“Mit der Analogiefrage behandeln wir deshalb auch gleichzeitig die Machtfrage. Objektivieren heißt verabsolutieren.”
Das naive Vertrauen in die Objektivität der Tatsachen ist der wesentlichste Ordnungsfaktor im gesellschaftlichen Leben und die Basis allen Denkens und Handelns — und zugleich der unserer Zeit eigene Aberglaube.
Es gibt keine Ordnung in der Natur, die wir nicht in sie hineinlegen. Alle Gesetzlichkeit, die wir in der Natur festzustellen glauben, ist bereits in unseren Begriffen angelegt. Wo Verstand ist, da ist Gesetz. Der Verstand ist die Form der Formen. Ordnung ist nur im menschlichen Verstand. Alles Wissen ist nomologisches Wissen. Nomologisches Wissen schafft Gesetze, diese aber sind nur Abstraktionen. Jede Regelmäßigkeit in der Welt ist eine gemachte.
Die Welt läßt sich nie vollständig im Denken auflösen, sie ist logisch nicht notwendig. Die Dinge dieser Welt bestehen im Fluß der Erlebnisse. Wirkliche Zählbarkeit = ein geistiges Wunschbild und Ideal. Die vielgepriesene Positivität der Wissenschaft ist das Ergebnis von Setzungen, die zwar als zwingend ausgegeben werden, es aber nicht sind. Nicht nur politische Ideologien sind weltanschaulich bedingt, sondern auch wissenschaftliche Theorien und die Naturgesetze. Als Garant für eine Objektivität der Welt bleibt die dogmatische Tatsachenlogik aber eine von vielen Irrationalismen.
Wissenschaft liefert Kenntnisse, wie das Leben durch Berechnung beherrscht werden soll. Ordnung ist dementsprechend besser als Unordnung. Die Einheitlichkeit der gesetzten Ordnung soll dabei den Wirrwarr der Einzelheiten beseitigen. Die Gesetze der Wirklichkeit aber sind alles andere, als mit den menschlichen Denkgesetzen identisch. Alle Gesetze sind lediglich idealtypische Verallgemeinerungen. Die Maße des Wirklichen sind immer inkommensurabel. Wissen aus Abstraktion ist immer nur praktisches, d.h. wirksames Wissen.
“Niemand kann — selbst bei bester Gesetzeserkenntnis — den Weg eines Wassertropfens ind den Niagarafällen berechnen/voraussagen, weil die exakte Kenntnis der Anfangs‑, Rand- und Systemdaten fehlt bzw. utopisch bleibt. Die Komplexität eines politisch-ökonomisch-sozialen Systems mag vergleichbar sein.” 1)
Das Regellose ist das eigentlich Wirkliche im Wirklichen, ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest — das, was sich mit größter Anstrengung nicht im Verstand auflösen läßt. Zeit, Raum und Person sind, wie alle anderen grammatischen Hilfskonstruktionen FORMEN der WIRKLICHKEIT, aber nicht die Wirklichkeit selbst. Alle Kategorien sollten deshalb als vorübergehende Ruhepunkte im Denken betrachtet werden und nicht als etwas Endgültiges. In der Natur gibt es keine fertigen Gebilde, nichts Rundes und nichts Abgeschlossenes, wie uns die Abstraktionen gerne glauben machen möchten. Rund und geschlossen sind nur Wörter, Bilder, Zeichen.
Die statische Sicht der Erkenntnis ist auf einen idealen Endzustand des Wissens gerichtet. Die zu messende Wirklichkeit ist aber nicht statisch, sondern fließt. Ganzheitseigenschaften werden zerstört, wenn eine Ganzheit auseinander genommen und physische und theoretisch in seine Einzelteile zerlegt wird. Das Ganze ist bekanntlich immer etwas anderes, als die bloße Summe seiner Einzelteile. Alle Theorien dagegen haben eine Tendenz sich zu schließen und pflegen meistens mit dem Anspruch aufzutreten, das Ganze über die Einzelteile zu beherrschen.
Die Vergewaltigung der Wirklichkeit geschieht im Interesse einer Systematisierungskonsequenz. Aber gerade durch die systematische Abgeschlossenheit ist jede Theorie bereits autoritär. Systematisches Denken ist auf die Totalität von Prinzipien aus. Autoritäre Beziehungen beginnen, wo wir uns in ein System begeben. Jedes geschlossene System ist aber eine Selbsttäuschung. Wo das wirkliche Leben beginnt, hört die große Systematik auf. Lebensphänomene werden bloß verfälscht, sobald sie willkürlich in den starren Rahmen quantitativer Beziehungen gepresst werden. Es gibt keine natürliche Ordnung. “Unsere Ordnung ist eine Gewaltsamkeit und vielleicht wieder ein Einschränken dieser Gewaltsamkeit.” 2)
Wissenschaft schafft also bestenfalls Wissen, nicht Sinn. Ordnung und Gesetz sind erfundene Zweckbegriffe. In der Realität fehlt der Zweck, wie auch das Zwecklose. In der Wirklichkeit selbst wird nichts bezweckt und nichts ist zwecklos. Die Wirklichkeit ist weder rational, noch irrational, sondern so, wie sie unserem Denken in Bezug auf einen subjektiven Zweck hin erscheint.
Hinter jedem Wissen steckt ein Interesse. Je nach Interesse und Denkrichtung gibt es verschiedene Definitionen desselben Begriffs. Alle Gleichsetzung der fließenden Wirklichkeit mit einem Begriff und einer feststehenden Definition ist aber am Ende immer willkürlich. Im Zwangscharakter von Objektivität und Wahrheit zeigt sich lediglich das alte Bestreben, die bloße Tatsächlichkeit in eine Denknotwendigkeit zu verwandeln.
Mit der Analogiefrage behandeln wir deshalb auch gleichzeitig die Machtfrage. Objektivieren heißt verabsolutieren. Reine Logik ist immer zwanghaft. Logik zwingt zum Gehorsam. Durch Abstraktion kann beherrscht werden, wo es unklug wäre, offene physische Gewalt einzusetzen. Jeder Sachzwang, der sich auf die Objektivität von Tatsachen beruft, muß deshalb als geschickte Ausübung von ideologischer Herrschaft verstanden werden. In der Sprache werden die Abstraktionen zum Hauptinstrument jeder Art von Legitimation. “Begriffe entscheiden überall, Begriffe regeln das Leben, Begriffe herrschen.” 3)
Herrschaftswissen existiert in der Form addierter Daten, nicht als Mittel geistiger Sinnorientierung. “Wissen ist Macht”, aber Machtverhältnisse sind keine Sinnverhältnisse. 4) Die Dogmatik der Ideologien besteht darin, daß alle Mittel, nur nicht kritische Diskussion verwendet werden, um sie durchzusetzen. Dogmatismus ist die Anmaßung aus sicheren Prinzipien a priori streng zu beweisen. Dogmatisch, d.h. aus Begriffen. “Das Objekt als solches für eigentliches Sein zu halten, das ist das Wesen aller Dogmatik, und die Symbole als materielle Leibhaftigkeit für real zu halten, ist insbesondere das Wesen des Aberglaubens.” 5)“Unser Denken in substantivischen Begriffen ist Mythologie.” 6)
Es gibt gar kein Wesen, keine Natur und keinen Charakter der Dinge. Unser Wissen über eine Sache ist nicht die Sache selbst. Es ist uns bloß zur sprachlichen Gewohnheit geworden, ständig mit den Dingen-ansich zu operieren. Es gibt keinen Begriff, dem ein konkret-existierendes Ding entspricht. “Definitionen sind Dogmen.” 7) Der letzte Versuch, letzte Bausteine der Wirklichkeit feststellen zu wollen, muß sich auf naive Namensgebung beschränken. Alles Wissen ist Vermutungswissen. “Wenn etwas so und so und nicht anders geschieht, so ist darin (aber) kein Prinzip, kein Gesetz, keine Ordnung.” 8) Dogmatismus ist deshalb zugleich theoretische Unfähigkeit als auch moralischer Mangel. Jede Aussage ist eine Konstruktion und muß letztlich moralisch bewertet werden.
Indokrination und symbolische Gewalt entsteht durch dogmatische Durchsetzung bestimmter Definitionen. Das Wissen maßt sich das Recht auf Macht an und wird zum Ersatz für das Gewissen. Fakten ersetzen die Moral. Es gibt aber keinen ausschließlichen Weg, der zur Wahrheit führt, nicht einmal einen besten. Keiner der Philosophen, auch nicht der größte, ist im Besitz der Wahrheit. Jede dogmatische Wahrheit ist eine Herrscherin, die bedingungslose Gefolgschaft fordert. “Die Wahrheit ist — der Herr, und Alle, welche die Wahrheit suchen, suchen und preisen den Herrn.” 9) Unser Problem ist aber nicht die absolute Wahrheit, sondern unser Denken. Die Wahrheit entspricht nie den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen. Alles Gedachte ist bestreitbar. Das macht den Kampf gegen dogmatisches Denken zur Pflicht. “Jedes Dogma ist zutiefst unmoralisch.” 10)
Erkenntnistheoretisch meint Anarchismus für mich die besondere Optik, mit der die gesamte Wirklichkeit betrachtet wird. Alles Denken und jede Logik beruth auf Setzung. Die Logik beginnt mit der abstrakten Formel A=A, bzw. Ich=Ich. Statt Anfang könnte auch das lateinische Wort Prinzip oder das griechische arche benützt werden. Der Ausdruck arche wurde wahrscheinlich von ANAXIMANDER eingeführt, der etwa um 546 v.Chr. starb. Er erscheint in der vorsokratischen Philosophie in verschiedenen Formen und wurde verwendet, um einen Ursprung zu bezeichnen, den Anfang im Allgemeinen, die ursprüngliche Materie oder was immer die Substanz war, von der, wie vermutet wurde, sich alles ableitete, Prinzip oder Essenz, wirkliche Ursache oder das Prinzip des Erkennens. Was alle diese divergierenden Lösungen vereinte, die in der mannigfaltigen Bedeutung von arche wurzelten, war das Interesse, einen gemeinsamen Angelpunkt zu finden, von dem aus dann Alles verstanden werden konnte.
Arche kann als Prinzip und Ursprung in Einem verstanden werden. Im philosophischen Anarchismus wird ein solches Prinzip — und alle Ansprüche auf Erkennbarkeit einer objektiven Wirklichkeit, als zwingend und allgemeingültig abgelehnt. Es gibt keine objektiven Prinzipien. Der Urgrund ist ein Ungrund. Das Urchaos ist da, wo Zeit und Raum keine Rolle spielen. Kausalität und die ihr entsprechende Logik des gesetzten Anfangs, bzw. Ursache und der darauffolgenden Wirkung, erscheinen zwar als natürliche Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit, es gibt aber keinen anderen Anfang als den vom Bewußtsein gesetzten.
Jeder Anfang ist nur ein logisch Erstes. Anarchie sollte deshalb im Wesentlichen als eine geistige Einstellung verstanden werden, die jedoch weitgreifende Auswirkungen auf unser konkretes Verhalten hat. Konkret sind die Dinge nur in der Gegenwart. Bewußt-Sein heißt gegenwärtig-sein. “Löst man die objektive Welt von den Perspektiven ab, in denen sie sich erschließt, so kann man überall in ihr nur Jetzte finden.” 11) Die unauslöschlich individuelle Gegenwart ist logisch icht faßbar. Ein Augenblick hat weder Anfang noch Ende. Anfang und Ende sind logisch gesetzt. In unserem Bewußtsein geht immer Neues hervor, nichts Gleiches kehrt wieder. Es gibt keinen Augenblick, der einem anderen gleicht. Es gibt keine andere Wirklichkeit als die, die sich hier und jetzt ereignet.
Wissenschaftliche Theorien, die ihre Ergebnisse verabsolutieren, stehen in einer Linie mit allen anderen Herrschaftsformen der bisherigen Menschheitsgeschichte. Alle Theorien sind Rechtfertigungsideologien. Ideologische Herrschaft funktioniert als Manipulation durch Verallgemeinerung. Allgemeine Geltung bedeutet erzwungenen Konformismus. Herrschaft im umfassenden Sinn ist Setzung, Anwendung und Erzwingung von Normen. Dogmatisches und autoritäres Wissen ist auf Regeln, Gesetzen und Vorschriften aus, um damit Dinge und Menschen zu beherrschen. Pragmatismus im Bereich der Erkenntnis bedeutet letztlich Herrschafts- und Machtwissen.
Jeder Positivismus besteht darin, daß positives, also nicht-hypothetisches Wissen postuliert wird. Was wir Wissen nennen, ist aber lediglich ein für technische Zwecke praktischer Glaube. Der Vorwurf des Szientismus ist darum der Vorwurf von Dogmatismus und Autoritätsglauben. Eine zwingende Objektivität der Naturwissenschaften muß nicht eingesehen werden und schon gar nicht die Übertragung objektiver Naturgesetze auf die soziale Welt. Alle Objektivität ist kaschierte Subjektivität. Das Sein, die Vernunft, eine universelle oder menschliche Natur oder ähnliche Abstraktionen werden bloß zur Rechtfertigung aller möglichen Gesellschaftsordnungen verwendet.
Durch den orthodoxen Glauben an die Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit objektiver Tatsachen werden die Geister der Leute gebunden, denn nichts täuscht so subtil und effektiv, wie die Scheinobjektivität der Tatsachen. Probleme, die so scheinbar selbstverständliche Begriffe wie Verantwortung, Nation, Kosten, Leistung etc. aufwerfen, werden meist stillschweigend übergangen.
Alle Ideologien sehen sich genötigt in irgendeiner Form ein allgemeines Bewußtsein anzunehmen, dessen Gedanken und Denkformen eben die Formen und Gesetze der Wirklichkeit sein sollen, wobei die menschlich-subjektiven Bewußtseine dann meistens als weniger vollkommene Individuationen des allgemeinen Bewußtseins angenommen werden. Die Einsicht, daß zwischen den formal-logischen Formenbereichen und dem Bereich der Phänomene der Wirklichkeit keine inhaltlichen Geltungsrelationen bestehen, vermag sich im gewöhnlichen Denken nicht durchzusetzen. 12)
Dem objektiven Denken nach existieren die Dinge ansich, aber nicht für mich. Die allgemeine Geltung schreibt gewissermaßen vor, welchen Wert die Dinge für jeden Menschen haben sollen. Objektivität bedeutet unabhängige Geltung, nicht persönliche Bedeutung.
Freiheit vom Wissenschaftsaberglauben heißt Freiheit von Absolutierung. Wir haben kein Recht auch nur irgendjemanden zu irgendetwas zu zwingen. Niemand hat ein solches Recht. Von ein und demselben Ding sind mehrere verschiedene Vorstellungen möglich. Die Bedeutung der Begriffe ist psychologisch, d.h. bewußtseinsabhängig und nicht äußerlich objektiv. Es gibt nicht ein höchstes Gut, sondern viele. Der Verstand ist zwar überaus nützlich, aber er löst keine letzten Probleme. Wenn wir davon ausgehen, daß die Rationalität nicht umfassend ist, kann das Irrationale nicht ausgeschlossen werden. Wo die Logik ihren praktischen Wert besitzt, soll sie deshalb gebraucht werden, darüberhinaus müssen wir ihr Einhalt gebieten. Anstelle der Absolutheit des Universalen muß deshalb die Koexistenz des Verschiedenartigen Wirklichkeit werden.
Pluralität der methodologischen Standorte bedeutet, daß es nicht die Logik gibt, sondern verschiedene Logiken. Wir müssen uns vom Dogma der Allgemeingültigkeit lösen. Toleranz besteht darin, entgegengesetzte Interessen gleichberechtigt existieren zu lassen. Gleichberechtigung bedeutet Vorrechtslosigkeit. Keine gesellschaftliche Gruppierung darf Rechte in Anspruch nehmen, die sie anderen verweigert. Desgleichen muß jede Kultur das Recht haben, ihre Eigenständigkeit zu bewahren oder zu entwickeln, ohne irgendwelchen besonderen Benachteiligungen ausgesetzt zu sein. Freiheit bedeutet Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Toleranz bedeutet aber nicht Indifferenz. Gleichgültigkeit ist nicht gleich Gleichgültigkeit. Auch wenn unsere Sicht der Dinge perspektivisch ist, so ist uns persönlich doch immer nur eine Perspektive eigen.
Es ist nur vernünftig, alle objektiv fixierbaren Standards von Rationalität zu verwerfen. Es werden aber nicht absolut alle Maßstäbe abgelehnt, sondern eben nur die, welche mit einer äußeren, zwingenden Gültigkeit und Notwendigkeit auftreten. Vernünftig ist etwas in Bezug auf einen gewünschten Zweck. Es gibt aber so viele Zwecke, wie es Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gibt. In einer anarchistischen Kultur werden unterschiedliche Interessen anerkannt und nicht allein dafür bekämpft, weil sie den eigenen Interessen entgegenstehen.
“Es ist unwesentlich, ob jemand Kommunist oder Individualist ist, solange er ein Anarchist ist. Anarchie, wie ich sie verstehe, läßt jede Art von Organisation zu, solange eine Mitgliedschaft nicht zwangsweise ist.” 13)
Wo gegenseitige Anerkennung im Vordergrund steht, hat keiner der an einem Streit beteiligten ein Interesse, dem Unterlegenen seine Selbständigkeit zu nehmen. Auch wenn die erforderliche Kooperation bisweilen mühselig ist, liegt ihr moralischer Wert immer vor dem des Konflikts.
Anarchismus muß auf der Anarchie der Überzeugungen basieren — auf der möglichen Inkommensurabilität von Normen. Die Relativierung ergibt sich aus der Anarchie der Werte. Die Auflösung des einheitlichen, objektiven Weltbildes führt zu einer Pluralität einander widersprechender Weltanschauungen, die möglicherweise unversöhnlich sind. Die anarchistische Relativität bedeutet eine prinzipiell gleichberechtigte Vielheit der Sehweisen. Die verschiedenen Typen anarchistischen Denkens weisen darum auch ein überaus konträres Gedankengut auf. Widersprüchlichkeit wird aber ausdrücklich anerkannt.
Das anarchistische Abgrenzungsprinzip betont das Nebeneinander verschiedener Wirklichkeitsbereiche, die nichts miteinander gemeinsam zu haben brauchen und läßt auch andere Überzeugungen für sich gelten. Wenn wir von einer Anarchie der Wertesysteme sprechen, ist die unaufhebbare Vielfältigkeit grundlegender Werthaltungen gemeint. Jede Theorie hat ihre Wertbasis und nur in Bezug auf ihre eigenen Voraussetzungen kann sie richtig oder falsch sein. Zwei Theorien mit völlig verschiedenen Voraussetzungen können einander gar nicht widersprechen, weil wir sie überhaupt nicht miteinander vergleichen können. Zwischen letztbegründeter Meinung und Gegenmeinung ist keine vernünftige Entscheidung möglich, da diese widerstreitenden Urteile einander logisch gleichwertig sind. Die konstruktive Kritik muß sich deshalb auf das Selbstverständnis des ideologischen Gegners beziehen, also darauf, daß auf Widersprüche in seinem eigenen Denken hingewiesen wird, nicht auf Widersprüche zu einer allgemeingültigen Wirklichkeit.
Jemanden überzeugen zu wollen bedeutet den Versuch, Einsichten durch bessere Argumente zu schaffen. Wo sich jemand partout nicht überzeugen läßt, müssen wir das wohl hinnehmen und unser eigenes Verhalten darauf abstellen. Letzte Überzeugungen sind keiner Kritik mehr zugänglich. Wirkliche Extreme können nicht miteinander verwechselt werden, eben weil es wirkliche Extreme sind. Der Gegensatz von Sein und Sollen wird niemals aufgehoben, aber wer sagt denn, daß wir uns bei Meinungsverschiedenheiten immer gleich umbringen müssen.
Wir Menschen sind nicht nur verschieden, sondern wir leben auch in verschiedenen Welten. Im anarchistischen Relativismus kann darum jede Ansicht sowohl als falsch, als auch als richtig erscheinen. Niemand kann seine Überzeugung beweisen. Alles, was von einem Standpunkt aus bejaht wird, kann von einem anderen aus verneint werden.
“Die Sprache der Liebe ist im Nest der Nachtigall süßer Gesang, wie in der Höhle des Löwen Gebrüll, im Forste des Wildes wiehernde Brunst, und im Winkel der Katze Zetergeschrei; jede Gattung redet die ihrige, nicht für den Menschen, sondern für sich.” 14)
Es gibt viele Welten: die Welt des Märchens, die Welt der Wissenschaft, die Welt der Kunst und jede dieser Welten hat ihre eigene Rationalität.
“Ein Schuh wird in gewissen Beziehungen am besten vom Schuhmacher beurteilt, in anderen von dem, der ihn trägt, und wieder in anderen vom Anatomen und vom Maler und Bildhauer.” 15)
Es sind mehrere geschlossene und logisch gleichwertige, aber einander widersprechende normative Ordnungen möglich, zwischen denen wir uns letztlich nur durch einen Willensentschluß entscheiden können. “Es kann nicht viele Welten geben” ist nur eine Umformung des Satzes “Es gibt nur eine Wahrheit” oder “Es gibt nur einen Gott.” Wirklichkeit ist ein Wert, so wie Vernunft oder Gott W e r t e sind. Werte und Interessen können immer divergieren und zu Streitfragen werden.
Die Herrschaftslosigkeit im Anarchismus muß vor allem als Methode begriffen werden. Herrschaftsfreiheit sollte eine simple Selbstverständlichkeit unseres Denkens sein. Die Verschiedenheit der Lehren und Meinungen ist immer auch nützlich für das Fortschreiten der Erkenntnis. Anarchistisch zu denken heißt, die Überlegenheit einer allgemeingültigen Theorie zu verneinen.
“Keine Idee ist groß genug, um die Alleinherrschaft oder das Alleininteresse beanspruchen zu können. Niemals darf das gesamte Leben auf einen einzigen Ton abgestimmt werden.” 16)
Anarchismus ist die Weigerung das Allgemeine zu denken. Ihre Verallgemeinerungsfeindlichkeit wird den Anarchisten jedoch gern als Theorielosigkeit ausgelegt. Derartig unbedarfte Vorwürfe sind typisch für den naiven Realismus, treffen aber nicht das Wesentliche. Wer an eine objektive Welt glaubt, erwirbt sich damit zwar eine gewisse, wenn auch illusionäre Selbstverständlichkeit, ist damit aber gleichzeitig auch an erhebliche Schwierigkeiten, den geistigen Fortschritt betreffend, gebunden. Der bloß rationale Verstand, ohne Vernunft, endet immer in einer Sackgasse. Vernünftig ist es, der Individualität der Dinge gerecht zu werden. Keine Wissenschaft, keine Politik, keine Moral und keine Religion nimmt uns die eigene Entscheidung ab. Jedes Urteil hat existenzielle Gründe.
LITERATUR — Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit — Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
Anmerkungen:
1) ALBERT LENK, Pragmatische Vernunft, Stuttgart 1979, Seite 128
2) KARL JASPERS, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin/Heidelberg 1990, Seite 17
3) MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 104
4) Vgl. MICHEL FOUCAULT, Dispositive der Macht, Berlin 1976, Seite 29
5) KARL JASPERS, Was ist Philosophie, München 1980, Seite 50
6) FRITZ MAUTHNER, Wörterbuch der Philosophie, Zürich 1980, Seite 531
7) KARL MENGER, Dimensionstheorie, 1928
8) FRIEDRICH NIETZSCHE, ohne Quelle
9) MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 397
10) JEAN-MARIE GUYAU in HANS PFEIL, Jean-Marie Guyau und die Philosophie des Lebens, Augsburg/Köln/Wien 1928, Seite 38
11) MAURICE MERLEAU-PONTY, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, Seite 468
12) Vgl. BELA JUHOS in ERNST TOPITSCH, Probleme der Wissenschaftstheorie / Festschrift für Viktor Kraft, Wien 1960, Seite 104
13) BENJAMIN TUCKER, Liberty Nr. 5, vom 4.4.1888, Seite 8
14) FRIEDRICH HERDER, Sprachphilosophie, Hamburg 1960, Seite 36
15) F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus II, Ffm 1974, Seite 589
16) RUDOLF ROCKER in GÜNTER BARTSCH, Anarchismus in Deutschland 1945–1965, Hannover 1972, Seite 101
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