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Roland G. Hicks — Semantik, der Zen-Buddhismus und die Protestbewegung

 

Insoweit die Mitglieder der Protestbewegung die konven­tio­nelle Sprachwelt durch­schauen und wirk­lich­keits­nä­her einge­stellt sind, stehen sie auf dem Boden der meta­phy­si­schen Annahmen sowohl des Zen als auch der Allgemeinsemantik.”

In der Literatur des Zen-Buddhismus finden sich einige eindrucks­volle Parallelen zwischen dem Zen-Gedanken und west­li­chen seman­ti­schen Vorstellungen. LAO TSE und ALFRED KORZYBSKI mögen zeit­lich und räum­lich welt­weit vonein­an­der entfernt sein, aber sie stehen sich in ihren meta­phy­si­schen Annahmen über Sprache und Wirklichkeit bemer­kens­wert nahe. Wir wollen einige dieser gemein­sa­men Annahmen unter­su­chen, um eine mögli­che Verbindung zwischen ihnen und der soge­nann­ten Protestbewegung in der heuti­gen Gesellschaft (1972) herausfinden.

Die Zen-Philosophie betont, daß Worte nicht die wirk­li­che Welt erfas­sen können. Das Tao oder der “Weg des Lebens” kann nicht in irgend­ein Netz von Worten oder Symbolen einge­fa­nen werden. Die Natur der Wirklichkeit läßt sich nicht kate­go­ri­sie­ren, weil das Universum als konkrete Manifestation von stän­dig beweg­ter Energie aufzu­fas­sen ist; seine unab­läs­si­gen Umwandlungen entzie­hen sich immer dem Bemühen, die Welt in fest­ste­hen­den, aber abstrak­ten Begriffen zu beschreiben.

Nach Ansicht des Zen führt die Benennung der Dinge zu einer falschen Auffassung von der Welt. Namengebung führt zu der Illusion, die Struktur der Natur sei die glei­che wie die Struktur der Sprache, Natur sei eine Vielheit von verschie­de­nen Dingen und nicht eine Welt von wech­seln­den Beziehungen. Wenigstens ist dies die Interpretation, die der Zen-Philosophie von west­li­chen Gelehrten wie ALAN WATTS, NANCY WILSON ROSS, HUBERT BENOIT, PAUL REPS, WITTER BYNNER und D.T. SUZUKI gege­ben wird.

Dieses Zen-Bild stimmt mit KORZYBSKIs bekann­tem Gesetz der Nicht-Identität über­ein, welches besagt, daß die Landkarte nicht das Gelände ist und daß alles, was man von einem Ding aussagt nicht das Ding ist . KORZYBSKI sagt, daß nichts mit etwas ande­rem iden­tisch ist, nicht einmal mit sich selbst im Laufe der Zeit, denn die Wirklichkeit ist ein Prozess. Das Wort ist nicht die Sache, die es bezeich­net, weil das, was es bezeich­net, sich stän­dig verändert.

Sowohl nach der Anschauung des Zen wie KORZYBSKIs bezeich­net die regu­läre Sprache immer etwas außer­halb ihrer selbst. Sie ist ein Mittel des Hinweisens mit Symbolen, auf die man sich geei­nigt hat. Beide Anschauungen deuten auf eine nicht benenn­bare Wirklichkeit hin — eine Welt jenseits der Worte, eine exten­sio­nale (1) Welt. Der Semantiker würde sagen, daß Worte keine Bedeutung haben; die Bedeutung wird den Worten im Kopf der Menschen beigelegt. Zen würde sagen, der konkrete Gegenstand sei die Bedeutung, nicht die Abstraktion, die zu seiner Bezeichnung gebraucht wird.
Die blauen Hügel sind einfach die blauen Hügel.
Die weißen Wolken sind einfach weiße Wolken.
Sowohl Zen als auch die Theorien der Allgemeinsemantik versu­chen, das Denken davon zu befreien, die Identifikation auf Abstraktionen einzu­en­gen. Einem Zen-Forscher und einem Semantik-Forscher könnte leicht dasselbe koan oder “Problem” gestellt werden, um ihn hinter den Worten die exten­sio­nale Wirklichkeit erken­nen zu lassen. Die folgen­den Zeilen aus der Zen-Dichtung veran­schau­li­chen diesen Punkt:

Worte können nicht alles beschrei­ben.
Des Herzens Botschaft läßt sich nicht in Worte fassen.
Wer Worte wört­lich nimmt, ist verlo­ren.
Wer mit Worten zu erklä­ren versucht,
Kann keine Einsicht ins Leben gewin­nen.” ‑Ekai

Oder auch:
Das Wesen entzieht sich der Macht der Worte.
Man kann Begriffe verwen­den,
Aber keiner von ihnen ist abso­lut.
Im Anfang von Himmel und Erde
Gab es keine Worte;
Die Worte kamen aus dem Schoß der Materie;
Und ob ein Mann leiden­schafts­los
Auf den Kern des Lebens blickt
Oder leiden­schaft­lich die Oberfläche betrach­tet,
Der Kern und die Oberfläche
Sind wesent­lich dasselbe,
Worte lassen sie verschie­den erschei­nen
Und drücken nur die Erscheinung aus.” ‑Lao Tse

Wir soll­ten aber daraus nicht folgern, daß die Zen-Philosophie und die seman­ti­sche Theorie jegli­chen Gebrauch der Sprache ableh­nen. Wenn einmal der Schüler die Sprache “durch­schaut” und ihre Grenzen erkennt, wenn er sie bloß als gesell­schaft­li­che Übereinkunft versteht, dann ist er frei, sie mit einem neuen Gefühl der Freiheit zu gebrauchen.

Denselben Gedanken hat Walter Lippman bei der Besprechung von Stereotypen zum Ausdruck gebracht. Lippmann sagt, sogar Stereotypen seien von gewis­sem Nutzen, solange wir uns nicht zu eng an sie halten und bereit sind, sie im Lichte neuer Informationen zu verän­dern. Kurzum, Worte sind nütz­lich, wenn wir uns nicht von ihnen bestri­cken lassen. Leider aber ist dies oft der Fall. Alan Watts schrieb, ein Teil der mensch­li­chen Frustrierung komme daher, daß man sich daran gewöhnt habe zu erwar­ten, daß die Sprache und das Denken Erkenntnisse vermit­teln, die sie nicht geben können. Menschen verwech­seln Worte mit der wirk­li­chen Welt und versu­chen, in der wirk­li­chen Welt so zu leben, als ob sie die Welt der Worte wäre; infol­ge­des­sen sind sie bestürzt, wenn die Worte nicht passen.

Sowohl der Vertreter der Allgemeinsemantik als auch der Zen-Anhänger würde darin über­ein­stim­men, daß Worte den Geist auch verwir­ren können, daß sie künst­li­che Probleme oder Situationen schaf­fen. Dieser Gedanke wird von den Theorien der Gesellschaftspsychologie bestä­tigt. Mit den Worten von W.I. Thomas: Wenn Situationen als wirk­lich defi­niert wurden, dann werden sie hinsicht­lich der Konsequenzen für das mensch­li­che Verhalten wirklich.

In der moder­nen Gesellschaft gibt es das als “Protestbewegung” bekannte Phänomen. Diese Bewegung ist natür­lich keine mono­li­thi­sche Einheit. Sie umfaßt Elemente mit weit vonein­an­der abwei­chen­den Anschauungen, Taktikern und Zielen; aber in diesem einen Punkt sind alle einig, daß nämlich Heuchelei in unsrer Gesellschaft weit verbrei­tet ist. Die Mitglieder der Bewegung werfen den Führern unsrer gesell­schaft­li­chen Institutionen, dem “Establishment”, vor, mit Worten zu spie­len. Die Anklage lautet, daß die maßge­ben­den Leute in der Regierung, in der Geschäftswelt, in der Erziehung, in den Kirchen, sogar Eltern in der Familie das Eine sagen und das Andere tun. Die Mitglieder der Bewegung stim­men JOHN KENNETH GALBRAITH zu, daß wir in einer Zeit der “Wort-Tatsachen” leben, einer Periode, in der Worte mit Taten verwech­selt werden. Die von den herr­schen­den Kreisen gebrauch­ten Worte klin­gen schön, haben aber wenig soli­den Halt in der Wirklichkeit.

Die Mitglieder der Protestbewegung machen es sich zur Aufgabe, die Scheinwelt der Worte zu durch­schauen, um die wirk­li­che exten­sio­nale Welt zu erken­nen. Inwieweit es der Zen-Philosophie oder der Allgemeinsemantik gelun­gen ist, einen Beitrag zu diesem “Durchschauen” zu leis­ten, ist nur schwer fest­zu­stel­len. Es ist jedoch erstaun­lich, wenn es bloß Zufall wäre, daß viele Angehörige der Bewegung sich für orien­ta­li­sche Religionen im allge­mei­nen und für Zen im beson­de­ren interessieren.

In der Zen-Literatur ist ihnen sicher­lich die Praxis des “den Geist Ruhelassens” begeg­net, oder in der Ausdrucksweise der Semantik: die Erfahrung der unmit­tel­ba­ren, konkre­ten Wirklichkeit, die nicht in Kategorien, Symbole und Abstraktionen einge­teilt ist. Verschiedene Formen der Meditation, seien sie tran­szen­dent oder anders­wie, werden von den Mitgliedern der Bewegung prak­ti­ziert. Sie nehmen “bewußt­seins­er­wei­ternde” Drogen wie LSD, Meskalin, Peyote usw. ein. Solche Erfahrungen sind mystischund lassen sich nicht leicht in Worten ausdrü­cken, aber alle sind Versuche, hinter den Schleier der Konvention und des Äußeren Scheins zu kommen.

Gegen den Schleier der Konvention und des Scheins protes­tiert die Protestbewegung. Ohne Zweifel protes­tiert sie dage­gen, daß die Gesellschaft sich nicht um konkrete gesell­schaft­li­che Probleme und Bedingungen kümmert, und sie behaup­tet, was ebenso wich­tig ist, daß die verbale Trennung das Establishment daran hindert, die Wirklichkeit dieser Probleme und Bedingungen zu erken­nen. Das Establishment fahre fort, Worte als bare Münze zu nehmen; es behandle Worte stän­dig, als ob es Taten wären.

Der im Zen geübte Protestler durch­schaut die Farce der Pressekonferenzen, den Versuchsballon, die Pressemitteilung, das Programmpapier, die öffent­li­che Rede — lauter Veranstaltungen, die geeig­net sind, gesell­schaft­li­che Probleme verbal zu lösen. Es fehlt aber die konkrete Tat, und gegen diese Heuchelei wird protes­tiert. Seine Zen-Erfahrung hat den Protestler gelehrt, das Wortwesen und den seich­ten Euphemismus zu durch­schauen, der die Gesellschaft so weit­ge­hend charakterisiert.

Wir müssen zuge­ben, daß es in der Protestbewegung Elemente gibt, die unsre meta­phy­si­schen Annahmen nicht teilen oder die es jeden­falls zweck­mä­ßig finden, sie gele­gent­lich zu igno­rie­ren. Es gibt Mitglieder der Bewegung, die es verur­tei­len, wenn von Führern des Establishment Etiketten und Euphemismen (=beschö­ni­gende Bezeichnungen) gebraucht werden, die aber nicht darüber erha­ben sind, diesel­ben Sünden zu begehen.

Wir könn­ten folgende Beispiele anfüh­ren: die euphe­mis­tisch sich so nennen­den “Students for a Democratic Society” (sind sie wirk­lich demo­kra­tisch?); das “Free Speech Movement” (verlan­gen die Mitglieder freie Rede für jeder­mann oder nur für Leute, die mit ihnen über­ein­stim­men?); das “Student Non-Violent Coordinating Committee” (sind die Mitglieder wirk­lich Studenten und sind sie immer gewalt­los?); oder die “Progressive Labour Party” (sind ihre Mitglieder wirk­lich progres­siv und treten sie für die Arbeiter ein?). Weitere Beispiele ließen sich anführen.

Insoweit die Mitglieder der Protestbewegung ihre eige­nen künst­li­chen Kategorien oder Stereotypen geschaf­fen haben, haben sie nur wenig mit Zen und mit der Allgemeinsemantik gemein­sam. Insoweit ihre Mitglieder die konven­tio­nelle Sprachwelt durch­schauen und wirk­lich­keits­nä­her einge­stellt sind, stehen sie auf dem Boden der meta­phy­si­schen Annahmen sowohl des Zen als auch der Allgemeinsemantik.

Wenn die Allgemeinsemantiker neben ALFRED KORZYBSKI auch LAO TSE lesen würden, dann würden sie viele gemein­same Gedanken finden. Wenn mehr Protestler die Lehren von LAO TSE und ALFRED KORZYBSKI lesen und befol­gen würden, wie sie es bei den Lehren von MARX und MARCUSE tun, dann würden sie merken, daß sie ihr eige­nes Haus in Ordnung brin­gen soll­ten. Wenn die Protestler die Heuchelei in ihren eige­nen Reihen ausmerz­ten, dann würden sie im Establishment sicher­lich aufmerk­sa­mere Zuhörer finden.

LITERATUR, Ronald G. Hicks, Semantik, der Zen-Buddhismus und die Protestbewegung in “Wort und Wirklichkeit”, Beiträge zur Allgemeinen Semantik II, Hrsg. Günther Schwarz, Darmstadt 1968
Anmerkungen:
Die von KORZYBSKI empfoh­lene Haltung, die das Individuum von der Tyrannei der Worte befreien soll, wurde von ihm exten­sio­nal genannt. Sich exten­sio­nal zu verhal­ten, soll, grob gesagt, heißen, sich bewußt sein, wie Dinge, Tatsachen und Vorgänge in der Wirklichkeit mitein­an­der verknüpft sind, also nicht wie sie in den Worten, in denen man über sie spricht, erschei­nen. Der exten­sio­nal orien­tierte Mensch diffe­ren­ziert besser als der wort­ge­bun­dene — inten­sio­nal orien­tierte — Mensch. Er weiß um die grund­sätz­li­che Einmaligkeit von Dingen, Vorgängen usw. Dadurch werden ihm Veränderungen eher bewußt als einem inten­sio­nal orien­tier­ten, wort­ge­bun­de­nen Menschen, der die im Fluß befind­li­che dyna­mi­sche Welt, die ihn umgibt, irrtüm­lich für die stati­sche, starre Welt der Etiketten, der Eigenschaften und der Kategorien in seinem Kopf hält.

Published inAllgemeine Semantik

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