­li­chen Prämissen, erhob den Anspruch auf objek­tive Geltung. Die idea­li­sierte Wissenschaft diente keiner Macht, keinen Interessen, keinen noch so guten Absichten, sie beant­wor­tete keine Lebens- und Sinnfragen und enthielt sich schein­bar jeder Bewertung. Wissenschaftler soll­ten nur beob­ach­ten, aber keine Normen setzen. Über den Wert und Unwert von Tatsachen zu urtei­len war nicht ihre Sache. Tatsachen galten als wert­frei. Objektiv hieß: unter Abziehung aller Wertbeziehung. Jede Form des Wertens galt als ideo­lo­gie­ver­däch­tig. Wenn Wissenschaft Wertbilder liefert, hieß es, dann hat sie ihren Auftrag verra­ten. Die objek­tive Wissenschaft hatte den Anspruch, von Tatsachen auszu­ge­hen, nicht von Prinzipien . Wer von Prinzipien anstatt von Tatsachen ausgeht, ist Ideologe.

Was wir gewöhn­lich unter Wissenschaft verste­hen, ist die gezielte Weiterentwicklung der Abstraktion als Methode. Die Abstraktion ist die Methode des ratio­na­len Denkens und diese Methode wird, wie jede Methode, immer von der jewei­li­gen Anwendungssituation als losge­löst betrach­tet. Weil wir diese Methode haben, müssen die einzel­nen Situationen nicht jedes­mal aufs Neue bewäl­tigt werden. Wenn alles Naturgeschehen derart dem Wechsel unter­läge, daß nicht zwei Ereignisse einan­der gleich sind, sondern jeder Gegenstand eigent­lich gänz­lich neu ist, hätten wir nicht die mindeste Vorstellung einer Verknüpfung zwischen den Gegenständen . Kein Mensch kann sich etwas vorstel­len, das er nicht schon in irgend­ei­ner ähnli­chen Weise kennt. Wo sich alle Dinge fort­wäh­rend verän­dern, ist es unmög­lich, etwas Bestimmtes über eine Sache auszu­sa­gen. Wer nur das Verschiedene und nichts Gleiches fest­stellt, hätte es mit einer voll­kom­men zeris­se­nen Welt zu tun, in der er sich unmög­lich zurecht­fin­den könnte. Die Wissenschaft behaup­tet daher einen Vorrang der Methode vor der Sache und begrün­det daraus ihre Sachlichkeit. Das Schema und damit der Ordnungszweck tritt an die Stelle der leben­di­gen Wechselwirkung.

Die eigent­li­che Technik des ange­wand­ten Wissens ist die Methode der Trennung und Segmentierung. In der Wissenschaft werden die Abstraktionen immer nach dem glei­chen Schema zu ganzen Theorien ausge­bil­det: durch das Herausgreifen einer singu­lä­ren Beziehung und die Fernhaltung aller übri­gen, in denen der Gegenstand faktisch steht. Isoliert betrach­tet ist so mancher Gegenstand unver­än­der­lich und damit zähl­bar. Erst wo wir die Wirklichkeit in Abschnitte von Zeit und Raum teilen, erhal­ten wir quan­ti­ta­tive Einheiten, die sich logisch verar­bei­ten lassen. Die gedank­li­che Isolation ist aber ein künst­li­cher und will­kür­li­cher Vorgang. Wir beob­ach­ten nur eine von uns gestellte Situation, nicht die Wirklichkeit. Eine Amöbe heraus­pi­pet­tiert auf einem Objektträger ist immer etwas ande­res, als eine Amöbe in ihrem natür­li­chen Lebensraum. Das eigent­li­che Leben ist dem Denken immer voraus und kann auch niemals von ihm einge­holt werden. Alles Lebendige wandelt sich, nur die leblose und abstrakte Allgemeinheit hat Bestand. Was wir als Leben bezeich­nen, läßt sich nicht auftei­len, es ist im Ganzen, nicht in den Teilen.

Die komple­xen und orga­ni­schen Ganzheiten der Wirklichkeit und des Lebens finden immer zu wenig Berücksichtigung. Im Gebiet der kleins­ten Organismen gibt es keine scharfe Grenze zwischen leben­di­ger und toter Materie. Eine Grenzfrage der Lebensbestimmung zeigt sich z.B. in der Frage, ob Viren als lebende Wesen nieders­ter Stufe, oder als chemi­sche Stoffe von beson­de­rer Komplexität zu betrach­ten sind. Alle diese Grenzbegriffe sind künst­lich und entspre­chen unse­rer mensch­li­chen Zwecksetzung. Sie gehö­ren zu einem abstrak­ten Gradnetz, das wir über die Natur gewor­fen haben, um in einer Fülle von Erscheinungen nicht die Übersicht zu verlie­ren. Der Lebensprozess selbst aber ist der konti­nu­ier­li­che Übergang von einem Zustand in den ande­ren. Leben ist über­all als Zusammenhang und stän­di­ger Wandlungsprozess da. Leben heißt: sinn­lich und geis­tig beein­druckt sein, heißt erleben.

Alles Seiende auf chemi­sche oder physi­ka­li­sche Formeln brin­gen zu wollen ist immer ziem­lich aussichts­los. Das Lebendige mag sein was es will, es ist aber auf keinen Fall linear. Es gibt kein Berwertungskriterium oder Maßsystem, mit dem das Unmeßbare im wirk­li­chen Leben kommen­su­ra­bel gemacht werden könnte. Wir beschrei­ben nur unse­ren Zwecken entspre­chend, erklä­ren aber nichts. Wo schein­bar die größte Ordnung herrscht, sind Verwirrung und Unklarheit schon vorpro­gram­miert. Die Logik eignet sich nicht zur Beschreibung biolo­gi­scher Muster. Eine Belastung mit Qualitäten erschwert immer die metho­di­sche Aufgabe. Statische Gesetze sind etwas grund­le­gend ande­res, als dynamisch-lebende Strukturen. “UnauflöslicheUnauflösliche Widersprüche entste­hen (erst), wenn man die Tatsache des Flußes im Leben erklä­ren will.” 1) Wie Leben entsteht, hat noch niemand kausal erklä­ren können. Wie das Ei den Organismus formt, bleibt eine offene Frage. Was immer wir messen ist nicht die lebende Wirklichkeit, sondern ein Mechanismus, der auf seine tech­ni­schen Funktionsmöglichkeiten hin geprüft wird. Der Organismus wird zur Maschine, die nach abstrak­ten Prinzipien hin beur­teilt wird.

Die ratio­nale Vorgehensweise entklei­det die Natur jedoch ihrer Lebendigkeit und vita­len Wirksamkeit. Der problem­freie Zustand toter Materie ist bezeich­nend für das lebens­feind­li­che Wesen der Objektivität. Je leblo­ser, desto mehr ist alles unter Kontrolle. “Wo Leben erstarrt, türmt sich das Gesetz.” 2) Vor abge­trenn­ten, toten Dingen brau­chen wir weni­ger Ehrfurcht zu haben, als vor leben­di­gen Prozessen. Was einmal Leben war, wird ein Haufen toter Worthülsen, grund­le­gende Fragen aber blei­ben weiter unbe­ant­wor­tet. Menschliche Lebensäußerungen können mit quan­ti­ta­ti­ven Methoden nur kläg­lich erör­tert werden. Leben erschließt sich niemals einer rein wissen­schaft­li­chen Betrachtung.
“Dahin schwin­den Sicht, Klang, Geschmack, Berührung und Geruch, und mit ihnen sind seit­her dahin Ästethik und mora­li­sche Empfindsamkeit, Werte, Qualität; dahin sind auch Gefühle, Motive, Seele, Absichten, Bewußtsein, Geist. Die Erfahrung an sich (?) ist aus dem Reich wissen­schaft­li­cher Forschung ausge­sto­ßen worden.” 3)
Menschliche Motive lassen sich nicht addie­ren oder subtra­hie­ren, weil sie schon durch ihr Zusammenwirken anders werden, als sie für sich genom­men sind. Ein konkre­ter Mensch ist ein Qualitativum und läßt sich nur unter großen Schwierigkeiten voraus­pla­nen. Die Motive einer Person und ihre Zielsetzungen sind keiner Berechnung zugäng­lich. Entscheidende Handlungen eines Menschen lassen sich nicht nach Naturgesetzen erklä­ren. Existenz ist ein Bereich, der sich kausal nicht erschöp­fend erklä­ren, sondern nur unter Zuhilfenahme von Zweckbegriffen verste­hen läßt. Ein leben­des System hängt nach vielen Richtungen zusam­men und ist nicht linear fest­ge­legt. Die Natur ist kein Mechanismus, der sich aus isolier­ba­ren Teilen zusam­men­setzt. Abstraktionen blei­ben Abstraktionen, sie exis­tie­ren nicht von selbst.

Alle Gesetzmäßigkeit geht auf mensch­li­che Vorstellungen von quan­ti­ta­ti­ven, bzw. abstrak­ti­ven Einheiten zurück. Naturgesetze können erst dann aufge­stellt werden, wenn die Lücke im Gegebenen durch Nichtgegebenes gefüllt wird. Sämtliche, auch die genau­es­ten Beobachtungen sind mit Fehlern behaf­tet, die uns die Prüfung, ob Naturgesetze exakt stim­men, eigent­lich unmög­lich machen. Alle gefun­de­nen Gesetze sind immer auf einen ganz bestimm­ten Bereich beschränkt. Die Naturgesetze sind deshalb bloß logi­sche Gesetze. Das Natürliche ist so beschaf­fen, daß kein Gesetz jemals abso­lut allge­mein­gül­tig sein kann. Die Naturgesetze zeugen besten­falls von der psycho­phy­si­schen Beschaffenheit unse­res Erkenntnisapparates, aber nicht von einer natür­li­chen Ordnung. Der Naturvorgang ist einfach das, was er ist, nichts weiter. Die tatsäch­li­che Wirklichkeit ist jedes­mal eine andere. Naturgesetze sind nur ange­nom­mene konstante Beziehungen, sind ökono­mi­sche Zusammenfassungen von Erfahrungen. Vertraut ist uns nicht Wirklichkeit, sondern ihr gewohn­ter Anblick. Unser Denken verhär­tet sich, während die Wirklichkeit beweg­lich ist. Naturgesetze sind ideale Grenzfälle, denen sich die Sachverhalte besten­falls annä­hern, ohne sie aber jemals zu errei­chen. “Was wir beob­ach­ten ist nicht die Natur selbst, sondern Natur, die unse­rer Art Fragestellung ausge­setzt ist.” 4)

Was mit der Abstraktion erreicht werden soll, ist Allgemeinheit. In jeder Wissenschaft ist die Forderung nach Allgemeingültigkeit enthal­ten. Der Weg der Wissenschaft führt immer von der weni­ger allge­mei­nen Theorie zur allge­mei­ne­ren Theorie. “Wissenschaftliche Theorien sind allge­meine Sätze.” 5) Im soge­nann­ten Induktionsschluß wird vom Besonderen auf ein allge­mei­nes Gesetz geschlos­sen. Das Induktionsproblem besteht in der Frage nach der logi­schen Rechtfertigung allge­mei­ner Sätze. Auf das Induktionsproblem und das Abgrenzungsproblem gehen fast alle Probleme der Erkenntnistheorie zurück.

Wenn wir von allge­mei­ner Gültigkeit spre­chen, so meinen wir damit die belie­bige Wiederholbarkeit eines Vorgangs. Die Lehre vom Primat der Wiederholungen besagt, daß das wieder­holte Auftreten von einer Erscheinung uns irgend­wie zur Annahme eines allge­mei­nen Gesetzes berech­tigt. Alle Wiederholungen sind aber nur annä­hernde Wiederholungen. Die Wiederholung B des Vorgangs A ist nicht mit A iden­tisch, d.h. von A unun­ter­scheid­bar, sondern nur Vorgang A mehr oder weni­ger ähnlich.
“Allgemein gespro­chen setzt Ähnlichkeit — und somit auch Wiederholung — stets die Einnahme eines Standpunktes voraus: manche Ähnlichkeiten oder Wiederholungen werden uns auffal­len, wenn wir uns für ein bestimm­tes Problem inter­es­sie­ren. … Man kann hinzu­fü­gen, daß sich für jede gege­bene endli­che Gruppe oder Menge von Dingen, mag sie auch noch so regel­los zusam­men­ge­stellt sein, bei eini­ger Geschicklichkeit Standpunkte finden lassen, von denen aus alle zu der Menge gehö­ren­den Dinge ähnlich oder teil­weise gleich sind. Das bedeu­tet, daß jedes belie­bige Ding oder Ereignis als Wiederholung jedes belie­bi­gen ande­ren ange­se­hen werden kann, wenn man nur den geeig­ne­ten Standpunkt einnimmt.” 6)
Für logi­sche Verallgemeinerungen gibt es keine zwin­gende Rechtfertigung. Eine verall­ge­mei­nernde Beweisführung ist unzu­läs­sig. Es ist ein Irrtum zu glau­ben, in den empi­ri­schen Wissenschaften könnte eine, über die Wahrscheinlichkeit hinaus­rei­chende Wahrheit erzielt werden. Die Gesetze der Physik und Chemie sind durch­weg statis­ti­scher Natur. Allgemeine Sätze sind auf jeder Abstraktionsstufe hypo­the­tisch. Abstraktionen sind Verallgemeinerungen und Verallgemeinerungen sind nur wahr­schein­lich. “Je weiter die Verallgemeinerung vorwärts schrei­tet, desto stär­ker ist das Moment des Hypothetischen in ihr.” 7) Eine abso­lute Wahrheit wäre nur als Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung sinn­voll. Wer die Wahrheit erken­nen will, müßte die Wahrheit sein. Wahrscheinlichkeit dage­gen grün­det sich auf Häufigkeit, Mehrheit und Quantität. In der Statistik herrscht das Gesetz der großen Zahl. Die schein­bare Willkür der Einzelfälle gleicht sich auf einmal in einer wunder­ba­ren Harmonie aus. Die Stabilität statis­ti­scher Häufigkeiten scheint fast sicher. Jede Gesetzmäßigkeit ist aber ledig­lich eine ideale Forderung.
“Keine Gesetzmäßigkeit ist nur eine beson­dere Form der Allgemeinheit: Allgemeinheit einer Beziehung, gegen­über der Allgemeinheit eines Merkmals. Der Gedanke der Gesetzmäßigkeit wurzelt ganz in der Eigenart des Denkens, Allgemeinheit zu sehen und zu suchen. Der Gesichtspunkt des alle ist über­haupt nur dem Denken eigen; und in ihm hat der Gedanke des Gesetzes als einen glei­chen Verhältnisses in allen Fällen allein seinen Grund. Gesetzmäßigkeit ist im Grund nichts ande­res, als das Denken selber, als die spezi­fi­sche Art und Weise, in der das Denken sich geltend macht. Gesetzmäßigkeit heißt, daß ein Verhältnis in einer bestimm­ten Art von Fällen iden­tisch ist. Die Statuierung eines solchen multi­po­niblen Verhältnisses enthält aber genau dasselbe wie das Phänomen eines allge­mei­nen Begriffs über­haupt.” 8)
Gesetze sind wenn-dann-Beziehungen, aber keine weil-Beziehungen. Statt des Wortes Gesetz kann auch Formel gesagt werden. Naturgesetzlichkeit ist nichts ande­res, als die Anwendung mensch­li­cher Kategorien auf die Natur. Indem wir die Erscheinungen nach abstrak­ten Kategorien auffas­sen, kommen wir aber zu einem ganz einsei­tig verzerr­ten Bild der Welt. Aus der Natur läßt sich für uns Menschen nichts ablei­ten. Was die Naturerkenntnis ausmacht (in der Form der Kausalität, bzw. der Substanz etc.), ist nur eine Verknüpfung von Vorstellungen — bloß eine Herstellung von logi­schen Zusammenhängen zwischen den Sinnesdaten. Dieser Zusammenhang besteht aber nur in Gedanken und nur als Begriff. Alle soge­nann­ten Tatsachen bezie­hen sich mehr auf den Sprachgebrauch als auf die Realität. Substanz ist weni­ger Realität, als die Bezeichnung für ein von uns geschaf­fe­nes Gesetz. Alle Begriffe sind im Prinzip Aufgaben und Probleme. “Unser Problem ist kein kausa­les, sondern ein begriff­li­ches.” 9) Unsere abstra­hier­ten Erlebnisse machen keines­wegs die physi­ka­li­sche Welt aus, sondern geben uns nur Kunde von einer ande­ren Welt, die dahin­ter­liegt.
“Die Erkenntnis erschafft erst den Gegenstand, in ihr entsteht er erst, als eine Begriffsbildung zur Logisierung des sinn­lich Gegebenen. … Wissenschaft vermit­telt uns über­haupt nicht irgend­eine Realtität, sondern sie ist eine völlige Neuschöpfung — so wie die Kunst eine solche in einer ande­ren Art ist. Ihr Inhalt ist eine Gestaltung aus der erleb­ten Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt einer spezi­el­len Bewertung. Die Realität läßt sich nicht durch Erkenntnis erset­zen, ganz in die Erkenntnis hinein­neh­men und Erkenntnis läßt sich nicht rest­los in Wirklichkeit auflö­sen. Erkenntnis und Realität sind immer zwei­er­lei.” 10)
Der logi­sche Charakter des Wissens und die sinn­li­che Erfahrung der Physis schlie­ßen sich grund­sätz­lich aus. Organische Lebendigkeit und alle physio­lo­gi­schen Begriffe haften immer an einem konkre­ten Subjekt. Die Gegenstände der objek­ti­ven Erkenntnis haben aber nur ein gedank­li­ches, von seinem exis­ten­ti­el­len Zusammenhang getrenn­tes Dasein.

Homogenität und Linearität sind die Formeln der exak­ten Wissenschaften. In der linea­ren, ratio­na­len Welt Welt kommt nichts vor, was nicht gerade, eben und gleich­för­mig ist. Im Grunde wird dabei nichts echt erkannt, sondern wir fassen eigent­lich immer nur die Summe fort­schrei­ten­der Veränderungen unter einem Zweckbegriff zusam­men. Wir messen nie das wirk­li­che Geschehen, sondern immer nur die abstrakte Schlacke, die wir gedank­lich erfas­sen können.
“Zur Markierung und Artikulierung des in bestän­di­gem Fluß befind­li­chen und in unun­ter­bro­che­nem raum­zeit­li­che Konnex stehen­den Wirklichen, zur exak­ten Gliederung des Realen, zur Vermeidung vager Angaben, tref­fen wir unter den Elementen der Wirklichkeit eine will­kür­li­che Auswahl, und ziehen Striche und Grenzen, wo keine sind.” 11)
In der Natur selbst gibt es weder Messen noch Zählen. “Natur ist maßlos.” 12) Die Natur passt sich unse­rem binä­ren Denken nicht an. In der Natur ist alles einzig und unver­gleich­bar. Deshalb ist es unse­rem Verstand niemals möglich, die Wirklichkeit voll aufzufassen.

Organische Prozesse können nie exakt bere­chen­bar gemacht werden. Wir können ledig­lich das Allgemeine vorher­sa­gen, nie das Individuelle. “Punktgenaues Hier-und-Jetzt ist nur mathe­ma­ti­sche Idealisierung.” 13) Wir messen nicht die Wirklichkeit, sondern bestim­men das Wirkliche nach defi­nier­ten Maßen. Die Abstraktion ist das Maß. Messung und Begriff erhal­ten ihren Sinn aber erst durch eine Deutung. Naturgesetze sind deshalb aus Beobachtungssätzen logisch nicht ableit­bar, sondern immer ein Produkt unse­res Verstandes. Wir haben Naturgesetze sozu­sa­gen als bequeme Zusammenfassung von mensch­li­chen Betrachtungen über die phäno­me­nale Welt erson­nen. Ein Gesetz ist nie etwas, das direkt wahr­ge­nom­men werden kann. Gesetze sind begriff­li­che Gebilde. Die vermeint­lich wahr­ge­nom­mene Regelmäßigkeit eines Geschehens ist Ergebnis einer defi­nier­ten Gleichheit. “So erkläre ich also, … was Regel heißt durch Regelmäßigkeit … Die Verwendung des Wortes Regel ist mit der Verwendung des Wortes gleich verwo­ben.” 14) Gleichheit erhal­ten wir durch den Vorgang des Abstrahierens. Die Abstraktion ist deshalb der Inbegriff der Theoriebildung.

Gesetze sind immer außer­halb der Realität. Gesetze sind Erfindung. Mit Gesetzen wird nichts erklärt. Gesetze sind nur Formeln, die unse­rer Fassungskraft zu Hilfe kommen. Es handelt sich beim Schließen bloß um eine Veränderung der Form unse­res Wissens. Logische Beziehungen besa­gen nur etwas über den Denkzusammenhang, aber nichts über die Wirklichkeit. Vergleichung und Verallgemeinerung entspre­chen mensch­li­cher Systemsucht und sind nichts, was den Dingen selber anhaf­tet. Die Logik ist nur die Lehre vom Denken in Begriffen, nicht vom Erkennen durch Begriffe. Die Welt exis­tiert ledig­lich in unse­rer Vorstellung, aber weil wir es von Kindesbeinen nicht anders wissen, verken­nen wir den Vorstellungscharakter unse­res Wissens. “Die Idee sitzt gleich­sam als Brille auf unse­rer Nase. Wir kommen gar nicht auf die Idee sie abzu­neh­men.” 15)

LITERATUR — Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit — Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994

Anmerkungen:
1) WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschicht­li­chen Welt in den Geisteswissenschaften, Ffm 1981, Seite 192
2) FRIEDRICH NIETZSCHE, ohne Quelle
3) RONALD LAING in Fritjof Capra, Wendezeit, München 1988, Seite 53
4) WERNER HEISENBERG, Physik und Philosophie, 1973, Seite 40
5) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 31
6) KARL R. POPPER, Logik der Forschung, Tübingen 1989, Seite 375f
7) WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschicht­li­chen Welt in den Geisteswissenschaften, Ffm 1981, Seite 342
8) VIKTOR KRAFT, Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, Leipzig 1912, Seite 103
9) LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, Ffm 1977, Seite 325
10) VIKTOR KRAFT, Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, Leipzig 1912, Seite 156f
11) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Berlin 1911, Seite 470
12) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II, Frankfurt/Berlin/Wien 1980 II, Seite 82
13) RAYMOND RUYER, Jenseits der Erkenntnis, Wien/Hamburg 1977, Seite 71
14) LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, Ffm 1977, Seite 130f
15) LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, Ffm 1977, Seite 76

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