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Chang Tun-Sung — Chinesen denken anders

 

CHANG TUNG-SUN
Chinesen denken anders

Der auf dem Gesetz der Identität beru­hende Syllogismus ist die Form der Folgerung in der west­li­chen Logik, während die Chinesen die Analogie anstelle der Folgerung verwenden.”

Westliche Logiker halten es für ausge­macht, daß Gegenstand der Logik die Regeln der mensch­li­chen Schlußfolgerung seien. Diese Annahme ist jedoch nicht ganz gerecht­fer­tigt. Nehmen wir zum Beispiel die aris­to­te­li­sche Logik, die offen­sicht­lich auf der grie­chi­schen Grammatik beruht. Die Unterschiede der gram­ma­ti­schen Formen zwischen Latein, Französisch, Englisch und Deutsch haben keiner­lei Unterschied bei ihrer aris­to­te­li­schen Logik und ihren entspre­chen­den Regeln für Schlüsse zur Folge, weil diese Sprachen zur selben indo-europäischen Familie gehören.

Würde man diese Logik auf das chine­si­sche Denken anwen­den, dann würde sie sich als unan­ge­mes­sen heraus­stel­len. Diese Tatsache beweist, daß die aris­to­te­li­sche Logik auf der Struktur des west­li­chen Sprachensystems beruht. Deshalb soll­ten wir den west­li­chen Logikern nicht dabei folgen, wenn sie behaup­ten, daß ihre Logik die univer­sale Regel für das mensch­li­che Denken sei.

Die chine­si­sche Sprache hat ihre Eigentümlichkeiten. Erstens ist es für einen chine­si­schen Satz nicht wesent­lich, ein Subjekt zu haben. Es versteht sich von selbst. In einem Satz wie: “Wenn wir es prüfen und bestän­dig erneut prüfen, ist es dann nicht ange­nehm?” oder “Wenn Wohltätigkeit ange­se­hen ist, dann gibt es kein Böses” fehlt das Subjekt. Solcher Art Beispiele lassen sich viele anfüh­ren. Die vorste­hen­den beiden sind den Spruchsammlungen entnommen.

Zweitens gibt es im Chinesischen kein Verb “sein”, das dem engli­schen oder deut­schen Ausdruck entspricht. Das “shih” der Umgangssprache kommt ohne die Vorstellung der Existenz aus. Das lite­ra­ri­sche “wei” vermit­telt ande­rer­seits eine Vorstellung von “ch’eng”, das “werden” bedeu­tet. Im Deutschen aber ist “werden” dem “sein” gera­dezu entge­gen­ge­setzt. Eine Formulierung wie “che yeh” bedeu­tet aber nichts Identisches; sie stellt daher keine logi­sche Aussage im west­li­chen Sinn dar. Wenn wir sagen “jen che jen yeh” (“Ein Mensch zu sein, ist mensch­lich”), dann können wir nicht sagen, daß das erste “jen” das Subjekt und das zweite “jen” (das mit ande­ren Begriffszeichen geschrie­ben wird) das Prädikat sei. Der Gedanke kann in einem solchen Satz nicht graphisch ausge­drückt werden.

Wie wir vorste­hend gese­hen haben, ist die west­li­che Logik im wesent­li­chen auf das Gesetz der Identität begrün­det. (Die Regeln des Widerspruchs und des ausge­schlos­se­nen Dritten sind nur Folgesätze des Identitätsgesetzes.) Auf ihr beru­hen Einteilung, Definition, Syllogismus (Vernunftschluss) und sogar Umkehrung und Widerspruch. Alle diese Begriffe stehen mitein­an­der in Beziehung und bilden ein System. Die grund­le­gende Struktur des Chinesischen unter­schei­det sich von diesem System. Das chine­si­sche System der Logik, wenn wir es über­haupt ein System nennen wollen, beruht nicht auf dem Gesetz der Identität. Wir wollen mit der west­li­chen logi­schen Einteilung begin­nen. Da sie auf dem Gesetz der Identität beruht, muß sie zwei­ge­teilt (dicho­to­mus) in solchen Formulierungen wie “A und Nicht‑A”, “Belletristik” und “Nicht-Belletristik”(Sachbücher), sein. Fälle wie “A und B” oder “Gut und Schlecht” sind der Form nach nicht zwei­ge­teilt, weil es neben A und B ein C geben kann und neben “gut” und “schlecht” “nicht-gut” und “nicht-schlecht” geben mag. Deshalb braucht man bei der Klassifizierung die Regel der Ausschließlichkeit.

Das chine­si­sche Denken aber legt keinen Nachdruck auf Ausschließlichkeit, sondern betont viel­mehr die Beziehungsqualität zwischen oben und unten, gut und schlecht, etwas und nichts. Alle diese Bezugspunkte (rela­ti­ves) werden als vonein­an­der abhän­gig gese­hen. In einem Satz wie “Etwas und nichts erzeu­gen sich gegen­sei­tig; das Schwierige und das Leichte ergän­zen sich gegen­sei­tig; das Lange und das Kurze sind wech­sel­sei­tig aufein­an­der bezo­gen; das Vorne und das Hinten beglei­ten sich wech­sel­sei­tig” haben wir eine Logik ganz ande­rer Art vor uns.

Man könnte sagen, daß der wich­tigste Begriff im alten China den “Himmel” (t’ien) betraf. Dabei bedeu­tet gemäß der Definition im Shuo Wen “t’ien” den “mensch­li­chen Kopf” oder dasje­nige, was über dem Kopf ist. Es liegt auf der Hand, daß dasje­nige, was über dem Kopf ist, nicht notwen­di­ger­weise der “Himmel” sein muß. Es mag vieles ande­res geben, wie Wolken, Wind, Mond, Vögel und was sonst noch. Diese indi­ka­tive Methode der Definition ist von der west­li­chen Denkweise ganz verschieden.

Beispiele für diese Art der Definition, so etwa “Ein Mensch zu sein, ist mensch­lich; korrekt sein, heißt entge­gen­kom­mend sein” sind bei den chine­si­schen Klassikern zu häufig, um hier erwähnt werden zu müssen. Hier genüge es, darauf hinzu­wei­sen, daß, abge­se­hen vom Unterschied zur west­li­chen Art der Definition, ein chine­si­scher Begriff durch einen ande­ren Ausdruck, der im Klang ähnlich und in der Bedeutung verwandt ist, erklärt oder erläu­tert werden kann. In der west­li­chen Logik ist es unvor­stell­bar, einen Begriff mittels ande­rer ähnlich klin­gen­der Begriffe zu erklä­ren. Denn die west­li­che Logik bemüht sich stets, sich von der Sprache zu lösen. Eine Erläuterung durch den Wortklang wäre bloß lingu­is­tisch; sie enthält keine logi­schen Folgerungen. Man kann sogar mit Sicherheit sagen, daß die alte chine­si­sche Literatur keine derar­tige Definitionsmethode kennt wie die, die sich im Westen vorfindet.

An dieser Stelle mag es ange­bracht sein, die chine­si­schen Schriftzeichen “fei” und “pu” zu bespre­chen. In einem deut­schen Satz wie “A ist Nicht‑B” oder “A ist nicht B” ist seine affir­ma­tive oder nega­tive Natur leicht bestimm­bar. Wenn man aber im Chinesischen sagt: “chia fei yi”, dann kann das entwe­der das erste oder das zweite bedeu­ten. Bei dieser einfa­chen Aussage ist der Unterschied einfach nicht zu erken­nen. Es ist aber klar, daß eine Umkehrung unnö­tig und ein Widerspruch unmög­lich ist. Dies Beispiel macht evident, daß das chine­si­sche Denken nicht in den Rahmen der west­li­chen Logik passt. Wir müssen ihm einen ande­ren Namen geben.

Ich möchte vorschla­gen, diese Art der Logik “Korrelationslogik” oder “Logik der korre­la­ti­ven Zweiheit” zu nennen. Diese Art der Logik beton die Bedeutung der Beziehung zwischen etwas und nichts, zwischen oben und unten und so weiter. Sie kommen deut­lich im “Buch der Wandlungen” (I Ging) zum Ausdruck. Obwohl moderne Archäologen das “Buch der Wandlungen” nicht als eins der ältes­ten Schriftdenkmäler aner­ken­nen, kann man nicht sagen, es enthielte nicht das tradi­tio­nelle chine­si­sche Denken. Hier tritt am meis­ten die Feststellung “i yin i yang chih wei tao” (Das posi­tive und das nega­tive Prinzip bilden, was Tao oder Natur genannt wird) hervor.

Mit “yang” oder dem posi­ti­ven Prinzip setzen wir das “yin” oder das nega­tive Prinzip voraus, und mit “yin” setzen wir das “yang” voraus. Jedes hängt vom ande­ren als seiner Ergänzung ab. Andere Beispiele wie “kang” und “jou”, “chin” und “t’ui” (gefühl­voll und phleg­ma­tisch, zuver­sicht­lich und resi­gniert, glück­lich und unglück­lich) entspre­chen dem genau. Wolllte man eine weit­ver­brei­tete Terminologie über­neh­men, dann könnte man diese Art zu denken “dialek­ti­sche Logik” nennen. Dieser Ausdruck ist jedoch allzu mehr­deu­tig. Seine histo­ri­schen Anwendungen gestat­ten nicht, sich seiner in diesem
Zusammenhang zu bedie­nen. Man wird sich mit der Feststellung begnü­gen müssen, daß die chine­si­schen Denkweisen von denen ganz verschie­den sind, die durch die Anwendung des Gesetzes der Identität gekenn­zeich­net sind.

Ohne die verwen­de­te­ten verschie­de­nen Begriffe zu defi­nie­ren, ist es im Westen unmög­lich, sich verständ­lich auszu­drü­cken. Die chine­si­sche Sprache jedoch, für die die Verwendung der Korrelations-Logik charak­te­ris­tisch ist, hat nichts mit der Identität zu tun. Sie verwen­det eher entge­gen­ge­setzte Begriffe, um einen Gedanken zu vervoll­stän­di­gen. Widerspruch als Ausdrucksmittel wird nicht nur in Aussagen verwen­det wie “tot, ohne zu ster­ben”, “ein großer, kaum hörba­rer Klang”, “das größte Zeichen, ohne sicht­bar zu sein”, “Gewaltlosigkeit bedeu­tet Stärke”, “die flüs­sige Rede scheint zu stot­tern”, sondern der Widerspruch wird auch verwen­det, um einen einzel­nen Begriff zu kennzeichnen.

Im Shou Wen bedeu­tet zum Beispiel “heraus­ge­hend” auch “hinein­ge­hend”, und “Unordnung” bedeu­tet auch “Ordnung”. In solchen Fällen wird besser nicht ange­nom­men, daß das Wort entge­gen­ge­setzte Bedeutungen habe. Denn die Bedeutung des Wortes und nicht das Wort selbst ist es, die auf das Gegenteil für die voll­stän­dige Erläuterung des Begriffes ange­wie­sen ist. Zum Beispiel wird “ch’u” (heraus­ge­hend) durch “chin” (herein­kom­mend) ergänzt. Ohne “chin” kann es kein “ch’u” geben. Von ähnli­cher Art sind weitere Beispiele wie “luan” (Unordnung) und “chih” (Ordnung), ferner “kung” (Abgabe) und “tz’u” (Zuwendung).

Ebenso wird das Wort “verkau­fen” mittels seines Gegenteils “kaufen” erläu­tert. “Verkaufen” und “kaufen” werden im Gegensatz zuein­an­der klarer, weil kaufen und verkau­fen dieselbe Handlung bilden, wenn sie vom verschie­de­nen Standpunkt des Käufers und des Verkäufers aus gese­hen werden. Hieraus wird ersicht­lich, daß das chine­si­sche Denken nicht auf dem Gesetz der Identität beruht, sondern eine rela­tive Orientierung oder besser die Beziehung der Gegensätze zum Ausgangspunkt nimmt.

Diese Art zu denken stellt offen­sicht­lich ein anders­ar­ti­ges Denksystem dar. Es steht wahr­schein­lich mit dem System der chine­si­schen Schriftzeichen in Beziehung. Ihrer bild­haf­ten (ideo­gra­phi­schen) Natur entspre­chend beto­nen die chine­si­schen Bildzeichen die Zeichen oder Symbole der Dinge. Chinesen sind nur an den Wechselbeziehungen der verschie­de­nen Zeichen inter­es­siert, ohne sich um die Dinge oder Vorgänge zu kümmern, die den Zeichen zugrunde liegen. Daher die rela­tio­nale oder korre­la­tio­nale Betrachtungsweise.

Die ideo­gra­phi­sche Natur der chine­si­schen Bildzeichen beein­flußt nicht nur die Struktur der chine­si­schen Sprache, sondern ebenso das Denken oder die Weltanschauung des Volkes. Das “Buch der Wandlungen” mag als das beste Beispiel hier­für genannt werden. Sehr wahr­schein­lich wurden Wörter ursprüng­lich als Symbole für Zeichen geprägt. So hieß es: “Der Weise legte Diagramme (kua), um die Bedeutung eines Zeichens (hsiang) zu erken­nen.” Obwohl nicht ganz berech­tigt, wäre zu sagen, daß die ursprüng­li­chen Schriftzeichen Diagramme waren. Kann man doch anneh­men, daß sie den heuti­gen chine­si­schen Schriftzeichen zumin­dest ähnlich gewe­sen sind.

Die Erfindung von Diagrammen diente dem Zweck der Weissagung. Dabei müssen vorher fest­ge­legte Grenzen für mögli­che Kombinationen zu Weissagungszwecken bestan­den haben. Jede Kombination ist ein mögli­ches Zeichen. “Der Himmel deutet gutes und schlech­tes Geschick durch Zeichen an, die von den Weisen gedeu­tet wurden.” Die “Weisen” müssen solche Helden der Kulturgeschichte gewe­sen sein wie PAO HSI SHIH, denen die Entdeckung der Diagramme zuge­schrie­ben wurden. Es mag erwähnt werden, daß die Zeichen nicht nur etwas Äußerliches bezeich­nen, sondern auch mögli­che Veränderungen anzeig­ten. Zum Beispiel wurden aus dem yi-Diagramm Geräte für den Ackerbau entwi­ckelt, und aus dem li-Diagramm wurde die Erfindung der Fischernetze abge­lei­tet. Mit Recht hat Dr. HU SHIH gesagt: “Konfuzius war der Meinung, daß mit der Entstehung der Zeichen die Dinge kommen. Die Zeichen sind die uranfäng­li­chen Archetypen,
nach denen die Dinge geformt wurden.”

Nach altem chine­si­schen Denken kamen zunächst die Zeichen und dann die Entwicklung der Dinge. Diese Annahme unter­schei­det sich völlig von der des Westens. Obwohl die plato­ni­schen Ideen mit ihr eine ober­fläch­li­che Ähnlichkeit haben, muß daran erin­nert werden, daß PLATOs “Ideen” eine eigene Existenz hatten, was im Falle der acht Diagramme nicht zutrifft.

Wie wir gese­hen haben, ist das west­li­che Denken konse­quent auf den Begriff der “Materie” begrün­det. Infolgedessen wir ein Substrat benö­tigt. Das Endergebnis dieser Denkrichtung läßt die Vorstellung einer “reinen Materie” aufkom­men. Für die west­li­che Philosophie ist es charak­te­ris­tisch, einer Sache auf den Grund zu gehen. Dagegen liegt das Charakteristikum des chine­si­schen Denkens in der ausschließ­li­chen Aufmerksamkeit für die sich gegen­sei­tig bedin­gen­den Implikationen verschie­de­ner Zeichen z.B. wie “yin” und “yang”.

Infolge dieser Tatsache gibt es im chine­si­schen Denken auch keine Spur der Vorstellung einer “Materie”. Im chine­si­schen gibt es kein solches Wort wie “Substanz”. Solche Worte wie “t’i” (Körper) und “yung” (Funktion), “neng” (wissend) und “so” (bekannt), die die Funktion haben, Subjekt und Objekt anzu­ge­ben, stam­men aus den Übersetzungen buddhis­ti­scher Schriften. Den chine­si­schen Verstand inter­es­siert es nicht, ob es irgen ein letz­tes Substrat gibt, das den Dingen zugrunde liegt.

Weil die chine­si­schen Bildzeichen ideo­gra­phisch sind, nimmt das chine­si­sche Denken nur die Zeichen und die Beziehungen zwischen ihnen zur Kenntnis. Es wird nunmehr klar gewor­den sein, daß es nicht nur enge Beziehungen zwischen Logik und Sprache gibt, sondern auch, daß ein logi­sches System eine Philosophie, d.h. Kosmologie und Lebensphilosophie, voraus­set­zen muß. Man könnte die chine­si­sche Kosmologie “Zeichenbedeutungslehre” (Signifizismus) oder “Vorbedeutungslehre” (Omenismus) nennen.

Das chine­si­sche Schriftzeichen hsiang, welches wir mit “Zeichen” (sign) über­setz­ten, hat alle Bedeutungen von Begriffen wie Phänomen, Symbol und Omen. Dabei muß aber vermerkt werden, daß hinter dem “hsiang” nichts Konkretes vorge­stellt wird. Seine Bedeutung betrifft nur mensch­li­che Angelegenheiten. Somit dient ein Zeichen dem Zweck, dem Volk Lehren zu ertei­len. So wurden alle Himmelsphänomene, wie Sterne und Kometen, als schlechte Vorzeichen behandelt.

Die chine­si­sche Weltschöpfungslehre, für die Weissagungen charak­te­ris­tisch sind, ist im Grunde ein prak­ti­scher Leitfaden für das mensch­li­che Leben. Auch in diesem Punkt unter­schei­det sich die chine­si­sche Weltschöpfungslehre von west­li­chen Auffassungen. Es mag stim­men, daß in der west­li­chen Philosophie die Kosmologie eine Vorstufe für die Lebensphilosophie ist. Beide sind aber vonein­an­der klar unter­schie­den. Das chine­si­sche Denken macht im Gegensatz dazu keinen Unterschied zwischen dem Kosmos und all den Problemen des mensch­li­chen Lebens.

Das chine­si­sche reli­giöse Leben ist von dem der Griechen nicht sehr verschie­den. Doch waren die reli­giö­sen Vorstellungen in China nicht mit den Gebetsriten und der Errichtung von öffent­li­chen Tempeln verknüpft. Es ist nicht sicher, ob es irgend­wel­che Götter gab, bevor der Begriff des Himmels aufkam. Die Chinesen waren niemals in erster Linie am Himmel und an Gott inter­es­siert. Wenn Chinesen vom Himmel spre­chen, dann meinen sie die Vorsehung, die nur eine Manifestation des Himmels ist. Mit ande­ren Worten, die Chinesen sind mit dem Willen des Himmels beschäf­tigt, ohne sich beson­ders um den
Himmel selbst zu kümmern. Denn nach chine­si­scher Auffassung ist der Wille des Himmels der Wille selbst.

Es ist in China logisch undenk­bar, den Himmel zu erfor­schen, ohne auf seinen Willen acht­zu­ge­ben. Der Himmel und der Wille des Himmels sind ein und dasselbe. Es gibt nicht erst den Himmel und dann die Manifestation seines Willen. Weil der Himmel und sein Wille iden­tisch sind, haben die Chinesen den Himmel niemals als ein Wesen ange­se­hen. Und solange er kein Wesen ist, hat er keine Substanz. So hat der chine­si­sche Himmel nicht die geringste Beziehung zum west­li­chen Substanzbegriff. Durch die Weissagungen wird der Abgrund zwischen dem Menschen und dem Himmel über­brückt. Die Chinesen sind nur daran inter­es­siert, den Willen des Himmels zu erfah­ren, um ein güns­ti­ges Schicksal zu suchen und Unglück zu vermei­den. Die Natur des Himmels ist ihnen gleich­gül­tig. Dies zeigt, daß die Chinesen bei der Vorstellung des Himmels nicht die Kategorie der Materie anwen­den. Sie halten den Himmel nicht für den letz­ten Stoff des Universums.

Ein weite­rer inter­es­san­ter Punkt ist die Tatsache, daß die meis­ten Aussagen im “Shang Su” über den Willen des Himmels ausschließ­lich die Übertragung der poli­ti­schen Macht an verschie­dene Dynastien oder von einer Dynastie auf eine andere betref­fen. Politische Macht wurde in China auf zwei Weisen über­tra­gen: durch Erbfolge und durch Revolution. Wenn die Regeln der Erbfolge mißbraucht wurden, gab es Revolutionen. Im Falle der erbli­chen Übertragung gab es keine Unruhen. Für eine Revolution mußte es eine Rechtfertigung geben; diese Rechtfertigung war der Wille des Himmels.

Eine solche revo­lu­tio­näre Übertragung hatte große poli­ti­sche und soziale Folgen. Daß diese dem Willen des Himmels zuge­schrie­ben wurde, beweist die Annahme, daß alle großen Wandlungen jenseits der Einflußsphäre des Menschen lagen. Der Wille des Himmels tut sich demnach nur im poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Leben kund. Im Westen ist dies genau umge­kehrt. Dort wurde der Begriff der Materie als Grundlage dafür genom­men, daß der Nachdruck auf dem reli­giö­sen Denken lag.

Diese zwei Arten des Denkens — die chine­si­sche und die euro­päi­sche — unter­schei­den sich nicht nur in ihren Kategorien und in ihren logi­schen Grundregeln, sondern auch in ihren Einstellungen. Wird nach irgend etwas gefragt, dann ist es für die west­li­che Mentalität charak­te­ris­tisch zu fragen: “Was ist es?” und danach “Wie sollte man darauf reagie­ren?” Die chine­si­sche Mentalität betont aber nicht das “Was”, sondern viel­mehr das “Wie”. Westliches Denken wird durch die Einstellung der “Priorität des Was” und die chine­si­sche Einstellung durch die “Priorität des Wie” gekennzeichnet.

Mit ande­ren Worten: Im Westen benutzt man das “Was”, um das “Wie” zu verkör­pern und zu erfas­sen. Das “Wie” soll durch das “Was” bestimmt werden. Die Chinesen dage­gen benut­zen das “Wie”, um daraus das “Was” zu folgern. Der “Was-Typ” des Denkens konnte sich über die Religion zur Naturwissenschaft entwi­ckeln. Dies ist eins der Charakteristika des natur­wis­sen­schaft­li­chen Denkens. Der Typ des Denkens, der durch das “Wie” charak­te­ri­siert wird, kann sich nur im gesellschaftlich-politischen Denken und in der Lebensphilosophie, beson­ders im Zusammenhang mit den Problemen der Ethik, entwi­ckeln. Die Vernachlässigung des “Was” in China ist die Ursache für die Vernachlässigung oder das Fehlen einer Erkenntnistheorie in China.

Das chine­si­sche und das west­li­che Denken unter­schei­den sich auch in der Frage der Schlußfolgerungen. Der auf dem Gesetz der Identität beru­hende Syllogismus (Vernunftschluss) ist die Form der Folgerung in der west­li­chen Logik, während die Chinesen die Analogie anstelle der Folgerung verwen­den. Die Formulierung “jen che jen yeh” ist für analo­gi­sches Denken typisch. Andere Beispiele aus Mencius betref­fen die Sache genauer, zum Beispiel: “Die Güte der mensch­li­chen Natur ist wie die Neigung des Wassers, herab­zu­flie­ßen” und “Bedeutet Leben nicht Natur, ebenso wie weiß weiß bedeu­tet? Bedeutet nicht die Weißheit einer Feder die Weißheit von weißem Schnee, und meint nicht die Weißheit des Schnees die Weißheit des Jadegesteins? … wenn dem so ist, ist dann die Natur des Hundes nicht der des Menschen ähnlich?” Solche Beispiele aus Mencius sind allzu zahl­reich, um weitere anzuführen.

I.A. RICHARDS in seinem Buch “Mencius on the mind” stellt diese Art des Argumentierens der west­li­chen Art gegen­über. Erstere mag die “Logik der Analogie” genannt werden. Diese Logik, die in natur­wis­sen­schaft­li­chem Denken nicht ange­mes­sen verwen­det werden kann, wird tatsäch­lich weit­ge­hend in der gesell­schaft­li­chen Argumentation verwen­det. Analogische Beweisführung ist ein Charakteristikum poli­ti­schen Denkens.

Die Art des Denkens, die vorzugs­weise an Politik inter­es­siert ist, mag eben­falls einige Beziehungen zur Sprachen haben. So trat KONFUZIUS, für die “Richtigstellung der Namen” ( cheng ming) ein, nicht aus Gründen der Logik, sondern weil er darin ein Mittel sah, um die Ordnung der Gesellschaft aufrecht zu erhal­ten. Daher der Spruch: “Sind die Begriffe nicht genau, ist die Sprache nicht in Einklang mit der Wahrheit der Dinge. Ist die Sprache nicht in Einklang mit der Wahrheit der Dinge, können die Dinge nicht zum Erfolg geführt werden. Können die Dinge nicht zum Erfolg geführt werden, dann werden die Sitten und die Musik nicht blühen.”

Die Funktion der “Richtigstellung der Begriffe” liegt in der Unterscheidung dessen, was oben und was unten ist, in der Bestimmung dessen, was über­le­gen und was unter­le­gen ist, und in der Unterscheidung zwischen gut und schlecht. Ihr Ziel sind vor allem die mensch­li­chen Angelegenheiten. Zum Beispiel wird die Tötung eines Königs Mord oder “shih” genannt; damit kommt zum Ausdruck, daß der Übergeordnete durch den Untergeordneten verletzt wird. Die Tötung eines Untergeordneten durch einen Übergeordneten wird Hinrichtung oder “chan” genannt; dadurch kommt zum Ausdruck, daß der Hingerichtete gemäß dem Gesetz gerech­ter­weise bestraft wurde.

Wenn der Kaiser reist, wird dies hsing oder “Ehre erwei­sen” genannt. Direkt kommen wird kuei genannt. Von den loka­len Bezirken zur Zentralregierung reisen, ist “herauf­ge­hen” oder shang wie im Ausdruck “nach Westen hinauf­ge­hen” und “nach Norden hinauf­ge­hen”. Und von der zentra­len Regierung nach den örtli­chen Bezirken reisen ist “hinab­ge­hen” oder hsia, etwa wie in “nach Sibirien hinab­ge­hen”, “nach Osten hinab­ge­hen”. Es gibt ähnli­che Unterscheidungen im Deutschen, wie sich schon aus diesen Beispielen erse­hen läßt, aber ihr Nachdruck ist nicht so offen­sicht­lich und systematisch.

Weitere Beispiele mögen beim Vergleich mit des west­li­chen gram­ma­ti­schen Abwandlungen gefun­den werden. Nehmen wir zum Beispiel das deut­sche Wort “Sinn”. Seine Abwandlungen können folgende Formen anneh­men: Sinne, sinn­lich, Sinnhaftigkeit, sinnie­ren, besinn­lich, hoch­ge­sinnt, sinn­voll, unsin­nig, sinn­los, hinter­sin­nig. Alle diese Abwandlungen stam­men aus dersel­ben Wurzel. Wegen des Gebrauchs der Beugungen, der Fälle oder ande­rer gram­ma­ti­scher Formen ist die “Form” im west­li­chen Denken ein wesent­li­ches Element. Trotz der Tatsache, daß die aris­to­te­li­sche Idee der “Form” sich von der “Form” BACONs unter­schei­den mag und Bacons “Form” sich von der “Form” KANTs, läßt sich dennoch fest­stel­len, daß es zwischen all diesen etwas Grundlegendes und Uniformes gibt, daß nämlich der Nachdruck auf die Idee, die Vorstellung oder die “Form“gelegt wird.

Die chine­si­schen Bildzeichen sind ideo­gra­phisch; obgleich sie Stämme (radi­cals) oder “p’ien p’ang” besit­zen, haben sie keine Wurzeln. Die Stämme werden bloß zum Zwecke der Klassifikation verwen­det. So gehö­ren bestimmte Worte nur zum Bereich des Wassers, andere nur zum Pflanzenreich. Immer, wenn ein neuer Gedanke aufkommt, muß ein neues Wort erfun­den werden, ein neues Wort, das nicht nur aus einer Wurzel abge­lei­tet ist. Die chine­si­schen Schriftzeichen unter­lie­gen nicht gram­ma­ti­schen Veränderungen. Es gibt keine Beugung, Deklination oder Konjugation.

Die Bildung neuer Worte muß auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zurück­ge­hen. Die häufigs­ten Begriffe im Chinesischen stam­men aus zwei Bereichen: der eine ist die Verwandtschaft, zum Beispiel “po” oder “Vaters älte­rer Bruder”, “shu” oder “Vaters jünge­rer Bruder”. Der andere Bereich ist die Ethik, zum Beispiel “chung” oder Ergebenheit, “hsiao” oder kind­li­che Ehrfurcht, “lien” oder Mäßigkeit im Nehmen und “chien” oder Mäßigkeit im Geben. Alle diese feinen Schattierungen der chine­si­schen Terminologie können in solchen deut­schen Ausdrücken wie Brüder, Onkel, Vettern, Mäßigkeit zusam­men­ge­wor­fen werden. Im Westen ist ein solches zusam­men­wer­fen gerecht­fer­tigt. In China aber müssen alle diese Unterscheidungen infolge ihrer sozia­len Bedeutung beibe­hal­ten werden. Solche feinen Unterscheidungen in der chine­si­schen Begriffsbildung sind der “Richtigstellung der Namen” zuzuschreiben.

Die an der Politik inter­es­sierte Denkweise stuft den Wert der Korrelationslogik höher ein. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß bei gesell­schaft­li­chen Phänomenen alles in Begriffen von Beziehungen aufge­faßt werden kann, etwa wie männ­lich und weib­lich, Mann und Frau, Vater und Sohn, Herrscher und Untertan, Zivilist und Militär und so weiter. Es ist nur ein klei­ner Schritt von diesem Bereich zum Bereich des Kosmos.

Man sagt zum Beispiel: “Da der Himmel über­ge­ord­net und die Erde unter­ge­ord­net ist, ist das Universum bestimmt.” Darüber hinaus können kosmo­lo­gi­sche Ereignisse poli­ti­sche Folgen haben. Aus den posi­ti­ven und aus den nega­ti­ven Prinzipien des Kosmos lassen sich die Prinzipien der Entwicklung und der Rückbildung ablei­ten, die dem Universum und den mensch­li­chen Angelegenheiten zugrunde liegen. Sie wurden schließ­lich zu Begriffen wie gerechte Herrschaft oder poli­ti­sche Unordnung weiter­ent­wi­ckelt. Es mag daran erin­nert werden, daß diese Art zu denken für das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Denken charak­te­ris­tisch ist.

Sogar hier besteht jedoch ein Unterschied zwischen China und dem Westen. Es trifft zu, daß der Marxismus das Gesetz der Identität aufge­ge­ben hat und das Gesetz des Widerspruchs im Denken befür­wor­tet. Denn der Marxismus ist im wesent­li­chen eine Philosophie, die sich mit poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Vorgängen befaßt. Er unter­schei­det sich jedoch vom chine­si­schen Denken dadurch, daß er den Nachdruck auf Widerspruch und damit Klassenkampf legt, während das chine­si­sche Denken den Nachdruck auf das Ergebnis oder die Überwindung solchen Widerspruchs legt.

LITERATUR, Chang Tung-Sun, Chinesen denken anders in “Wort und Wirklichkeit”, Beiträge zur Allgemeinen Semantik, Hrsg. Günther Schwarz, Darmstadt 1968

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