Das Vergessen ist in der Wirklichkeit, kann also keine bloße Negation sein. Daß es eine Tätigkeit ist, wird uns bewußt, wenn wir etwas verges­sen wollen und uns die Ausführung unse­rer Absicht mühe­voll oder unmög­lich wird.”

Was wir also recht mensch­lich den Grundfehler des Gedächtnisses genannt haben, das ist sein Wesen. Es über­sieht den Unterschied zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit. Es merkt fehler­haft, es merkt falsch. Und ohne diesen wesen­haf­ten Fehler gäbe es in der orga­ni­schen Welt keine Entwicklung, in der Geisteswelt keine Begriffe oder Worte. Aber das Gedächtnis ist auch wesent­lich untreu. Das Gedächtnis wäre uner­träg­lich, wenn wir nicht verges­sen könn­ten. Und die Worte oder Begriffe, die erst durch das falsche Gedächtnis entstan­den sind, wären für den Alltagsgebrauch unge­eig­net, ohne die Eigenschaft des Gedächtnisses: untreu zu sein. Es trifft sich nur gut, daß alle diese (mensch­lich gespro­chen) Fehler des Gedächtnisses im Interesse des mensch­li­chen Organismus liegen. Wir könn­ten weder leben noch denken, wenn wir nicht verges­sen könnten.

Man vergißt, was einen nicht inter­es­siert. “Darum ist auch die ganze Gedächtniskunst eigent­lich in der einen Regel enthal­ten: Interessiere dich! und soweit mnemo­tech­ni­sche Anweisungen einen Erfolg haben, kommen sie alle darauf hinaus, daß, woge­gen wir gleich­gül­tig sind, mit solchem vertauscht oder verbun­den werde, was uns mehr am Herzen liegt.” J. E. ERDMANN, dessen Rede über das Vergessen hier zitiert wird, hat auch hübsch darauf aufmerk­sam gemacht, daß wir uns nur darum schä­men, wenn wir einen alten Bekannten nicht wieder erkannt haben; es muß ihn verlet­zen, daß wir so wenig Interesse für ihn hatten, daß er durch lebhaf­tere Interessen aus unse­rem Gedächtnisse verdrängt werden konnte. Ebenso fühlen wir uns verletzt, wenn eine geliebte Person einen unse­rer Wünsche verges­sen, also gerin­ges Interesse für uns bewie­sen hat.

Der sprach­li­che Ausdruck verges­sen ist unge­nü­gend, weil er die verschie­de­nen Arten des Vergessens nicht unter­schei­den läßt und weil er einen nega­ti­ven Charakter trägt. Erinnern deutet auf ein Behalten hin , verges­sen auf ein Verlieren; das ist schon etymo­lo­gisch begrün­det, wie denn to get noch heute im Englischen so viel wie erlan­gen heißt. Wie es jedoch eine Mechanik des Gedächtnisses gibt, wenn wir sie auch nicht beschrei­ben können, so muß es auch eine Mechanik des Vergessens geben; denn das Vergessen ist in der Wirklichkeit, kann also keine bloße Negation sein. Daß es eine Tätigkeit ist, wird uns bewußt, wenn wir etwas verges­sen wollen und uns die Ausführung unse­rer Absicht mühe­voll oder unmög­lich wird. Hat uns eigene Schuld oder Verrat des Liebsten die Lebensfreude genom­men, so kann es eine Angelegenheit von der äußers­ten Wichtigkeit für uns werden, ob wir die eigene, die fremde Schuld verges­sen können oder nicht. Gelingt es zu verges­sen, so liegt darin eine Wollust, die sicher­lich nicht von etwas Negativem ausge­hen konnte. Der fromme Katholik mag so etwas empfin­den, wenn er absol­viert wird. Und sehr schön hat JAKOB BÖHME die absol­vierte Schuld mit dem Holzscheite im Kamin vergli­chen, weil beide unser Wohlsein stei­gern, indem sie zerstört und verzehrt werden. Auch das Verbrennen des Holzscheits ist dem sprach­li­chen Ausdrucke nach eine Negation; wir wissen aber seit hundert Jahren, daß das Verbrennen ein sehr posi­ti­ver Vorgang ist, an welchem sich die Erhaltung der Energie am aller­bes­ten nach­wei­sen läßt. Gäbe es ein Vergessen als reine Negation, so wäre das Gesetz der Erhaltung der Energie für unser geis­ti­ges Leben nicht vorhanden.

Die aufbe­wah­rende und die entfer­nende Tätigkeit des Gedächtnisses, das Behalten und das Vergessen, insbe­son­dere der aktive Charakter des Vergessens wird uns verständ­li­cher werden, wenn wir alle diese geis­tige Arbeit mit einer sehr bekann­ten vege­ta­ti­ven Arbeit des Leibes verglei­chen. Hat doch auch die Ernährung der Tiere eine aufneh­mende Seite und eine entfer­nende, wenn schon die letzte frei­lich nicht mit einem nega­ti­ven Worte ausge­drückt wird. Das sehr posi­tive Wort für die entfer­nende Tätigkeit asso­zi­iert sich mit so unan­ge­neh­men Nebeneindrücken, daß es darüber in Verruf gekom­men ist, in “Verschiß”, wie die Studenten sagen. Der Arzt sogar, wenn er Bescheid haben will über die Entfernung der Nahrungsreste, fragt euphe­mis­tisch nach der Verdauung. Verdauung bezeich­net aber gerade dieje­nige Tätigkeit der Organe, bei welcher zwischen den aufzu­neh­men­den und den zu entfer­nen­den Stoffen unter­schie­den wird (“schei­ßen” etym. wohl aus “schei­den”). Was der Verdauung, zeit­lich und räum­lich, vorher­geht, ist chemi­sche Aufbereitung des Stoffes; was der Verdauung folgt, ist fast mecha­nisch. Die Tätigkeit der eigent­li­chen Organe der Verdauung ist wie beim Auslesen von Erbsen oder Linsen immer Tätigkeit, ob nun die guten Körperchen heran­ge­scho­ben oder die schlech­ten Körperchen fort­ge­scho­ben werden.

Und wie der tieri­sche Organismus zu Grunde gehen müßte, wenn er keine gesunde Verdauung hätte, wenn er nicht den größ­ten Teil der Nahrungsmittel wieder entfer­nen könnte, so müßte das mensch­li­che Denken oder das Gedächtnis zu Grunde gehen, wenn es nicht verges­sen könnte. Für die Sprache, deren Identität mit dem Gedächtnis er frei­lich trotz­dem nicht erfaßt hat, spricht das KARL OTTO ERDMANN sehr hübsch aus am Ende seiner lesens­wer­ten Schrift über “Die Bedeutung des Wortes”. Er sagt da, nach­dem er ganz rich­tig den gedan­ken­lo­sen Wortgebrauch als den norma­len hinge­stellt hat:
“Daß wir die. Kunst des Vergessens auf sprach­li­chem Gebiete so gewandt betrei­ben, daß es uns so leich fällt vom ursprüng­li­chen Wortsinn abzu­se­hen und einen gedan­ken­lo­sen Sprachgebrauch zu üben, das ist nichts weni­ger als ein Mangel des mensch­li­chen Geistes; es ist viel­mehr eine wert­volle Eigenschaft, auf der die Möglichkeit der Sprachentwicklung beruht.“
Nicht nur die Möglichkeit der Sprachentwicklung. Der Satz gilt für die Psychologie des Einzelnen wie für die Völkerpsychologie. Der Einzelne könnte seine Muttersprache gar nicht flie­ßend spre­chen, er müßte stocken und verstum­men, wenn ihm der Bedeutungswandel jedes Wortes in jedem Augenblick voll zum Bewußtsein käme. Der Einzelne ist schon ein Sprachgewaltiger oder ein Dichter, wenn ihm nur die Gefühlswerte der Worte, die aus ihrer Geschichte stam­men, immer gegen­wär­tig sind. Wer als Redner oder Improvisator glän­zen will, der darf sich nicht um die Prägnanz der Worte und nicht um ihre Gefühlswerte kümmern, er muß sie gedan­ken­los verwen­den. Wenn ich einen Vortrag über den Darwinismus halten wollte und darüber, daß DARWIN angeb­lich die Teleologie oder die Zwecklehre aus der Welt geschafft habe, so würde ich beim ersten Vorkommen des Wortes “Zweck” (um ein treff­li­ches Beispiel KARL OTTO ERDMANNs fort­zu­füh­ren) durch die Überfülle der Beziehungen zum Stocken gebracht werden. “Zweck” als Endursache einer Handlung, und “Zweck” als Stiefelnagel oder Schuhzweck ist nicht nur dem Klange nach dasselbe Wort. “Zweck” bedeu­tet ursprüng­lich einen Holznagel oder einen Holzpflock, also auch den Holzpflock in der Mitte der Zielscheibe. So noch im Mittelhochdeutschen. Ich habe das Wort “Plöckchen” im Sinne von Zielpunkt noch bei THOMASIUS gefun­den. Das fran­zö­si­sche but hat den glei­chen Bedeutungswandel durch­ge­macht; es kommt viel­leicht mit dem italie­ni­schen bozza, dem Buckel im Schilde, vom deut­schen “Butze”.

Telos in Teleologie ist durch einen ande­ren Zufall des Bedeutungswandel aus einer konkre­te­ren Bedeutung zu der des Zieles und der Vollendung, des Erfolges, des Sieges gekom­men. Zweck und telos, Zwecklehre und Teleologie werden also zwar als synonyme Ausdrücke gebraucht, decken einan­der aber nicht genau. Im deut­schen Worte liegt mehr Absichtlichkeit eines handeln­den Menschen als im grie­chi­schen. Und beide Worte haben den Nebensinn nicht immer gehabt, den wir verächt­lich in sie hinein­le­gen, seit­dem wir diesen Nebensinn bekämp­fen. DARWIN selbst gebraucht die glei­chen Begriffe mitun­ter und glaubt dabei den Nebensinn vermei­den zu können. Müßte ich nicht erst DARWINs Sprachgebrauch in diesem Falle analy­sie­ren, den gemei­nen Sprachgebrauch defi­nie­ren und meinen eige­nen Sprachgebrauch erklä­ren, bevor ich ein Recht hätte, das Wort Zweck in diesem Zusammenhange zu gebrau­chen? Das wäre ein langes Nachdenken bis zum nächs­ten Worte.

Wie in diesem Falle, so müßte in unzäh­li­gen ande­ren gerade der kennt­nis­rei­che und denkende Mensch auf die Rede verzich­ten, weil er den Wald vor lauter Bäumen nicht sähe und den Baum nicht vor lauter Planzenphysiologie. Und wie der Einzelne beim Gebrauche der Sprachworte von allen Tätigkeiten seines Gedächtnisses keine so sehr einge­übt hat wie die des Vergessens, so war auf dem Felde der Völkerpsychologie die Entwicklung der Sprache nur dadurch möglich, daß auch zwischen den Menschen die alte Bedeutung des Wortes der neuen Platz machte, also in unzäh­li­gen Fällen einfach verges­sen wurde. Der kennt­nis­rei­che und denkende Mensch hat jetzt wieder die Geschichte des Wortes Zweck beisam­men in seinem Einzelgehirn und muß diese Geschichte beim bana­len Gebrauch des Wortes indi­vi­du­ell verges­sen; entstan­den ist aber diese Wortgeschichte der Gemeinsprache zwischen den Menschen durch etap­pen­wei­ses Vergessen jedes einzel­nen Entwicklungsgliedes. Das gilt für die konkre­tes­ten Ausdrücke wie für die abstrak­tes­ten. Bei den abstrak­ten Ausdrücken ist es aber fast lustig, daß die oft ange­staunte Tätigkeit der Vernunft, eben die Abstraktion, nichts weiter ist als Vergessen, als ein Ausscheiden oder Entfernen von verdau­ten Empfindungen.

Ich habe schon gesagt, daß das Gedächtnis an den Knotenpunkten seiner Gleise, dort, wo es einen Stoß bekommt, wo eine “Hemmung” eintritt, zur Sprache, zum Bewußtsein wird. Das Geheimnis des Gedächtnisses wäre damit sogar schon enthüllt, wenn es eben möglich wäre, diesen furcht­ba­ren Gedanken ohne Rückstand in Worte zu klei­den. Das geht aber ja darum gerade nicht, weil das Bewußtsein sich nicht einstellt auf glat­ter Bahn. Es geht mir bei diesen schlim­men Ahnungen beinahe wie dem Pferde, dem das Fressen abge­wöhnt werden sollte. Es stirbt gerade in der Zeit, wo es sich das Fressen beinahe abge­wöhnt hatte. Ich weiß, warum die Sprache ihren Dienst versagt; aber sie versagt ihn trotzdem.

Diese Eigenschaft des Gedächtnisses, daß es — um es annä­hernd auszu­drü­cken — auf glat­ten Gleisen schläft (wie der Müller beim Klappern der Mühle), bei jeder Entgleisung jedoch zu sich, zum Bewußtsein kommt, — diese Eigenschaft erklärt aufs einfachste das Unbewußte im Gedankenwachstum, oder in der Begriffsbildung, in den soge­nann­ten unbe­wuß­ten Apperzeptionen, dem schwe­ren Kreuz der Psychologen.

Dieses Kreuz wäre frei­lich nie so schwer gewor­den, wenn die Herren nicht aus der Mathematik und Logik den Satz von der Identität glei­cher Größen herüber­ge­nom­men hätten, trotz­dem der Satz in der Mathematik nur eine Hilfsannahme, in der Logik eine Tautologie ist.

Aber in der Psychologie, das heißt im Denken, in unse­ren Begriffen gibt es ja keine zwei glei­chen Größen. Jede Begriffsbildung ist ja ein Schweben, ein Verschwimmen. Es gibt keine glei­chen Bäume, es gibt keine glei­chen Blätter, von denen die Begriffe oder Worte “Baum”, Blatt” übrig geblie­ben (abstra­hiert) wären. Das nehme ich endlich als sicher an.

Tritt nun zu einem Begriff (der in unse­rem Sprachschatz ist) ein neuer Eindruck, so sind zwei Fälle möglich.

Entweder die Ähnlichkeit ist (subjek­tiv) so groß, daß die Bahn glatt abge­lau­fen wird, daß wir gedan­ken­los das alte Wort anwen­den, das Ding “wieder­erken­nen”; dann gibt es die soge­nannte unbe­wußte Apperzeption. Wir erbli­cken einen Baum und sagen gedan­ken­los “Baum”. Der Unterschied ist (subjek­tiv, für unser Interesse) so gering, daß wir einfach schwat­zend den Sprachschatz anwen­den. Ebenso, wenn wir dem Herrn A oder B begeg­nen und sagen Herr A oder B.

Wir beja­hen im strengs­ten Falle eine Frage nach der Identität. Und es ist eine rich­tige Sprachbeobachtung STEINTHALs, daß in jeder Bejahung oder Verneinung ursprüng­lich (jetzt noch bei ganz klei­nen Kindern) ein Willensakt steckt. SPINOZA hat diese Lehre schon philo­so­phisch entwi­ckelt und dazu sogar den ganz para­do­xen Satz aufge­stellt: “Der Wille und der Verstand sind ein und dasselbe.” Alle guten Bekämpfer der forma­len Logik haben das bei ihrer Lehre vom Urteil eigent­lich aner­kannt. KANT und die Engländer, wenn sie das Urteil “eine Handlung”, “an act” nennen; LIEBMANN und BRENTANO, wenn sie das Urteil von der Assoziation tren­nen, auf die “Intention” hinwei­sen. Besonders scharf hat JERUSALEM die Frage behan­delt. Wir können im ersten Falle, dem der unbe­wuß­ten Apperzeption, also auch cum grano salis von einem unbe­wuß­ten Willen reden.

Oder aber die Ähnlichkeit des Neuen mit dem Begriff ist (subjek­tiv) gerin­ger, unser Gedächtnis entgleist, die Erinnerung kommt zu Bewußtsein: wir erken­nen nicht sofort wieder; dann weckt uns das Stolpern und wir berei­chern den Begriff um eben den klei­nen Unterschied, an dem wir uns gesto­ßen haben. Wie denn auch der Schlittschuhläufer oder Reiter mit jedem Sturz das Gedächtnis der respek­ti­ven Muskeln, ihre Übung, also seine Übung, berei­chert und durch Stolpern lernt. Oder endlich wie das Kind durch Fallen gehen lernt. So lernt die Menschheit denken oder spre­chen nicht durch die glatte, unbe­wußte Anwendung ihres Sprachschatzes, sondern durch das Stottern bei seiner zwei­fel­haf­ten Anwendung. Wenn ich Herrn A oder B sehe und ihn nicht sofort (unbe­wußt) wieder­erkenne, weil er grau gewor­den ist, wenn ich Frau G nicht sofort wieder­erkenne, weil sie anstatt des gewohn­ten schwar­zen Kleides eines von lila Farbe trägt, so lerne ich dadurch A, B oder G besser kennen.

Der Fortschritt des mensch­li­chen Denkens, das heißt die Entwicklung des mensch­li­chen Sprachschatzes ist demnach nichts als: das durch Entgleisungsstöße veran­laßte Bemerken von Unterschieden zwischen ähnli­chen Dingen, das Wahrnehmen der Verschmelzungsfehler, das Erkennen der Begriffsmängel und endlich die resi­gnierte Anwendung zusam­men­fas­sen­der Begriffe, trotz dieser erkann­ten Mängel. Alle großen natur­wis­sen­schaft­li­chen Entdeckungen lassen sich darauf zurück­füh­ren, daß man entwe­der erkannt hat: “Dies ist nicht Frau G, trotz­dem sie ähnlich aussieht oder heißt, oder: “Dies ist Frau G, trotz­dem sie lila geht”.

LAVOISIERs Entdeckung des Sauerstoffs gehört zur ersten Gruppe, NEWTONs Bestimmung der Sternberechnung als eines Falles von Schwerkraft, die Zusammenfassung (HERTZ) von Licht und Elektrizität gehö­ren zur zwei­ten Gruppe. Da wurden ein paar Begriffe einmal gesäu­bert, das andere Mal bereichert.

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