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32. Wortbildung

Es ist endlich Zeit, daß die Menschheit ihre Sprache, d.h. ihr Gedächtnis entfe­ti­sche, nach­dem sie durch unge­zählte Jahrtausende Abstraktionen oder Fetische gehäuft, und ihren Müllkasten die Schatzkammer ihres Geistes genannt hat.”

Der gelehrte Logiker unter­schei­det gern das laien­hafte natür­li­che Denken vom eigent­li­chen, vom bewuß­ten Denken. Für mich ist auch Selbstbewußtsein iden­tisch mit Erinnerung, einer uner­klär­ten Tatsache, die HERING eine Funktion der orga­ni­schen Materie genannt hat, ohne sie dadurch besser zu erklä­ren. Erinnerung ist in jedem Organismus. Wenn ich kaum gebo­ren zu atmen beginne, so ist diese ganze Bewegungskomplikation ererbte Erinnerung der Muskeln und Nerven. Wenn der Klavierspieler mit Sicherheit ein Stück zu Gehör bringt, so arbei­tet der ganze Mechanismus vom Gehörzentrum (mitun­ter auch ohne Gehörzentrum) bis zu den Fingerspitzen nach geüb­ter Erinnerung. Diese beiden Erinnerungsarten, die Erinnerung der Gattung oder der Instinkt, und die Erinnerung der Übung oder die Fertigkeit, sind nicht bewußte Erinnerungen, mögen sie nun vom Rückenmark oder von einer Gehirnprovinz ressortieren.

Es ist einer der Ausgangspunkte dieser Schrift, daß es kein Denken gebe außer dem Sprechen, daß das Denken ein totes Symbol sei für eine angeb­li­che, falsch gese­hene Eigenschaft der Sprache: ihre einge­bil­dete (von ihr selbst uns einge­bil­dete) Fähigkeit, die Erkenntnis zu fördern. Ich weiß wohl, daß diese rein nega­tive Behauptung eben auch die Erkenntnis nur nega­tiv fördert; aber es ist endlich Zeit, daß die Menschheit ihre Sprache, d.h. ihr Gedächtnis entfe­ti­sche, nach­dem sie durch unge­zählte Jahrtausende Abstraktionen oder Fetische gehäuft, und ihren Müllkasten die Schatzkammer ihres Geistes genannt hat.

Das bewußte Denken, soweit es eines gibt, hat nun die Eigentümlichkeit, daß das Gehirn sich an sein Erinnern erin­nert. Die Muskeln und Nerven, die das Atmen und das Klavierspielen machen, sind offen­bar auto­nom. Sie wech­seln mit der Zentrale keine Schriftstücke. Wie sie das anfan­gen, um dennoch nicht anar­chisch zu werden, und wie sie in ihrer enge­ren Verwaltung ohne Sprache fertig werden, das ist ihre Sache. Das Wesen der Zentrale liegt darin, daß sie von allen Vorgängen der Dezentralisation dennoch Kenntnis hat, und ihrer eige­nen Denktätigkeit zuschauen, sich selbst über die Achsel schauen kann, wozu oder wovon der Kopf bedenk­lich verdreht werden muß.

Bewußtes Denken ist also wahr­nehm­bare Erinnerung. Das Unfaßbare dieses Vorgangs wird viel­leicht heller, wenn wir beach­ten, daß auch beim Sehen eine Bewegung voraus­geht, die doch eigent­lich das Sehen voraus­setzt. Wir bewe­gen unsere Augäpfel so lange hin und her, bis das Bild des Gegenstandes, den wir zu unse­rem Vorteil prüfen wollen, auf die Netzhautstelle des deut­lichs­ten Sehens fällt. Wir fangen also die Beute in der Sehgrube ein, und wir lassen sie wieder laufen, wenn sie uns nicht wert­voll scheint. Dem deut­li­chen Sehen geht ein nebel­haf­tes Bemerken voraus. Was demnach unsere Augäpfel in Bewegung setzt, kann also noch gar nicht eine der Nebenmaschinen des Sehzentrums sein, sondern unser Interesse, welches das Instrument regiert. So mag es auch unser Interesse sein, der Hund Vorteil, welcher unser Gehirn bei seiner Erinnerungsjagd bewacht und den Schein erweckt, als könn­ten wir uns selbst über die Achsel schauen. Der Wachdienst unse­res hung­ri­gen Interesses mag auch das tiefste Rätsel des Denkens, wenn nicht erklä­ren, so doch zu Wort brin­gen, was ja bei Rätseln für uns Kinder genügt.

Es ist seit mehr als hundert Jahren für die Schüler der älte­ren Engländer und KANTs ausge­macht, daß es keine Brücke gibt von unse­rem Denken zur Wirklichkeit, vom Subjekt zum Objekt, vom Ich zur Welt. Was immer wir von der Wirklichkeit wissen, die Bewegung der Sterne und das Gewicht eines Mehlsacks, die Geschichte Persiens und die Nässe dieses Wassertropfens, alles wissen wir gleich indi­rekt durch unser Sprechen oder Denken, also nur subjek­tiv. Ob dieser Wassertropfen oder dieser Mehlsack in der Welt an sich, d.h. außer­halb unse­res Kopfes mit unse­ren Vorstellungen iden­tisch oder irgend­wie ähnlich sei, daß zu wissen haben wir niemals ein ande­res Mittel als unser Denken. Denn selbst den verhält­nis­mä­ßig unmit­tel­bars­ten Eindruck lernen wir erst als Nervenerregung kennen.

So mußte die Metaphysik einmal zu der verzwei­fel­ten Anschauung BERKELEYs kommen, welcher in all seiner Gottgläubigkeit an die Existenz der Welt nicht mehr glaubte. Das Denken konnte ihn nicht beleh­ren, denn es liefert keine Kontrolle der Wirklichkeit. Wohl aber besit­zen wir eine solche in unse­rem hung­ri­gen Interesse. Wenn wir das Bild einer Sache wahr­neh­men und dieses Bild auf dem Umwege des Wortdenkens unse­ren Willen beein­flußt, so daß unser Wille tätig nach diesem Ding reflek­tiert und der Wille danach befrie­digt ist, so wird wohl das Ding irgend­wie wirk­lich gewe­sen sein. Deutsch gespro­chen: Wenn wir ein Brot sehen, danach langen, es fres­sen und dadurch unse­ren Hunger stil­len, so wird es wohl Nahrung gewe­sen sein. Die Befriedigung unse­res Interesses garan­tiert für die Wirklichkeit. Und der Fabelhund, der das wirk­li­che Stück Fleisch fallen ließ, um nach dem Spiegelbilde zu schnap­pen, war nicht der gesunde Hund des wacht­ha­ben­den Interesses, sondern ein idea­lis­ti­scher Hundephilosoph.

Abgesehen von diesem Zerstörungsverdienst — viel­leicht hat HEROSTRATOS auf der Folter etwas Falsches ausge­sagt, viel­leicht hat er den Artemistempel von Ephesos aus Freigeisterei ange­zün­det — hat die Annahme, daß es neben dem Sprechen kein beson­de­res Denken gebe, noch den Vorteil, einige Hauptfragen zu vereinfachen.

Die alte Frage: “Wie können Geist und Körper, Denken und Räumliches aufein­an­der wirken?” — ist trotz DESCARTES und SPINOZA, trotz unse­ren Materialisten und ihrer Physiologie noch heute unbe­ant­wor­tet. Nimmt man eine denkende Seele an, so ist die Schwierigkeit eine doppelte; man weiß nicht, wie die Schallerregung durch einen ande­ren Menschen (bei Entstehung der Sprache und bei ihrer Neuentstehung in jedem Kinde) bestimmte Gedanken in der Seele wecken könne, und eben­so­we­nig, wie ein Gedanke der Seele die Sprechorgane zu einem verständ­li­chen Schalle inner­vie­ren könne. Man müßte gera­dezu sowohl für die sensi­blen wie für die moto­ri­schen Nervenbahnen eine Art Dirigenten, einen Umschalter, eine Überseele anneh­men, und auch dann wäre das eigent­li­che Rätsel nur zurück­ge­scho­ben. Doch auch die gemeine mate­ria­lis­ti­sche Redensart, daß das Gehirn denke, Gedanken fabri­ziere (wie nach dem Worte VOGTs die Niere Harn), bietet die glei­che Doppelschwierigkeit für den gewöhn­li­chen Gebrauch, aber auch für die Entstehung der Sprache. Denn — abge­se­hen davon, daß ein Fortschritt der Erkenntnis durch diese Hirnsekretion eine aben­teu­er­li­che Vorstellung sein müßte — das Verständnis des Schalls ist ebenso uner­klär­bar wie die Rückverwandlung des Verstandenen in einen Schall. Hören und Sprechen sind zwei Rätsel, und zwar verschie­dene Rätsel.

Nun hätte das Bedürfnis der Vereinfachung längst dazu führen sollen, diese beiden — offen­bar rezi­pro­ken — Rätsel auf eines zurück­zu­füh­ren, Hören und Sprechen gewis­ser­ma­ßen auf eine Formel zu bringen.

Etwas Ähnliches — das hätte man bemer­ken müssen scheint vorzu­lie­gen, wenn wir einen Gegenstand zugleich sehen und grei­fen können.

Was ist denn ein “Gegenstand”? Doch immer nur eine (mecha­ni­sche oder orga­ni­sche) Einheit von beweg­ten Molekülen oder Molekularbewegungen (unser Wissen hat eben keine klare­ren Worte, ich muß sie brau­chen). Es ist ein uner­klär­tes Wunder, daß diese Molekularbewegungen sich durch unsere natür­li­chen Augengläser, dann durch den Sehnerv u.s.w. bis zu einem “Zentrum” fort­pflan­zen, daß das Zentrum eine Ursache seiner Gereiztheit als “Gegenstand” nach außen proji­ziert; es ist ein zwei­tes “Wunder” daß dasselbe oder ein benach­bar­tes, einver­stan­de­nes Zentrum die Beine und Arme nach dem Gegenstande hinbe­wegt und durch Fingerbewegungen, tastend, diesel­ben Molekularbewegungen, das ist densel­ben “Gegenstand”, wahr­nimmt, den die Augen “gese­hen” haben. Das Wunder ist damit nicht erklärt; aber es ist doch schon etwas, zwei Wunder auf ein und dasselbe Bekannte, hier die Bewegung, zurück­ge­führt zu haben. Freilich wird dadurch die altbe­kannte Bewegung ihrer­seits wieder zum Wunder.

Wir haben bisher gese­hen, daß die Eigenschaft des Gedächtnisses, immer nur das dem Vorurteil Entsprechende zu merken, das Ende der jewei­li­gen Erkenntnis bewirkt. Darum ist jede Besiegung eines Vorurteils auch eine so achtung­ge­bie­tende Tat, weil sie dem naiven Menschengeiste, wider­spricht, weil der Entdecker der neuen Beobachtung dazu aus seiner Weltanschauung heraus­tre­ten, weil er jedes­mal die Grenzen seiner Sprache über­sprin­gen muß. Jetzt aber werden wir sehen, daß auch der Anfang der Erkenntnis, die Wortbildung nämlich, auf dieser Eigenschaft des Gedächtnisses beruht, nämlich so, daß nicht etwa bloß dieser Mangel des Gedächtnisses die Wortbildung beglei­tet, daß er viel­mehr die Wortbildung erst möglich macht, daß also die Entstehung der mensch­li­chen Sprache auf der Eigenschaft des Gedächtnisses beruht, die sein Grundfehler ist. Man halte dabei nur fest, was oben über die Ähnlichkeit gesagt worden ist: daß sie über­all für die Gleichheit eintritt und sogar schon bei den klas­si­fi­zie­ren­den Wahrnehmungen der Sinne ihre Rolle spielt. Dasselbe gilt für die Erinnerungen.

Wenn nämlich das Gedächtnis des Menschen nur solche Sinneseindrücke zu einer gemein­sa­men Vorstellung verschmel­zen könnte, die voll­kom­men gleich oder iden­tisch sind, so könnte es über­haupt zu keiner Erinnerung, zu keinem Vorstellungsbilde, zu keinem Begriff kommen. Die Geschichte aller Naturwissenschaft gibt Belege dafür, daß die Menschen die Arten der Tiere und Pflanzen immer provi­so­risch nach unge­fäh­ren Ähnlichkeiten unter einem Namen zusam­men­faß­ten, und daß dann die fort­schrei­tende Beobachtung die Begriffe je nach Bedarf entwe­der einschränkte oder ausdehnte, um sie mit den besse­ren und neue­ren Beobachtungen in Übereinstimmung zu brin­gen. In vorhis­to­ri­schen Zeiten mögen gar die Menschen — wie die Sprachwissenschaft wenigs­tens lehrt — z.B. die Bäume mit eßba­ren Früchten gemein­sam benannt haben, während Eichenvarietäten, wenn die eine eßbare Früchte trug und die andere nicht, verschie­den benannt wurden.

Treiben wir die Sache weiter, so kommen wir schließ­lich dazu, was wir nach der Kritik der Logik genauer sehen werden, daß nämlich jedes Wort nur à peu près ein Ausdruck für gleich­ar­tige Dinge ist, daß den unzäh­li­gen und unend­lich verschie­de­nen Individuen der Wirklichkeit keine sprach­li­che Zusammenfassung gegen­über steht. Wir haben Worte gebil­det, nicht weil wir ein gutes, sondern weil wir ein schlech­tes Gedächtnis besit­zen. In der Wirklichkeit gibt es nur Individuen, gibt es keine Arten, keine Ideen, keine substan­ti­el­len Formen; in der Sprache gibt es nur Arten, nur Ideen, nur substan­ti­elle Formen. In unse­ren Köpfen ist die Wirklichkeit nur als Naturerklärung, d.h. als Naturbeschreibung vorhan­den. Wenn wir die Karte eines Landes mit dem Lande selbst ähnlich finden, so hat das eine Berechtigung, weil wir von der Karte wie vom Lande Sinneseindrücke haben, die einen Vergleichungspunkt darbie­ten; unsere Naturerklärung aber ist die unsicht­bare Karte einer sicht­ba­ren Wirklichkeitswelt, wir können Bild und Original nicht verglei­chen. So sehen wir auch hier, daß die Sprache nichts bieten kann als unver­gleich­bare Bilder, und begrei­fen schon hier, warum die Entwicklung der Sprache allein auf dem Wege der Metapher vor sich gehen konnte.

Ich verbinde also wieder einmal zwei Anschauungen, welche zu einem unlös­ba­ren Widerspruch führen müssen. Einerseits führe ich alles geis­tige Leben des Menschen, all sein Denken oder Sprechen, sein Selbstbewußtsein, sein Bewußtsein u.s.w. u.s.w. auf das Gedächtnis zurück als auf die einzige uns noch halb­wegs zugäng­li­che und wirk­lich beob­ach­tete Tätigkeit seines Gehirns, ander­seits behaupte ich, daß es dieser Tätigkeit durch­aus wesent­lich sei, unzu­ver­läs­sig zu sein, Fehler zu machen, Ungleiches gleich zu setzen. Es ist klar, daß infol­ge­des­sen allein schon unsere Gedankenwelt der Wirklichkeitswelt niemals entspre­chen kann. Darin liegt aber noch nicht der unlös­bare Widerspruch, den ich meine. Denn die Unrichtigkeit unse­rer Vorstellungswelt ist dann eben eine Tatsache mehr, mit der wir uns abzu­fin­den haben. Nicht das ist so uner­träg­lich, daß unser Gedächtnis lügt, sondern viel­mehr das, daß unser Gedächtnis bisher für unse­ren treu­es­ten Begleiter galt und daß wir nicht mehr wissen, was das Gedächtnis irgend noch sein kann, wenn es nicht treu ist.

Ich maße mir nicht an, zur Lösung dieses entsetz­li­chen Widerspruchs etwas beitra­gen zu können; aber ich möchte darauf aufmerk­sam machen, daß uns ganz genau der glei­che Widerspruch auf einem schein­bar entle­ge­nen Gebiete begegnet.

Man hat nämlich, wie erwähnt, von einem Gedächtnis der orga­ni­sier­ten Materie gespro­chen, damit nichts erklärt, aber dennoch ganz rich­tig die biolo­gi­sche Erblichkeit mit dem Gedächtnis vergli­chen. Beruht nun die Tätigkeit unse­res Gedächtnisses in ihrer tiefs­ten Grundlage auf dem falschen Gedächtnis, d.h. auf dem unab­wend­ba­ren Schicksal des Gedächtnisses, Ungleiches gleich zu setzen und zwar — um die Worte des Ausgangs zu wieder­ho­len — zumeist nur dieje­ni­gen Fälle zu merken, welche die vorge­faßte Meinung bestä­ti­gen, so liegt der Entwicklung des orga­ni­schen Lebens auf der Erde ein ähnli­cher Vorgang zu Grunde. Dem von der bishe­ri­gen Psychologie ange­nom­me­nen, zuver­läs­si­gen, treuen, sche­ma­ti­schen Gedächtnis entspricht die Erblichkeit der Eigenschaften bei Pflanzen und Tieren. Der orga­ni­sche Keim enthält etwas wie ein Gedächtnis für die Geschichte und für die Form des Mutterorganismus bezie­hungs­weise der beiden Formen und Organismen von Vater und Mutter. Wäre dieses Gedächtnis treu, so gäbe es keine Entwicklung.

Da tritt aber dieser bloß ange­nom­me­nen, niemals rein vorhan­de­nen Erblichkeit die Anpassung zur Seite, welche ich in diesem Zusammenhange nicht anders als den Grundfehler der Erblichkeit nennen möchte, die falsche Erblichkeit, auf der aber wiederum erst die Möglichkeit des Fortschritts beruht, die Entwicklung. Wie das Gedächtnis neue, niemals ganz gleich­ar­tige Fälle so assi­mi­liert, daß die vorge­faßte Meinung dadurch bestä­tigt, der vorhan­dene Begriff dadurch mit bestimmt und nur unbe­wußt erwei­tert wird, genau so assi­mi­liert das Leben im neuen Organismus (was wir dann in unse­rer Sprache in Erblichkeit und Anpassung ausein­an­der­spal­ten) die neuen Eindrücke aus Klima, Nahrung, Kampf ums Dasein u.s.w. zu einer schein­ba­ren Fortsetzung des Mutterorganismus, welche Fortsetzung jedoch immer ein winzi­ges Teilchen zur Entwicklung hinzu­fügt. Der neue Organismus glaubt ehrlich, daß er die Art fort­setze; so glaubt das Gedächtnis ehrlich, daß es glei­che Vorstellungen zu einem Begriffe verbinde; es gibt aber keine unver­än­der­li­che Art und es gibt keinen Begriff aus iden­ti­schen Vorstellungen.

Die Sache wird viel­leicht durch ein Beispiel klarer. Die Entwicklung der Sprache, wie sie seit jeher vor sich ging und wie sie noch vor unse­ren Augen vor sich geht, beruht in Tausenden von Fällen darauf, daß ein Sprachfehler allge­mach zu einem neuen Sprachgebrauche wird. Als zum ersten Male jemand die vergan­gene Zeit des star­ken Verbums backen so bildete, daß er anstatt “buk” “backte” sagte, da machte er densel­ben Sprachfehler, wie wenn ein drei­jäh­ri­ges Kind “ich trinkte” sagt anstatt “ich trank”. Aber der ursprüng­li­che Sprachfehler wurde vom Sprachgebrauch ange­nom­men, und es war gar nicht so übel, als diese Art von Formwandel mit dem Worte “falsche Analogie” bezeich­net wurde. Der ganze hier behan­delte Grundfehler des Gedächtnisses besteht in solcher falschen Analogie. Die Sprachwissenschaft bietet zahl­lose Beispiele für diese Entwickelung.

Nun aber ist der neue­ren Naturwissenschaft der Gedanke auch nicht mehr fremd, daß dieje­ni­gen Varietäten, welche rela­tiv konstant werden und so zur Bildung neuer Arten führen, ursprüng­lich als Fehler, als eine Art von Krankheit ange­se­hen werden können. Einer der schöns­ten Zierbäume unse­rer Gärten, der weiß­blät­te­rige Ahorn, ist so ein Sprachfehler der Natur, der Sprachgebrauch gewor­den ist, eine Modefarbe, ein Modewort, eine Entartung, welche zu einer neuen Art führte; wie denn viel­leicht auch die oft beschrie­bene Unruhe unse­rer Generation, die man Nervosität, Entartung, Decadence oder wie immer nennt, eine gewisse Entwicklungskrankheit ist, die mögli­cher­weise in der Zukunft zu einer soge­nann­ten höhe­ren Differenzierung der Rasse werden kann. Ich will diesen Gedanken hier nicht verfol­gen. Ich wollte nur fest­hal­ten und darauf hinwei­sen, daß der Grundfehler unse­res Gedächtnisses, seine Unfähigkeit zwischen Gleichem und Ungleichem zu unter­schei­den, sein wesent­lichs­ter Fehler, der aber zugleich der Anfang und das Ende unse­res bewuß­ten Geisteslebens ist, ebenso auch der wesent­li­che Grundfehler oder viel­mehr (da der Gebrauch des Wortes Fehler eine mensch­li­che Anmaßung ist) das Wesen des unbe­wuß­ten Gedächtnisses, das Wesen aller Entwicklung ist.

Published inDas Wesen der Sprache 2

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