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2. Bewusstsein

Bewußtsein

Die Regeln des Universums, die wir zu kennen glau­ben, sind tief in unse­ren Wahrnehmungsprozessen begra­ben.”
- GREGORY BATESON

Allen empi­ris­ti­schen Richtungen ist die ausschließ­li­che Anerkennung der sinn­li­chen Erfahrung als Quelle der Erkenntnis des Wirklichen gemein­sam. Die Empfindung scheint zwin­gend real. Wer realis­tisch denkt, setzt Erkenntnis mit Wahrnehmung gleich. Daß die Dinge so sind, wie wir sie wahr­neh­men, ist jedoch naiver Realismus. Die Überzeugung von der objek­ti­ven Qualität der Sinnesempfindung ist falsch, der Glaube an die Untäuschbarkeit der inne­ren Wahrnehmung eine Illusion. Das Seiende ist keine objek­tive, also vom erken­nen­den Bewußtsein unab­hän­gige Realität. Unser Gehirn macht die Bilder, die wir wahr­zu­neh­men glau­ben. Der gewöhn­li­che Alltagsverstand dage­gen hält uner­schüt­ter­lich an der Überzeugung fest, daß alles, was unser Erkenntnisapparat meldet, wirk­li­chen Gegebenheiten einer außer­sub­jek­ti­ven Welt entspricht.

Unsere sinn­li­che Wahrnehmung ist zwar die Basis unse­res Wissens, aber im Großen und Ganzen nur sehr schlecht auf objek­tive Erkenntnis ausge­rich­tet. Vieles von dem, was wir durch unsere Sinne erfah­ren, ist nur ein unkri­ti­sches Vorurteil. Unsere Alltagssinne spie­geln uns viel­mehr eine Realität vor, die es so gar nicht gibt. Der Mikrokosmos oder das Weltall ist unse­rer norma­len Sinnesempfindung viel zu mangel­haft zugäng­lich, um über die Realität zutref­fende Aussagen machen zu können. Eine gezeich­nete Linie ist nur für unser Auge gerade. Unter dem Mikroskop gibt es keine abso­lut gerade Linie und es ist nur eine Frage der Vergrößerung, bis das Beobachtete zu leben beginnt. Es kommt immer auf den Standpunkt und die Perspektive an, welche Wirklichkeit wir sehen. Makroskopisch betrach­tet mögen die mate­ri­el­len Objekte um uns herum passiv und unbe­weg­lich erschei­nen, auf der atoma­ren Ebene jedoch trifft das nicht mehr zu.

Wir müssen das Problem der Weltbeschaffenheit daher haupt­säch­lich im Hinblick auf unse­ren wahr­neh­men­den Erkenntnisapparat betrach­ten: Es gibt nur ein paar Wege, mit denen wir mit der Außenwelt in Verbindung stehen, nämlich unsere fünf Sinne. Ohne Augen, Ohren und Nasen gibt es für uns auch keine Farben, Klänge und Gerüche. Empfindungen nennen wir die Prozesse, welche uns durch unsere Sinne zu Bewußtsein kommen. Es gibt kein Bewußtsein ohne Empfindungen und umge­kehrt gibt es keine Empfindung ohne Bewußtsein. Nur was uns bewußt ist, ist für uns konkret exis­tent. Wirklichkeit exis­tiert und entsteht auf der Basis unse­res Bewußtseins. Bewußt werden uns die Dinge aber immer nur, inso­fern sie unsere Sinnesorgane auffas­sen können. Der Zustand eines jeden Dings muß erst einen gewis­sen Grad der Größe erreicht haben, um von unse­ren Sinnen regis­triert werden zu können. Eine Wirkung der Außenwelt auf unsere Sinne exis­tiert nicht, solange das Bewußtsein nicht durch das Überschreiten eine Reizschwelle geweckt worden ist.

Für jedes subjek­tive Sinnesorgan, wie auch für jedes objek­tive Meßgerät, exis­tiert eine untere Grenze der Ansprechbarkeit, unter­halb derer nichts mehr regis­triert wird, so daß wir stän­dig Instrumente wie Mikroskope, Teleskope, Tachometer, Stethoskope oder Seismographen benüt­zen müssen, um die Vorgänge entde­cken und aufzeich­nen zu könne, die unsere Sinne nicht unmit­tel­bar wahr­neh­men. Es ist deshalb absurd zu glau­ben, wir könn­ten jemals etwas wahr­neh­men, wie es wirk­lich ist. Keinem wahr­nehm­ba­ren Ding liegt objek­tive Wirklichkeit zugrunde. Alles Objekt ist Erscheinung im Bewußtsein und damit Phänomen. Auch wenn es die objek­tive Realität gäbe, könn­ten wir sie nicht erken­nen. In einer objek­ti­ven Welt dürf­ten der beson­dere Zeitraum und der konkrete Ort, in und an welchem sich ein Geschehen abspielt, keine beson­dere Bedeutung haben, aber gerade das macht ein Ereignis irreal. Eine objek­tive Welt bleibt immer ein reines Gedankenprodukt.

Die Welt bietet uns eine endlose Zahl von mögli­chen Reizen. Von den vielen Einflüßen, die wir unbe­wußt aufneh­men, tren­nen wir daher dieje­ni­gen ab, die wir bewußt und willent­lich zum Gegenstand unse­rer Aufmerksamkeit machen. Bewußtsein heißt Eingrenzung, Formung und konzen­trierte Bündelung der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand. Unsere Sinnesorgane sind dabei die Auswahlsysteme für Informationen. Aufmerksamkeit ist haupt­säch­lich eine Unterscheidungsvorgang, ein Akt des Aussonderns. Nur im Bewußtsein der Begrenztheit und Endlichkeit der Dinge sind wir bewußt und die Welt für uns wirk­lich. Information ist wahr­nehm­ba­rer Unterschied und jede geis­tige Tätigkeit wird durch Unterschiede ausge­löst, die uns aufgrund unse­res Zeit- und Raumempfindens als solche auffallen.

Solange wir bei Bewußtsein sind, ist immer irgend­ein subjek­ti­ves Zeit- und Raumempfinden vorhan­den. Die Maßeinheiten unse­res Zeitempfindens sind aber indi­vi­du­ell verschie­den. Je nach Stand des Erlebens erscheint uns die Zeit bald lang­sa­mer, bald schnel­ler. Deshalb brau­chen wir mit unse­rer hohen Sensibilität für schnelle Veränderungen für lang­same Veränderungen eine Uhr. Sehr lang­same Veränderungen sind meist kaum wahr­nehm­bar. Wir stehen deshalb immer vor der Schwierigkeit zwischen einer lang­sa­men Veränderung und einem Zustand unter­schei­den zu müssen. Wir besit­zen z.B. die selt­same Fähigkeit die Konstanten unse­rer Sinneswelt auszu­blen­den, wie etwa das Ticken einer Wohnzimmeruhr. Was wir als Veränderung empfin­den, setzt etwas Beharrliches in der Anschauung voraus, um über­haupt als Veränderung wahr­ge­nom­men werden zu können.

Unser ganzes Bewußtsein beruth auf Unterscheidungen. Wo Bewußtsein ist, da ist verglei­chen­des Bewußtsein. “Bewußtsein ist waches Bewußtsein, und waches Bewußtsein ist poten­ti­ell zählen­des Bewußtsein.”(1) Wir können unsere Wirklichkeit einzig an ihren Unterschieden und Veränderungen erken­nen und diese Unterschiede müssen zeit­lich oder räum­lich erkannt werden. Raum und Zeit sind Einheiten, mit denen Unterschiede gemes­sen werden. Ein Unterschied wir immer zwischen zwei Dingen fest­ge­stellt und ist nichts ansich Seiendes. Wir ziehen (draw) Unterscheidungen. Teile, Ganzheiten, Bäume und Geräusche als solche exis­tie­ren nur in Anführungszeichen. Wir sind es, die Baum von Luft und Erde unter­schei­den. Ganzes von Teil usw.(2) Die Unterscheidungen, die nicht gezo­gen werden, exis­tie­ren nicht. Durch Unterscheidungen wird uns die Welt bewußt. Gäbe es keine Unterscheidungen, gäbe es auch kein Bewußtsein.

Was ins Bewußtsein gelangt, wird selek­tiert und ist eine syste­ma­ti­sche Auswahl von Informationen. Unser Erkenntnisapparat schnei­det aus der unend­li­chen Zeit und dem unend­li­chen Raum einen Gegenstand der Aufmerksamkeit heraus und unter­schei­det ihn von allen ande­ren mögli­chen Gegenständen, hebt ihn quasi heraus. Wir tren­nen, mehr oder weni­ger bewußt, das für uns inter­es­sante Geschehen vom unin­ter­es­san­ten. Aus einem unend­li­chen zusam­men­hän­gen­den Geschehen unter­schei­den wir konkrete Gegenstände an einem bestimm­ten Ort zu einer bestimm­ten Zeit. Hätte unser Sinnesapparat kein Zeitempfinden, könn­ten wir nichts fest­stel­len, da alles flie­ßend wäre und keine Konturen hätte. Alles wäre nur verschwom­men erkenn­bar. Erst durch die zeit­li­che Eingrenzung werden Form und Einheit und damit die Gegenständlichkeit geschaf­fen, die eine sinn­volle Bezeichnung ermög­li­chen.
“Aus der Vielfalt an Dingen, von deren Existenz wir wissen, müssen wir eine Auswahl tref­fen, und was wir auswäh­len und Bewußtsein nennen, ist nie dasselbe, wie die Dinge selbst, denn durch das Auswählen werden sie verän­dert. Wir nehmen eine Handvoll Sand aus der endlos weiten Landschaft, die uns umgibt, und nennen diese Handvoll Sand Welt.”(3)
Wir simpli­fi­zie­ren die Vielfalt unse­rer leben­di­gen Eindrücke in einem System von Kategorien. Der konti­nu­ier­lich Fluß unse­res Erlebens wird per Abstraktion sche­ma­ti­siert. Wir defi­nie­ren ein Geschehen indem wir Grenzen aus Zeit und Raum setzen. Unter einem Begriff ist dann ein ganz konkre­tes Geschehen gemeint. Mit Abstraktionen halten wir die Wirklichkeit fest, um sie zu konstru­ie­ren. Wir suchen aus prak­ti­schen Gründen für den Ausdruck unse­rer Empfindungen und Gefühle nach einer gegen­ständ­li­chen, d.h. wört­li­chen Entsprechung.

In der Sprache wird die über­wäl­ti­gende Empfindungsvielfalt des seeli­schen Erlebens gebun­den. Wir dürfen unsere Worte aber nicht mit der erleb­ten Wirklichkeit verwech­seln. Worte sind nur Analogien. Die Beziehung von Zeit, Raum und Person ist das gram­ma­ti­sche Gesetz der Sprache, aber kein Naturgesetz.
“Alle Zergliederungen der Sensation sind Abstraktionen: man muß einen Faden der Empfindung liegen lassen, indem man den ande­ren verfolgt — in der Natur aber sind alle die Fäden ein Gewebe.”(4)
Unser bewuß­tes Sein ist immer auf einen ziem­lich klei­nen Ausschnitt unse­rer geis­ti­gen Prozesse begrenzt. Es können in einem gege­be­nen Augenblick immer nur einige wenige Inhalte gleich­zei­tig fest­ge­hal­ten werden und niemals eine objek­tive Realität.

Wir sind immer mehr oder weni­ger bewußt. Völlige und durch­gän­gige Aufmerksamkeit für alle mögli­chen Dinge wurde eine derart hohe Konzentration erfor­dern, so daß sie ein Mensch nur bedingt und beschränkt leis­ten könnte. Unser Bewußtsein ist zu allen Zeiten begrenzt und konzen­triert sich auf dieses oder jenes und wech­selt von einem Augenblick zum ande­ren. Unsere Aufmerksamkeit ist immer psycho­lo­gisch bedingt und nicht logisch erklärbar.

Bewußtsein ist keine Frage eines eindeu­ti­gen entwe­der — oder, sondern enthält zahl­rei­che Abstufungen. Was Gegenstand der Empfindung ist hat einen Grad, der sich nach unse­ren ganz spezi­fi­schen Wahrnehmungsbedingungen bemißt. Bestimmte Frequenzen können wir einfach nicht hören, was aber für eine Fledermaus nicht gelten muß. Auch ein Hund, mit seinem feinen Riechorgan, hat eine andere Geruchswelt, als eine Schlange. Das Blatt, auf dem die Raupe lebt, ist für sie eine eigene Welt, ein unend­li­cher Raum. Hätten wir keinen ande­ren Sinn, als das Gehör, dann bestände unsere gesamte Erfahrung aus Tönen. Mit einem einge­bau­ten Zeitraffer könn­ten wir das Gras wach­sen sehen. Was wir sehen hängt daher davon ab, wie wir sehen. Für die Honigbiene ist Farbkonstanz wich­tig, für eine Katze, die in der Dämmerung jagt, ist die Farbe völlig irrele­vant; die Eule muß das Rascheln einer Maus genau loka­li­sie­ren können und so sind auch die Sinne der Menschen in der Verbindung zu prak­ti­schen Zwecken zu sehen.

Wahrnehmbarkeit ist ein rela­ti­ver Begriff. Wir können gar nicht anders sehen, als unser Auge es zuläßt. Das grüne Blatt ist nur darum grün, weil es für unser mensch­li­ches Auge grün ist. Verschiedene Wellenlängen erzeu­gen verschie­dene Farbempfindungen, aber es gibt auch Bereiche, für die unser Auge einfach nicht empfind­lich ist. Farben sind also opti­sche Deutungen.

Das Wahrnehmungsdatum ist immer Ausdruck einer Beziehung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Gegenstand der Wahrnehmung. Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur rela­tiv, hat nur einen Sinn in Bezug auf diese oder jene Bewegungsform. Alle Relationen, wie etwa die von Zeit und Raum oder von Tun und Leiden, sind defi­ni­ti­ons­ge­mäß nicht abso­lut, exis­tie­ren also nicht ansich. Die Befriedigungen, die wir uns durch Essen und Trinken verschaf­fen, sind abhän­gig vom Hunger und vom Durst, den wir haben.
“Der Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objek­ti­ven Bestimmungen des Weines, sondern zu der beson­de­ren Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekte, das ihn genießt.”(5)
Schmerzen können nicht objek­tiv fest­ge­stellt werden. Schmerz und Freude sind genau­so­groß, wie sie gefühlt werden. Wir empfin­den die Verringerung von Schmerzen als Freude und die Verkleinerung einer Freude als Schmerz. Wenn ich einen schwe­ren Gegenstand trage, dann fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht der Gegenstand selbst ist schwer, sondern er ist es nur im Verhältnis zu meiner Kraft.

Unmittelbare Erlebnisse und Empfindungen sind indi­vi­du­elle Qualitäten und gehö­ren verschie­de­nen logi­schen Typen an, d.h. wir können nicht sehen, was wir hören. Und was wir riechen, können wir nicht fühlen. Die verschie­de­nen Sinne sind nicht mitein­an­der kommen­su­ra­bel. Es gibt keine Brücke zwischen dem Empfinden für Farben und dem Empfinden für Töne. Ein dunk­les Rot und ein schril­les Geräusch haben nichts gemein­sa­mes. Sie können nicht zusam­men­ge­zählt werden, sie haben kein gemein­sa­mes Maß. “Jeder Sinn hat seine Welt.”(6) Kein Ding hat objek­tive Eigenschaften, deshalb kann es kein Ding-ansich’ geben. Ein Objekt ansich, unab­hän­gig vom Subjekt ist etwas völlig Undenkbares. Subjekt und Objekt sind Korrelatbegriffe wie links und rechts. “Weder dem Subjekt noch dem Objekt kommt selb­stän­dige Existenz zu; jede Existenz beruth auf Wechselwirkung und ist relativ.”(7)

Alle sinn­li­chen Qualitäten, die uns als solche erschei­nen, gehö­ren nicht den Dingen an, sondern entste­hen in uns selbst. Es hängt immer von unse­ren Empfindungen ab, wie uns die Dinge erschei­nen. Unter der Folter können fünf Minuten wie eine Ewigkeit erschei­nen, Stunden des Glücks kommen uns dage­gen wie Minuten vor. Es ist kein Ding warm oder kalt, wenn es nicht jemand mit seinen Sinnen so empfin­det. Sinnesdaten als solche sind weder rich­tig noch falsch, sondern ein Produkt unse­rer Interpretation. Eigenschaften haben die Dinge nur in der Relation zu uns. Alle sinn­li­chen Qualitäten bedür­fen eines Trägers. Die Qualitäten der Dinge sind immer bloß Zustände des Subjekts. “Das Opium enthält keine einschlä­fernde Kraft und der Mensch enthält keinen Aggressionstrieb.”(8)

Wir dürfen also aus den Empfindungen der Sinne nicht ohne weite­res auf einen Gegenstand schlie­ßen. Was wir die Außenwelt nennen, ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines komple­xen psycho­lo­gi­schen Prozesses. Die bloße Wahrnehmung ist kein Beweis für Realität, was der gekrümmte Stock im Wasser oder gewisse Experimente unter Hypnose und andere Täuschungsexperimente bestä­ti­gen. Wir glau­ben die Dinge unmit­tel­bar da wahr­zu­neh­men, wo sie sind, während sich der Vorgang eigent­lich im Gehirn abspielt. Wir meinen auch den Schmerz im Fuß zu empfin­den, aber es handelt sich um ein Geschehen in unse­rem Gehirn. Daß die Empfindung im Großhirn statt­fin­det und nicht, wie wir glau­ben z.B. an einem Finger, zeigt die prin­zi­pi­elle Eigenart des Psychischen im Verhältnis zur Physis. Die Sinne sind ledig­lich Ausläufer des Gehirns und geben uns nur die Wirkungen der Dinge und sind keine Ursachen. Unser Gehirn ist aber weit davon entfernt ein fehler­freier Spiegel der Wirklichkeit zu sein. Nicht im Sinnesdatum als solchem liegen Irrtum und Wahrheit, sondern in seiner Beziehung zu unse­rem Gehirn. Täuschungen entste­hen nicht durch unsere Sinne, sondern durch den Verstand. Wir nehmen die Dinge nicht einfach wahr, sondern benüt­zen auch unbe­wußt unse­ren Denkapparat, um sie zu interpretieren.

Die peri­phere Retina empfängt auch eine Menge Informationen, die nicht ins Bewußtsein gelan­gen. Es ist daher unmög­lich, von dem, was im einfa­chen Akt des Sehens vor sich geht, eine annehm­bare Beschreibung zu geben. Die Sprache hat keine Ausdrucksform für das, was uns nicht bewußt ist. Was wir wahr­neh­men, ist uns stets nur als Phänomen unse­res Bewußtseins und als Zustand unse­res Geistes gege­ben. Die Wahrnehmung ist eine Interpretation der Sinnesdaten und Teil des Verstandes. Alle Beobachtungen sind immer schon Interpretationen. “Sinnesdaten sind psycho­lo­gisch gespro­chen das Ergebnis unse­res Glaubens an die Existenz gewis­ser thero­re­ti­scher Entitäten.”(9) Wahrnehmung ist eigent­lich unbe­wuß­tes Schließen. Wahrnehmungen können deshalb nicht mit physi­ka­li­schen Dingen iden­ti­fi­ziert werden, weil Wahrnehmungen erst entste­hen, nach­dem sich zwischen den physi­ka­li­schen Dingen und einem Organismus und schließ­lich im Gehirn viele Vorgänge abge­spielt haben.

Unsere Wahrnehmungen erfol­gen über die Vermittlung eines konzep­tu­el­len Schemas und sind vorge­ord­net. Wir sind immer auf Wahrnehmungstypen, wie etwa Gegenstände, Formen oder Farben einge­stellt. Wir nehmen die Dinge nicht als zusam­men­hang­los und isolierte Elemente wahr, sondern ordnen sie mehr oder weni­ger unbe­wußt schon während des Wahrnehmungsprozesses in ein sinn­vol­les Ganzes. Wahrnehmungen sind bereits synthe­ti­sche Leistungen. Alles, was über­haupt von einem Denkprozess ergrif­fen wird, ist schon in ein Schema bere­chen­ba­rer Zusammenhänge gebracht. Die Konformität des Konstruierten mit dem mate­ri­el­len Gegenstand ist aber reine Vermutung: Das Sehen findet nicht im Auge statt, sondern im Gehirn. Der Sehakt ist im tiefs­ten Sinne mental.

Die Farbqualitäten sind Produkte unse­rer Sinnesempfindung und unse­res Verstandes und keine dem Licht anhaf­ten­den physi­ka­li­schen Eigenschaften. Die Farbe ist keine Eigenschaft des Gegenstandes. Die Farbe blau läßt keine Beschreibung zu, sondern ist letzt­lich eine Empfindung, dasselbe gilt von allen ande­ren Farben. Es gibt keine Farben und Töne sondern nur Farbsehende und Tonhörende. Farbe, Klänge und Gerüche sind Erregungsformen unse­rer Sinnlichkeit. Was für Farbe und Geschmack gilt, gilt auch von Ausdehnung und Festigkeit und es gilt auch von der Substanz: Alles exis­tiert nur im Bewußtsein und ist eine subjek­tive Erscheinung. Wahrnehmungen sind nicht wahr‑, sondern nur angenommen.

Der soge­nannte mate­ri­elle Gegenstand und seine durch das Bewußtsein voll­zo­gene Aufzeichnung sind rein geis­tige Konstruktionen. Wahrnehmung und Deutung von Fakten erfolgt stets aufgrund eines Vorauswissens und einer ganzen Struktur von Vorurteilen. Es gibt keine unin­ter­pre­tier­ten Tatsachen. Der Wahrnehmungsprozess ist Teil des Verstandes, ein Akt der logi­schen Typisierung. Es gibt kein unver­mit­tel­tes Wissen. Was im Bewußtsein erscheint, ist schon abstra­hiert. HERMANN COHEN verwirft sogar den Dualismus von Anschauung und Denken als zweier gleich­be­rech­tigt neben­ein­an­der stehen­der Formen der Erkenntnis. Er erklärt auch die Anschauung für eine Form des Denkens. Für ihn gibt es kein als solches gege­be­nes Rohmaterial. Schon die Empfindungen sind ihm Gedankliches.

Auch der Begriff Bewußtsein bedeu­tet deshalb ledig­lich einen Versuch, eine persön­li­che Erfahrung zu defi­nie­ren. Alle Begriffe müssen eigent­lich als Hilfskonstruktionen und Arbeitshypothesen verstan­den werden, die erst durch einen indi­vi­du­el­len Bedeutungswert, der ihnen vom jewei­li­gen Verwender zuge­mes­sen wird, subjek­tive Geltung erhal­ten. Unser Bewußtseinsbegriff hat viel Ähnlichkeit mit dem alten Seelenbegriff. Alle Bewußtseinserscheinungen können auch als seeli­sche verstan­den werden. Seelenleben kann eine Definition für Ganzheiten sein, die sich nicht in Elemente auffas­sen lassen. Seelische Gebilde müssen demnach immer als Ganzheiten aufge­fasst werden, weil wir sie in ihrem Wesen stören, falls wir versu­chen, sie in letzte Elemente zu zerle­gen. Bewußtsein ist also eine prak­ti­sche Abstraktion für ein orga­ni­sches Ganzes. Nicht die Empfindungen sind die Elemente der Wirklichkeit, sondern das Bewußtsein ist maßge­bend, in dem sie zusam­men­hän­gen. Diese subjek­tive Einheit des Bewußtseins ist Bedingung aller Erkenntnis. Wo die Einheit des Bewußtseins fehlt, da fehlt auch das Bewußtsein selbst.
Anmerkungen:
1. LUDWIG KLAGES: Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, Seite 842
2. Vgl. GREGORY BATESON: Geist und Natur, Ffm 1987, Seite 120
3. ROBERT PIRSIG: Zen oder die Kunst ein Motorrad zu warten, Ffm 1980, Seite 83
4. JOHANN GOTTLIEB HERDER: Sprachphilosophie, Hamburg 1960, Seite 40
5. IMMANUEL KANT: Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, Seite 92
6. MAURICE MERLEAU-PONTY: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, Seite 260
7. LUDWIK FLECK: Entstehung und Entwicklung einer wissen­schaft­li­chen Tatsache, Ffm 1980, Seite XXIII
8. GREGORY BATESON: Geist und Natur, Ffm 1987, Seite 165
9. PAUL FEYERABEND in ERNST TOPITSCH (Hrsg): Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1966, Seite 50

 

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