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11. Religion

Nichts Endliches läßt sich zum Unendlichen in Beziehung setzen.”

In allen wissen­schaft­li­chen Theorien stoßen wir auf die unver­meid­li­che Begrenzung unse­res Wissens, die sich durch eine notwen­di­ger­weise begriff­li­che Fixierung des Tatsachenmaterials ergibt. Wir können Wissen anhäu­fen so viel wir wollen, ohne uns dabei sinn­vol­len Zielen und Zwecken zu nähern. Unsere ratio­na­len Kenntnisse vermeh­ren sich zwar, jedoch die Erkenntnis vertieft sich nicht.

Die Qualität des Wissens stei­gert sich nicht mit seiner Quantität. Vielwisserei verleiht keine Vernunft. Wissen allein, ohne die Beurteilung der Bedeutung des Gewußten und ohne die Einordnung in ein mora­li­sches Wertesystem, ist sinn­los. Bloße Logik und Rationalität sind im Grunde beschränkte Mittel, um beschränkte Aufgaben zu erfül­len. Sie täuschen uns weit mehr, als daß sie uns Klarheit verschaffen.

Eigentliche Gewißheit kann im Wissen nicht erreicht werden. Die Spannung zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen hebt sich auf nur ratio­na­lem Weg nicht auf. Die Logik ist immer einsei­tig. Alle Objektivierung ist Vermittlung und muß auch Vermittlung blei­ben. Kein einzi­ges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, können wir durch und durch verste­hen und begrei­fen, sondern an jedem bleibt etwas völlig Unerklärliches übrig. “Der Grund und Boden, auf dem alle unsere Erkenntnisse und Wissenschaften ruhen, ist das Unerklärliche.” 1)

Unsere Sicht der Welt ist und bleibt von der Konstitution unse­rer Sinne bestimmt, d.h. menschen­spe­zi­fisch. Den wirk­li­chen Mysterien, dem Mysterium des Warum — dem Warum aller Gesetzmäßigkeiten, und dem Warum allen Werdens — vermö­gen wir allen­falls bewun­dern­des Staunen entge­gen­brin­gen. Der Ursprung der Welt objek­ti­viert sich nicht. Jede Objektivierung und Verdinglichung nimmt der Wirklichkeit nur von ihrem Zauber. “Das Weltall, wie wir es bloß natur­wis­sen­schaft­lich begrei­fen, kann uns so wenig begeis­tern, wie eine buch­sta­bierte Ilias.” 2)

Der Kälte des Begriffs steht die Wärme des Ergriffenseins gegen­über. Die Dinge werden durch den sprach­li­chen Ausdruck immer irgend­wie veräu­ßer­licht und entweiht. Alle Worte sind bloße Versuche der Bezeichnung, wo es sich um das Unvergleichliche handelt. “Worte krei­sen nur wie Satelliten um das Unaussprechliche der Erfahrung, können sie aber nie genau tref­fen.” 3)
“In den Begriffen von Kraft und Materie sehen wir densel­ben Dualismus wieder­keh­ren, der sich in den Vorstellungen von Gott und der Welt, von Seele und Leib hervor­drängt. Es ist, nur verfei­nert, dasselbe Bedürfnis, welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und mehr mit den Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevöl­kern. Wir sind nicht imstande, die Atome zu begrei­fen, und vermö­gen nicht aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewußtseins zu erklä­ren. Man mag den Begriff der Materie drehen und wenden, wie man will, immer stößt man auf ein letz­tes Unbegreifliches, wo nicht gar auf etwas schlecht­hin Widersinniges, wie bei der Annahme von Kräften, die durch den leeren Raum in die Ferne wirken. Es bleibt keine Hoffnung, dieses Problem jemals aufzu­lö­sen, das Hindernis ist ein tran­szen­den­tes.” 4)
Wissenschaft ist durch den auf das System ange­leg­ten Begriff gekenn­zeich­net. Die Operationen unse­res Verstandes spal­ten die Welt in zahl­lose Polaritäten und gewin­nen ihre Gegenstände durch punk­tu­elle Isolation eines Dings aus einem flie­ßen­den Prozess. Als Verstand stehen wir fass­ba­ren Dingen gegen­über. In der spezi­fi­schen Eigenart unse­res gewöhn­li­chen Bewußtseins vermö­gen wir zwar im getrenn­ten Nacheinander Zeitabschnitte zu bestim­men, können aber keine durch­gän­gige Kontinuität begrei­fen. Das Kontinuierliche ist irra­tio­nal, über­be­greif­lich für die ratio­nale Logik. Der Verstand, die Logik, und die Begriffe sagen: Halt! Doch die Wirklichkeit fließt weiter.

Wir müssen die Kontinuität darum als Grenzbegriff auffas­sen. Die Begrenzung der Begriffe fällt mit der Begrenzung unse­res Beobachtungssystems zusam­men. Das Irrationale ist darum auch nichts Verschwommenes und Unklares, sondern eine mit ratio­na­len Mitteln exakt aufweis­bare Grenze der Erkennbarkeit. Widersprüche entste­hen haupt­säch­lich deshalb, weil wir auf einer punk­tua­lis­ti­schen, bzw. abstra­hie­ren­den Sichtweise behar­ren und versu­chen, etwas mit Worten auszu­drü­cken, das nicht mit Worten ausdrück­bar ist.

Logos = Form und logisch ist alles, was in eine Form gebracht ist. Das Wirkliche selbst aber ist form­los, unsag­bar, alogisch, uner­kenn­bar, über-rational und über-sinnlich. Wo es keine Form gibt, hat die Logik keine oder nur neben­säch­li­che Bedeutung. Die Bedeutung der Religion liegt deshalb im Bereich des Ungegenständlichen. Transzendenz meint die Aufhebung der Gegenständlichkeit. In einer endli­chen Welt der isolier­ten Auffassung steht alles im Gegensatz zuein­an­der. Soll das Verschwinden der sprach­li­chen Polarität zum Ausdruck gebracht werden, blei­ben nur para­doxe 5) Formulierungen.

Paradoxa deuten darauf hin, daß die Grenze eines Logiksystems erreicht ist. Paradoxa können auch als Lehrmethode verstan­den werden, um auf die Dynamik der Wirklichkeit hinzu­wei­sen. Die para­doxe Formulierung ist ein Versuch, die klas­si­sche Logik zu über­win­den, um einer Wahrheit näher­zu­kom­men, die in einer Logik vom ausge­schlos­se­nen Dritten nicht fass­bar ist.

Für die Logik gilt der Satz vom Widerspruch: Nichts kann gleich­zei­tig sein und nicht sein — entweder/oder. Die Logik sagt tertium non datur, ein Drittes gibt es nicht, und kann sich deshalb die Gegensätze in Ihrem Einssein nicht vorstel­len. Die Paradoxie nun ist eine Paradoxie des zugleich.

Im Kreis ist jeder Teil sowohl Anfang, als auch Ende. Jede Mauer ist doppel­deu­tig: sie schließt ein und sie schließt aus. Das Paradoxe ist sowohl als auch. Und ist die Kopula der Paradoxe. Die Töpferscheibe kreist und steht doch still. Im Kreis fängt alles an wo alles endet. Jede Handlung ist zugleich Aktion und Reaktion. Der Zirkel ist konvex. Nein, der Zirkel ist konkav. Der Zirkel ist beides: konvex und konkav. Oder: Der Satz auf der Rückseite dieser Karte ist falsch! steht auf beiden Seiten.

Paradoxien sind dem rein logi­schen Denken Selbstrückbezüglichkeiten, die aber für das gewöhn­li­che Denken schwer zu erken­nen sind. Alles ist das Gleiche, aber immer anders. Tief entge­gen­ge­setzte Meinungen können gleich wahr sein. “Das Gegenteil einer rich­ti­gen Behauptung ist ein falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.” 6) Wirkliche Tiefe ist immer zwei­deu­tig: “Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen steige! ’s ist einer­lei.” 7)

Die Aussöhnung und Vereinigung der objek­ti­ven Gegensätze ist para­dox und das eigent­li­che Mysterium der ratio­na­len Erkenntnis. Die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ist ein altes Bild für para­doxe Verhalte. Für KIERGEGAARD ist das Paradox der einzig echte Ausdruck für die Wirklichkeit.
“Die Paradoxie gehört zum höchs­ten geis­ti­gen Gut, logi­sche Eindeutigkeit ist ein Zeichen von Schwäche. Nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annä­hernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einsei­tig und darum unge­eig­net, das Unerfaßliche auszu­drü­cken.” 8)
Die ratio­nale Logik basiert auf der Trennung von Subjekt und Objekt. Deshalb gibt es über­all, wo der Begriff der Kontinuität, bzw. Unendlichkeit auftaucht, prin­zi­pi­elle Schwierigkeiten logi­scher Art. In einer unge­teil­ten Welt — einer abso­lu­ten Wirklichkeit, in der es keine Subjekt-Objekt-Spaltung gibt — sind auch alle Gegensätze aufge­ho­ben und verschwin­den im Ungrund des Absoluten.

Das tiefste aller Geheimnisse ist für den objek­ti­ven Verstand der Zusammenfall der Gegensätze im unbe­greif­li­chen Einen. Das Einsseiende ist weder ganz noch hat es Teile, noch Größe noch Kleinheit, noch hat es Gleichheit an sich. Ein solches Ganzes bleibt der Rationalität rätsel­haft. Nichts Endliches läßt sich zum Unendlichen in Beziehung setzen. So trägt jedes Konzept einer abso­lu­ten Einheit mysti­sche Züge. Der Begriff der Ganzheit ist das totum mysti­cum. Was eins ist, kann letz­ten Endes nicht mehr gefragt werden. “Wohl kann Beschaulichkeit, aber nicht Erkenntnis in dem sein, was nur eines ist.” 9) Das mysti­sche Wissen ist das Wissen vom Nichtwissen durch alle Scheinhaftigkeit hindurch. “Das Eine — sich wandelnd ruht es.” 10)

Das letzte Begreifen über­schrei­tet Worte und Vorstellungen. Was wir ratio­nal begrei­fen, ist nicht die ganze Wahrheit. Transzendierung ist das Überschreiten der durch das Denken gesetz­ten Grenze. Religion geht über den mensch­li­chen Begriff hinaus. Es ist ein Widersinn oder Betrug, wenn reli­giöse Dinge ratio­nal aufge­fasst werden, was jedoch aus Gründen der Popularisierung oft geschieht. Es gibt keine Worte des Herrn. Gott spricht nicht.

In jedem echten Verstehen steckt ein über-rationales Moment, das durch keine logi­schen Formeln reprä­sen­tiert werden kann. Der Sprung zur Transzendenz wird an der Grenze der Rationalität voll­zo­gen. Unser Verstand bewegt sich im Bereich der Bedingungen, die Seele aber wirkt unbe­dingt. Die Seele ist kein Ding und schon das Reden von ihr ist eine Vergegenständlichung und Irreführung.
“Widersprüche gibt es nur in der Sprache. Die Natur, wie sie nur einmal da ist, ist einheit­lich. Diese Einheit können wir nicht entde­cken, wenn wir denken oder spre­chen, diese Einheit können wir nur fühlen, wenn wir leben, unge­trennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur. Man kann das auch Mystik nennen, erkennt­nis­kri­ti­sche, sprach­kri­ti­sche Mystik.” 11)
Die Wahrheit oder Wirklichkeit läßt sich nicht mit Worten, sondern nur auf dem Wege direk­ter Einfühlung, mit Intuition erfas­sen. “Wer versteht redet nicht, und wer redet, versteht nicht”, sagt Laotse. Wissen von Gott exis­tiert nicht, weil es keine Möglichkeit gibt, das prin­zi­pi­ell Jenseitige in dies­sei­ti­gen Kategorien zu begrei­fen. “Ein begrif­fe­ner Gott ist kein Gott.” 12) Der Begriff Gott ist auch nur ein Ausdruck für unsere Sehnsucht nach einem letz­ten Wort. Höchste geis­tige Wirklichkeit heißt es im Buddhismus anstelle von Gott.

Zwischen Erkenntnis und Glauben besteht deshalb kein Widerspruch. Das Wort Glauben weist auf eine anders nicht ausdrück­bare, beson­dere Wirklichkeit hin. Gott ist eine Wirklichkeit und Religion ist Erkenntnis Gottes als Erkenntnis einer Wirklichkeit. Für Hugo Dingler sind Gott und Wirklichkeit nur zwei verschie­dene Ausdrucksweisen für die “Gesamtheit des Gegenstehenden”. Religion ist ihm der Ausgleich mit der Gesamtheit des Gegenstehenden, das ist der Ausgleich von Gott mit der Wirklichkeit 13).

Der Wille zu diesem Ausgleich ist für KANT das einzig wirk­lich Wertvolle auf der Welt. Der Ausgleich bewirkt den reli­giö­sen Frieden, der seine letzte Krönung im Tod findet. Mystisch ist die Aufhebung der logisch-rationalen Unterschiede, auch zwischen Leben und Tod. Leben und Tod sind künst­li­che Begriffe für ein stän­di­ges Ineinanderübergehen — sind wie Aktivität und Passivität, austausch­bare Substanzzustände.

Wir tren­nen das Leben vom Tod. Leben und Tod sind aber in Wirklichkeit eins. “Und dasselbe ist Lebendes und Totes, und Waches und Schlafendes, und Junges und Altes. Denn dieses schlägt in jenes um, und jenes wieder in dieses.” 14) Der Tod ist die Rückkehr in die allge­meine Indifferenz. “Indem ein Mensch stirbt, wird seine Sehkraft eins mit der Sonne, sein Geruch mit der Erde, sein Geschmack mit dem Wasser, sein Gehör mit der Luft”, so steht es in den Veden.

Mystik beruth auf der Verneinung einer objek­ti­ven Sinnenwelt, ist aber auch eine Verneinung der Logik des Verstandes. Objektive Anschauungen machen einen Hauptbestandteil dessen aus, was wir als Normalität defi­nie­ren. Der gesunde Menschenverstand ist als genaue Struktur der Wirklichkeit und der Struktur der Sprache defi­niert und beruth auf der Logik von Subjekt, Objekt und Prädikat, d.h. auf der Anerkennung von Zeit, Raum und Ich-Stärke. Jedes tiefe Erleben, welches den objek­ti­ven Filter durch­bricht, gerät deshalb in Gefahr, für Wahnsinn erklärt zu werden.

Die karte­si­sche Weltanschauung gilt als die einzig gültige Beschreibung der Wirklichkeit. Alles andere wird bei konven­tio­nel­len Psychiatern als psycho­tisch betrach­tet. In der west­li­chen Welt wird die Existenz von Bewußtseinsvorgängen, für die es keine Bezeichnung gibt, verneint. Was jenseits der allge­mei­nen Vorstellung von Zeit, Raum und Persönlichkeit liegt, kann kein Gegenstand der Erfahrung sein. Die Ungedecktheit nicht regle­men­tier­ter geis­ti­ger Erfahrung führt darum zu der Neigung, Menschen als krank zu bezeich­nen, die im Grunde nur ein eige­nes Weltverständnis haben.

Ichlose Erfahrungen werden als schi­zo­phren bezeich­net. Zugegeben sind trans­per­so­nale Zustände (GROF) mit einem ange­mes­se­nen Funktionieren und Überleben im Alltag kaum verein­bar. Die Mystiker werden auch nur deshalb nicht geis­tes­krank, weil sie ihr über­in­di­vi­du­el­les Bewußtsein mit ihrem Alltagsbewußtsein zu inte­grie­ren wissen. “Mystiker und Schizophrene schwim­men im selben Ozean, aber die Mystiker schwim­men, während die Schizophrenen ertrin­ken.” 15)

Mystiker behaup­ten, daß sich die Wirklichkeit nur erfas­sen läßt, wenn der Verstand seinen Anspruch auf sie aufgibt. Die mysti­sche Abkehr von der Illusion der objek­ti­ven Realität beruth auf der Überzeugung von Zeit und Raum und den Gesetzen der Kausalität, als den tiefs­ten aller illu­sio­nä­ren Erscheinungen. Im unbe­greif­li­chen Absoluten gibt es weder Zeit noch Raum, noch einen Kausalzusammenhang. Absolut heißt losge­löst von konkre­ter Zeit und tatsäch­li­chem Raum. Im Absoluten gibt es keinen Anfang und kein Ende. Jeder Anfang ist bloß das in der Zeit begin­nende Denken.

Mit der Zeitmessung gren­zen wir Teile ein und bestim­men eine Form. Zeit ist aber, wie der Raum, eine Abstraktion, ein Muster, das wir der Wirklichkeit aufer­le­gen, das als solches nicht exis­tiert. Zeit und Raum sind Gehirnfunktionen und schon durch die Einnahme von LSD und ande­ren Drogen können die bishe­ri­gen Grenzen unse­res Bewußtseins über­schrit­ten werden.

Unser Bewußtsein zeigt nach der Einnahme von bestimm­ten Drogen eine charak­te­ris­ti­sche quali­ta­tive Veränderung. Die gewöhn­li­chen Grenzen der Sinneswahrnehmung und des logi­schen Denkens werden tran­szen­diert: Unsere Wahrnehmung verla­gert sich von festen Objekten zu flie­ßen­den Energiemustern. Eine konse­quente Aufhebung der Gegenständlichkeit, d.h. der Räumlichkeit, bedeu­tet zugleich die Aufhebung der norma­len Zeitempfindung, sowie umge­kehrt mit der Aufhebung der Zeitempfindung auch die Gegenständlichkeit verschwindet.

Wenn wir Raum und Zeit über­win­den, gelan­gen wir zu neuen Ausblicken und Erkenntnissen im Weltraum der Seele. Das Meskalin reißt die Schranken der Persönlichkeit ein. Zwischen Person und Welt entsteht ein Gefühl der Einheit. Im Mohn sind Substanzen, die unsere Zeitempfindung derma­ßen beein­flu­ßen können, so daß uns die Zeit als endlos ausge­dehnt erscheint. Auch mit LSD können wir über das normale Zeit-Raum-Ego hinaus­ge­lan­gen. Und sogar wenn wir träu­men, errei­chen wir eine Grenze, an der das Zeiterleben mehr­schich­tig wird und zu wanken beginnt.

Ich befand mich hinter meinen geschlos­se­nen Lidern in einem Hohlraum voll ziegel­ro­ter Ornamente und zugleich im Weltmittelpunkt der voll­kom­me­nen Windstille. Ich wußte: alles war gut — der Grund und der Ungrund von allem war gut. Aber ich begriff im glei­chen Augenblick auch das Leiden und den Ekel, die Mißstimmungen und Mißverständnisse des gewöhn­li­chen Lebens: dort ist man nie ganz, sondern zerteilt, zerhackt und zerspal­ten in die winzi­gen Scherben der Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Jahre; man ist dort ein Sklave des Molochs Zeit, der einen stück­chen­weise auffrißt; man ist zu Stammeln, Stümperei und Stückwerk verdammt.” 16)

Durch Ekstase, Trance, Fasten, sexu­elle Exzesse ode auch Tanzen kann unser Bewußtsein derart beein­flußt werden, daß sich trans­per­so­nale Zustände hervor­ru­fen lassen. Wir können die gewöhn­li­chen Grenzen über­schrei­ten und Tiefen des Unbewußten errei­chen, die sonst nicht zugäng­lich wären.

LITERATUR — Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit — Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
Anmerkungen:

ARTHUR SCHOPENHAUER, Auswahl aus seinen Schriften, München 1962, Seite 57
F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus Bd.2, Ffm 1974, Seite 986
WOLFGANG SEILER, Grenzüberschreitungen, Giessen 1980, Seite 75
F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus Bd.2, Ffm 1974, Seite 596
para ten doxan = entge­gen der gewöhn­li­chen Meinung
NIELS BOHR in WERNER HEISENBERG, Der Teil und das Ganze, München 1981, Seite 124
MEPHISTO zu Faust
C. G. JUNG, Einleitung in die reli­gi­ons­psy­cho­lo­gi­sche Problematik der Alchemie, ohne Jahr
JAKOB BÖHME ohne Quelle
HERAKLIT ohne Quelle
FRITZ MAUTHNER in GERSHON WEILER, Fritz Mauthner — Sprache und Leben, Salzburg 1986, Seite 104
GERHARD TERSTEEGEN in RUDOLF OTTO, Das Heilige, München 1971
Vgl. HUGO DINGLER, Die Ergreifung des Wirklichen, München 1955, Seite 170
HERAKLIT ohne Quelle
STAN GROF in FRITJOF CAPRA, Das neue Denken, Bern/Mchn/Wien 1987, Seite 141
RUDOLF GELPKE in ALBERT HOFMANN, LSD-Mein Sorgenkind, Frankfurt 1982, Seite 135

Published inFormen der Wirklichkeit

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