“Alle Erkenntnistheorie ist zuletzt Psychologie, und an eine wissenschaftliche Psychologie ist nicht zu denken, solange die psychologischen Grundbegriffe unklar und undeutlich im Sprachgebrauche schwanken.”
Es wäre nun ganz hübsch, den schwierigen Begriff des Bewußtseins zu eliminieren und das Bewußtsein in die beiden Zustände oder Tätigkeiten der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses aufzulösen. Was wir im Bewußtsein zu haben glauben, das wird durch die blitzschnelle Aufmerksamkeit erworben und durch das dauernde Gedächtnis festgehalten. Die Summe der menschlichen Erfahrung oder die Sprache wäre dann eine Art fixierter Momentaufnahmen. Aber die Worte Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Gedächtnis sind selbst wieder Teile dieser Summe, sind selbst wieder Bestandteile der Sprache und narren uns, wenn wir sie nach dieser verführerischen Erklärung noch einmal von der anderen Seite betrachten. Da ist zunächst eine Beobachtung, welche die Aufmerksamkeit unserem Gedächtnisse übermittelt hat, in unserem Bewußtsein nur dann, wenn wir eine innere Aufmerksamkeit abermals auf sie richten. Das Bewußtsein ist also nicht eliminiert; wir können das Wort vorläufig nicht entbehren, weil wir die unbewußte Aufmerksamkeit (wir erinnern uns z.B. eine Stunde später, eine Uhr schlagen gehört zu haben, ohne daß wir es sofort wahrgenommen hätten) von der bewußten unterscheiden wollen. Da ist ferner die Unmöglichkeit, Aufmerksamkeit und Gedächtnis jemals radikal zu trennen, weil jedes Aufmerken ein Beachten von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, also ein Bemühen des Gedächtnisses ist, und weil jede kleinste Erinnerung der Erregung einer bewußten oder unbewußten Aufmerksamkeit bedarf. Schließlich würde auch noch die Frage der Willkürlichkeit hineinspielen. So entdecken wir auch auf diesem Punkte, wie schwer es ist, die Sprache mit Sprachworten zu kritisieren. Alle Erkenntnistheorie ist zuletzt Psychologie, und an eine wissenschaftliche Psychologie ist nicht zu denken, solange die psychologischen Grundbegriffe unklar und undeutlich im Sprachgebrauche schwanken.
Das so wohlbekannte Gefühl der Aufmerksamkeit ist darum für die psychologische Untersuchung kaum zu enträtseln. Wir stehen wieder einmal vor einem der Fälle, wo wir eine Seelenäußerung oder einen geistigen Zustand analysieren müssen, um das Wesen der Sprache besser kennen zu lernen, und wo wir zugleich den Begriff sprachkritisch analysieren müssen, um das Schwanken der Wortbedeutung festzustellen. Wir stehen wieder einmal vor einem der Fälle, wo die Psychologie irre führt, wenn wir nicht eine klare Definition des Wortes vorausschicken, und wo wir keine Definition aufstellen können, ohne vorher die Hauptgebiete der Psychologie für diese Definition durchforscht zu haben. Wir stehen wieder einmal an der Grenze der Sprache, wieder einmal vor der Aufgabe — um ein oft gebrauchtes Bild etwas zu ändern — mit eigenen Händen den Stuhl aufzuheben, auf welchem wir sitzen.
Unser wichtigstes Augenmerk muß es sein, unsere gespannte Aufmerksamkeit müssen wir andauernd darauf richten, daß wir den Begriff “Aufmerksamkeit” nicht personifizieren, daß wir uns nicht ein bestimmtes Seelenvermögen “Aufmerksamkeit” vorstellen, welches irgendwo im Gehirn residiert und unsere Gedanken lenkt. Die Psychologen von CONDILLAC bis RIBOT -, welche das Gefühl der Aufmerksamkeit untersucht haben, haben sich selbstverständlich nach Kräften vor dem Fehler der Personifikation gehütet; aber lange nicht genug. Immer wieder guckt es wie ein Seelenvermögen aus ihren Darlegungen heraus, und auf einen wichtigen Punkt haben sie nicht klar hingewiesen: daß wir unter Aufmerksamkeit nämlich bald den relativ passiven Zustand verstehen, der in uns unbewußt durch äußere Objekte erregt wird, bald den ganz aktiven Zustand, in welchem wir die sogenannte Aufmerksamkeit auf einen äußeren Gegenstand absichtlich richten. Um doch wenigstens von einer vorläufigen Definition auszugehen, welche diese beiden Zustände umfaßt, wollen wir den folgenden Satz hinstellen: Aufmerksamkeit ist die Empfindung einer Anstrengung, die uns das Apperzipieren einer Wahrnehmung kostet. Wir sehen sofort, daß die Frage nach dieser Empfindung mit den Fragen nach dem Wesen der Gehirnarbeit und der Apperzeption zusammenhängen wird; und daß diese Empfindung wiederum als relativ passiv mit dem Interesse, nach unserer Sprachkritik also mit dem Gedächtnis, daß diese Empfindung als aktive mit den Geheimnissen des menschlichen Willens zusammenhängt. Wir sehen also, daß wir mit den Mitteln unserer Sprache kaum zu einer völlig befriedigenden Definition gelangen werden.
Am wichtigsten erscheint mir der Nachweis, daß überall, wo die Umgangssprache oder die Wissenschaft von Aufmerksamkeit redet, Arbeit geleistet, und darum eine Anstrengung empfunden wird. Die Selbstbeobachtung, die leider wieder nicht ohne diese Arbeit der Aufmerksamkeit möglich ist, weist uns darauf hin; Experimente von DUCHENNE haben wenigstens so viel hinzugefügt, daß durch elektrische Reizung des Stirnmuskels die Physiognomie eines Menschen so verändert wird, daß der äußere Eindruck der Aufmerksamkeit entsteht.
In sprachlicher Beziehung können wir nun, was unserem Hasse gegen die Abstraktionen auf ‑keit und ‑heit nur schmeicheln kann, sofort die Personifikation Aufmerksamkeit aufgeben und uns mit der Tätigkeit des Aufmerkens begnügen. Schon die Umgangssprache macht einen Unterschied zwischen sehen und betrachten, zwischen hören und lauschen, zwischen riechen und wittern, schmecken und kosten, fühlen und tasten. Der Unterschied ist bei den einzelnen Sinnen und in den verschiedenen Sprachen und Mundarten nicht immer gleich groß; immer aber liegt eine Unterscheidung zwischen unaufmerksamem, mehr passivem Wahrnehmen und aufmerksamem, anstrengendem Wahrnehmen zu Grunde.
Die meisten Untersuchungen über die Aufmerksamkeit sind auf das aufmerksame, anstrengende Denken, auf die Kombination von Sinneswahrnehmungen verwandt worden; doch machen es die angeführten Wortunterschiede offenbar, daß die Empfindung der geistigen Arbeit, also die Empfindung der Aufmerksamkeit, auch schon bei den einfachsten Wahrnehmungen vorhanden ist. Auch beim Betrachten eines farbigen Lichtpunktes, beim Belauschen eines einzigen musikalischen Tones kann die Arbeit des Aufmerkens binnen kurzem einen hohen Grad von Ermüdung zur Folge haben. Diese Ermüdung kann sowohl durch die Intensität wie durch die Dauer des Aufmerkens veranlaßt werden, sowie die Ermüdung der Armmuskeln durch das Gewicht des emporgehaltenen Körpers ebensogut wie durch die Dauer des Emporhaltens erzeugt werden kann. Arbeit wird da und dort geleistet. RIBOT möchte den Zustand der Aufmerksamkeit von dem normalen Seelenzustand durch den Begriff Monoideismus unterscheiden; und er legt Wert darauf, daß der Monoideismus der Aufmerksamkeit geistiger Art sei, daß die einzige Idee sich auf einen Gegenstand der Wirklichkeitswelt richte, daß also derjenige Zustand nicht mit der Aufmerksamkeit zu verwechseln sei, wo ein heftiger Zahnschmerz oder eine außerordentliche Freude ebenfalls das gesamte Bewußtsein auf ein einziges Gefühl zusammendränge.
Ich sehe nicht ein, warum man diese Zustände nicht unter dem Begriff der Aufmerksamkeit begreifen soll. Es ist bekannt, daß man Schmerzen “vergessen” kann, wenn es einem gelingt, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten; REID kannte einen Menschen, der seine Gichtschmerzen linderte, wenn er während eines Anfalls mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit Schach spielte. Nur wer heimlich in der Aufmerksamkeit, ein personifiziertes Seelenvermögen erblickt, kann das aufmerksame Schachspielen einer anderen Seeleneigenschaft zuschreiben als das Aufmerken auf seine Schmerzen. Wir können diese Ablenkung unserer Geistestätigkeit von einer unangenehmen zu einer angenehmen Empfindung viel besser erklären, wenn wir die Hypothese aufstellen, daß eine Anstrengung in einer bestimmten Richtung das Gehirnleben für andere Richtungen gewissermaßen hypnotisiert. Diese Erscheinungen einer willkürlichen Ablenkung der Aufmerksamkeit enthalten doch gerade die beiden Zustände des passiven und des aktiven Aufmerkens im höchsten Grade. Es werden uns aus der Zeit der Christenverfolgungen, der Inquisition, aber auch aus dem Seelenleben indischer Fanatiker glaubhafte Fälle erzählt, wo die furchtbarsten körperlichen Foltern ohne Schmerzempfindung ertragen wurden, weil der Gefolterte seine ganze Aufmerksamkeit auf irgend ein starkes Gefühl religiöser Lust richtete. Hier scheint mir also der äußerste Grad derjenigen passiven Aufmerksamkeit vorzuliegen, in welchem bei gewöhnlichen Menschen die Todesqualen alles übrige Seelenleben so lahm legen, daß der Gefolterte nichts anderes mehr sieht, hört und denkt, während beim Märtyrer wie bei Wahnsinnigen etwas wie eine fixe Idee im stande ist, den gemarterten Körper gegen die Schmerzen zu hypnotisieren.
Passive Aufmerksamkeit kann, das liegt auf der Hand, nur durch Erregung eines Interesses entstehen; Folterqualen müssen die Aufmerksamkeit aufs höchste erregen, weil der gewöhnliche Mensch kein höheres Interesse kennt als sein Leben. Wir erinnern uns, daß unsere Analyse das Interesse schließlich auf eine Tätigkeit des Gedächtnisses zurückgeführt hat. Wir können diesen Gedanken vorläufig nicht weiter verfolgen; halten wir uni; an das Interesse. Ein Mensch oder ein Tier, sagt RIBOT, wäre ohne die Fähigkeit, Lust oder Unlust zu empfinden, auch unfähig, aufzumerken; wir können hinzufügen, daß ohne diese Fähigkeit zur Lust und Unlust die organische Welt auch nichts apperzipieren könnte. Nur daß die Annahme eines gefühllosen Lebewesens sinnlos ist; wir wissen ja, daß die Erlernung des Schädlichen und Nützlichen die Gefühle der Lust und Unlust, also das Interesse erzeugt hat, und daß diese Erlernung, welche wir dem Gedächtnisse verdanken, die ganze Entwicklung der Sinnesenergien von der Amöbe bis zum Menschen und im Menschen die Entwicklung derjenigen Anpassung möglich gemacht hat, die wir Welterkenntnis nennen. In jedem einzelnen Menschen ist nun natürlich die Richtung seiner Aufmerksamkeit oder die Gegend seiner Apperzeption oder die Ansatzstelle seines geistigen Wachstums (wenn unsere Auffassung von der Apperzeption richtig ist) von zwei Umständen abhängig: von seinem bisherigen Bewußtseinsinhalt und von dem äußeren Objekt, das dazu an ihn herantritt.
Stellen wir einen Bauern, einen Jäger, einen Botaniker und einen Astronomen auf eine Heide, so wird die Aufmerksamkeit eines jeden auf andere Umstände gerichtet werden, und wenn wir von jedem die Tätigkeit des Aufmerkens sehen könnten, so wüßten wir auch alles über seinen bisherigen Bewußtseinsinhalt. Die Tatsache, daß das Interesse beim passiven Aufmerken den Ausschlag gibt, daß demnach die Vorgeschichte des Individuums und seiner Art, anders ausgedrückt, daß das Gedächtnis des Individuums und sein Artgedächtnis auch diejenige Form der Aufmerksamkeit lenkt, die man die passive nennt, ließe sich durch tausend überflüssige Beispiele belegen. Doch in dieser Bemerkung liegt schon die zweite, daß auch bei der passiven Aufmerksamkeit aktive Arbeit geleistet wird. Für die neuere Psychologie sollte das selbstverständlich sein, da diese auch im einfachen Sehen oder Hören Verstandesarbeit, Gehirnarbeit erblickt. Wir können diese Arbeitsleistung aber auch durch das alltäglichste Experiment nachweisen. Lassen wir die Hand auf dem Tische ruhen, so nehmen wir die Tastempfindung nach einigen Minuten gar nicht mehr wahr, wenn wir nicht durch unmerklichen Druck neue Muskelarbeit leisten. Bei der aktiven Aufmerksamkeit freilich ist diese Arbeitsleistung viel intensiver zu beobachten; fixieren wir mit den Augen einen bestimmten Punkt, so sind die Augen nach kurzer Zeit von der geleisteten Arbeit so erschöpft, daß wir überhaupt nichts mehr sehen. Das Gefühl der Anstrengung liegt, stärker oder schwächer, beim aktiven wie beim passiven Aufmerken vor. Nimmt man der inneren Empfindung der Aufmerksamkeit die sie angeblich nur begleitende Empfindung der Arbeitsleistung, so weiß ich nicht, was von dem Seelenvorgang Aufmerksamkeit überhaupt noch übrig bleibt.
Schon bei dieser Betrachtung werden die Grenzen zwischen passiver und aktiver Aufmerksamkeit verwischt. Wird z.B. durch einen Gesichtseindruck das Interesse eines bis dahin unaufmerksamen Spaziergängers erregt, läuft z.B. ein Tier über den Weg, dessen Formen ihm nicht ganz geläufig sind, so wird er sofort seine Augen auf diesen Gesichtseindruck lenken und sie akkommodieren, um in der nächsten Minute wieder zu vergessen, daß das Aufspringen eines Hasen ihn zu dieser komplizierten Arbeit angeregt habe. Aber die Arbeit, mit welcher er das Bildchen des Hasen auf den Fleck des deutlichsten Sehens brachte, dies entsprechend in beiden Augen, und was sonst ein aufmerksames Sehen alles erfordert, ist doch nicht verschieden von der Arbeit des Mikroskopikers, der mit gespanntester aktiver Aufmerksamkeit unter dem Mikroskop das Sputum eines Lungenkranken untersucht. Wäre Selbstbeobachtung bei der passiven Aufmerksamkeit möglich, so würden die Gefühle der Arbeitsleistung überall ebenso wahrnehmbar sein, wie sie es bei der aktiven Aufmerksamkeit sind: beim aufmerksamen Sehen eine Anstrengung in der Gegend der Augen, beim aufmerksamen Hören eine fühlbare Anstrengung in der Gegend der Ohren, beim aufmerksamen Denken, d.h. beim aufmerksamen Kombinieren von Vorstellungen oder Begriffen, eine leis fühlbare Anstrengung der Kopfhaut. Erinnern wir uns bei diesem Anstrengungsgefühl, welches vom aufmerksamen Denken verursacht wird, daß Denken bei vielen Menschen inneres Sprechen ist, und umso sicherer Bewegungsgefühle im Sprachapparate auslöst, als das Denken aufmerksamer wird.
Wir erfahren aus alledem, wie subjektiv menschlich, d.h. verstandesgemäß die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Aufmerksamkeit ist. Es kommt dabei der ungenaue psychologische Begriff des Wollens ins Spiel; je nachdem die Arbeit des Aufmerkens gewohnt oder ungewohnt ist, haben wir das täuschende Bild einer unwillkürlichen automatischen Bewegung oder einer gewollten Anstrengung. Passives und aktives Aufmerken, unwillkürliche oder gewollte Arbeit ist noch schwerer zu unterscheiden, wenn wir jetzt das aufmerksame Wahrnehmen mit dem aufmerksamen Vorstellen oder Denken vergleichen. Zunächst würde das aufmerksame Wahrnehmen in den meisten Fällen (wo z.B. ein plötzlicher greller Gesichtseindruck unser Interesse erregt, unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht) als ein passives, unwillkürliches Aufmerken zu denken sein. Und doch ist just in diesen Fällen die geleistete Arbeit besonders gut subjektiv zu spüren, objektiv wahrzunehmen. Denn das Akkommodieren beim Scharfsehen ist nicht ein metaphorisches Bild der Aufmerksamkeit, sondern ein frappantes Beispiel. Und diese Arbeit beim Scharfsehen wird gerade dann aktiv und willkürlich geleistet, wenn, wie beim Scharfschützen, die Bewegung am besten eingeübt ist. Alle Begriffe fließen wieder durcheinander.
Die viel kompliziertere und mikroskopischere Arbeit beim aufmerksamen Vorstellen oder Denken ist noch subjektiv als unklare Kopfanstrengung zu spüren, nicht aber immer wie beim Scharfsehen objektiv am anderen Menschen zu beobachten. Objektiv kann diese Kopfanstrengung aber erschlossen werden, wenn man sich erinnert, daß nichts im Denken ist, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist, und wenn man einmal das Wesen der Erinnerungsbilder genau betrachtet. Ich hätte diese Bemerkung besser bei der Untersuchung des Gedächtnisses weiter ausgeführt; aber ein Buch wächst nicht immer, wie man will.
Ich habe eben den Ausdruck Erinnerungsbilder gebraucht. Diese Bilder haben die Psychologie jahrhundertelang nicht in Ruhe gelassen. Man hat lange Zeit in den Vorstellungen wirkliche, reale Bilder der Wahrnehmungen gesehen und die rohesten Hypothesen darüber aufgestellt, wie diese Bilder in das Gehirn hineingelangen. PLATONs nachwirksame, idea war zugleich: Urbild, Spiegelbild und Vorstellung. Ich neige sehr dazu, diese rohen Hypothesen für ungefährlicher zu halten als die unvorstellbaren Lehren der neueren Psychologie, die zwar irgendwelche molekulare Veränderung der Ganglien oder doch die Tendenz zu einer molekularen Veränderung als Ursache der Erinnerungsbilder annimmt, aber diese Bilder dann wieder als Symbole auffaßt, als unwirkliche Zeichen der Wahrnehmungen, die selbst wieder nur Zeichen für die Wirklichkeitswelt sind. Dabei muß alles Vorstellen aufhören. Ich möchte mit wenigen Worten zeigen, daß alle Erinnerungsbilder, wenn sie nur Symbole sind, es doch nicht weniger sind als die unmittelbaren Wahrnehmungen der Wirklichkeitswelt. Für diese darf natürlich die letzte Frage, die nach ihrer Realität, aufgeworfen werden; doch so real wie die Wahrnehmungen sind die Erinnerungen eben auch.
Ich gehe davon aus, daß das Spiegelbild eines Körpers um nichts weniger real ist als das unmittelbare Bild des Körpers, und da wir vom Körper nichts wissen als die Angaben unserer Sinne: um nichts weniger real als der Körper selbst. Das unmittelbare Bild entsteht durch Einwirkung der sogenannten Ätherschwingungen auf unseren Sehnerv. Das Spiegelbild entsteht durch die Einwirkung derselben abgelenkten Schwingungen; weil wir nun den Körper und sein Spiegelbild sehen, weil wir aus der Praxis wissen, daß der Körper nur einmal vorhanden ist, weil wir das Spiegelbild nicht essen und nicht einmal betasten können, darum nennen wir es unwirklich. Es ist aber nur unwirklich für unsern Magen und für unsere Hände. Für den Gesichtssinn ist es wirklich. Erblicken wir einen Körper unter der Oberfläche des Wassers in einer falschen Richtung, so korrigieren wir sie, falls wir den Körper mit den Händen greifen, mit der Kugel treffen wollen. Wie der Kunstschütze die Richtung der Pistole korrigiert, wenn er einen Gegenstand, in deden Spiegel blickend und nach rückwärts zielend, treffen will. Für den Gesichtssinn ist er aber wirklich dort, wo wir ihn sehen.
So müssen die Erinnerungsbilder in unserem Gehirn ebenfalls Wirklichkeiten sein, wenn auch noch so schwache Wirklichkeiten. Die dort angenommenen Molekularveränderungen oder Tendenzen oder “Dispositionen” zu Molekularveränderungen, d.h. aufgespeicherte Kräfte, welche durch irgendeine Erregung der Aufmerksamkeit die Molekularveränderungen erzeugen, müssen ebenso wirklich sein, wie es die sogenannten Ätherschwingungen sind, die von der Spiegelfläche ausgehen. Es kann nun nicht anders sein: wie wir körperliche Arbeit leisten müssen, um ein Gesichtsbildchen in der geeigneten Schärfe auf den Fleck des deutlichsten Sehens zu bringen, so müssen irgendwelche Nerven, vielleicht auch die vasomotorischen Nerven, im Gehirn die Molekularveränderungen jedesmal hervorrufen, durch welche Erinnerungsbilder, sodann allgemeinere Vorstellungen und schließlich die Muskelgefühle erzeugt werden, ohne welche auch die abstraktesten Worte oder Begriffe nicht zu stande kommen können. Und die Empfindung dieser Arbeit nennen wir aufmerksames Denken. Man sieht, es müßte die Aufmerksamkeit als ein personifiziertes Seelenvermögen göttlich wirksam gedacht werden, wenn zwischen aufmerksamem Wahrnehmen und aufmerksamem Denken unterschieden werden soll. Und der Wille gar ist nur eine subjektive Begleiterscheinung. Überschreitet die Anstrengung die Schwelle des Bewußtseins, so nennt man das willkürliche Aufmerksamkeit. Überschreitet die Anstrengung das Maß der Kraft, so glaubt man und sagt, der Wille sei nicht stark genug gewesen.
Aber weder die Ermüdung des ausgestreckten Arms, der ein Gewicht hält, noch die Ermüdung der Aufmerksamkeit sollte uns veranlassen, einen personifizierten Willen als selbständigen Aufseher der Arbeit anzunehmen. RIBOT, der das Maximum der unwillkürlichen Aufmerksamkeit dem Maximum der gewollten Aufmerksamkeit als Gegensatz gegenüberstellt, steht zu sehr unter dem Banne der Worte. Er möchte die Entwicklung der willkürlichen Aufmerksamkeit, wie sie am Kinde beobachtet worden ist, so erklären, daß die unwillkürliche Aufmerksamkeit durch ein natürliches Interesse hervorgerufen wird, daß man die Kinder zu der bewußten Aufmerksamkeit erzieht, indem man den Dingen ein künstliches Interesse gibt. Er unterscheidet drei Perioden in dieser Erziehung: das künstliche Interesse soll zunächst durch Aussicht auf Lohn und Strafe und durch die angeborene Neugier erregt werden, sodann durch Eitelkeit, Ehrgeiz u.s.w., und im dritten Stadium durch die Gewohnheit. Er scheint nicht einzusehen, daß alles auf der Welt eher künstlich genannt werden kann als das Interesse, welches immer Egoismus ist. Wir glauben erforscht zu haben, daß der unterste Grad des Interesses, daß die simpelste Re aktion auf Licht- oder Gehöreindrücke in der Entwicklung der Organismen durch Gedächtnis entstanden ist; für uns ist es die Wirkung desselben Gedächtnisses, wenn der Junge in der Schule aufmerksam Latein lernt, zuerst weil er sich vor Prügeln fürchtet, dann weil er Einjährig-Freiwilliger werden möchte, und schließlich, weil er es gewohnt ist, Latein zu lernen. Wieder fließen die Begriffe von Gewohnheit, also von automatischem Handeln, mit vermeintlichem Wollen zusammen.
Und wie sehr die unbewußte Personifikation der Aufmerksamkeit an dieser Unklarheit die Schuld trägt, ist aus der weiteren Deduktion von RIBOT zu sehen, wenn er den Fortschritt der Zivilisation als eine Entwicklung seiner willkürlichen Aufmerksamkeit, aber wahrhaftig nur als eine Entwicklung des personifizierten Seelenvermögens “Aufmerksamkeit” auffaßt. Er denkt sich gewiß etwas dabei, wenn er sagt:
“Der gleiche Fortschritt, welcher in der moralischen Welt das Individuum von der Herrschaft der Instinkte zu der des Interesses und der Pflicht hat übergehen lassen, in der sozialen Welt von der ursprünglichen Wildheit zur Organisation, in der politischen Welt von dem fast schrankenlosen Individualismus zu Regierungseinrichtungen — derselbe Fortschritt hat die Menschen in der intellektuellen Welt übergehen lassen von der Herrschaft der unwillkürlichen Aufmerksamkeit zur Herrschaft der willkürlichen Aufmerksamkeit. Diese ist zugleich Wirkung und Ursache der Zivilisation.“
Das klingt. Eine Gottheit, die zugleich Wirkung und Ursache der Entwicklung ist. Wir aber wissen mit solchem Gerede nichts anzufangen. Aufmerksamkeit ist die Empfindung einer Anstrengung; da ist von vornherein klar, daß die Entwicklung der Menschheit wohl die Geistesarbeit und die mit ihr verbundene Anstrengung steigern wird, nicht aber zunächst die Empfindung dieser Anstrengung.
Ist die Aufmerksamkeit keine Personifikation, kein Seelenvermögen, sondern nur ein Wort für eine Empfindung, so kann die Entwicklung nur darin beruhen, daß die Menschheit sich im Laufe der Zeit zu immer stärkerer Anspannung ihrer Wahrnehmungs- und Denktätigkeit trainiert hat, wie sich einzelne Völker zu immer stärkerer Anspannung ihrer Muskeltätigkeit trainiert haben. Wohl ist es wahr, daß die sogenannten Wilden wie die Kinder von uns unaufmerksam genannt werden; sie sind es aber nur vom Standpunkte unseres Bewußtseinsinhalts. Sie apperzipieren nicht gern, was wir apperzipieren. Im Stande der Wildheit oder der Kindheit muß der bewußte Wille aufgewandt werden zu der Anstrengung des Aufmerkens. Nur die Masse des Bewußtseinsinhalts und die Zahl seiner Kombinationen wird durch die Zivilisationsentwicklung gesteigert, nicht die individuelle Neigung, aufzumerken, die unwillkürlich beim Kinde und beim Wilden vorhanden ist, sehr groß sogar im Verhältnis zum vorläufigen Bewußtseinsinhalt. Nicht umsonst enthalten die Schulzensuren eine besondere Rubrik für die Aufmerksamkeit; sie ist außerordentlich wichtig für die Beurteilung des Schülers. Aber die Schablone genügt nicht. Manch ein Schüler kann den höchsten Grad der Aufmerksamkeit für seine individuellen Interessen besitzen, z.B. für Käfer oder für das Butterbrot seines Nachbars oder für die Zöpfe eines kleinen Mädchens, der dennoch für die Interessen der Schule unaufmerksam ist. Ein solcher Schüler ist aufmerksam, vom psychologischen Standpunkte, unaufmerksam nur vom Standpunkte einer Schulregulative, die ihn doch gar nichts angeht.
Ebenso steht es mit den gelehrigen Affen, welche nach einer Bemerkung DARWINs von einem Affenabrichter nach dem Grade der Aufmerksamkeit bezahlt wurden, deren sie fähig waren. Das war eine menschliche eine unnatürliche Klassifikation dieser Affen. Aufmerksam ist auch der Affe, der Flöhe im Felle seiner Kinder sucht; Aufmerksamkeit für die Lehren des Affenabrichters ist eine menschliche Bezeichnung, wie wenn wir einem Tiger Bosheit zuschreiben.
Die Kritik des Begriffs Aufmerksamkeit hat uns also bis jetzt schon die vorläufige Definition bestätigt, daß Aufmerksamkeit die Empfindung einer Anstrengung sei; sie hat uns außerdem eine Fülle sogenannter negativer Ergebnisse geliefert. Wir haben gesehen, daß die Aufmerksamkeit sich nicht wie irgend ein Haufe von wirklichen Dingen in feinere oder gröbere Bestandteile, daß die Aufmerksamkeit sich nicht in Unterarten einteilen lasse. Weder die Einteilung in passive und aktive Aufmerksamkeit, noch die in unwillkürliche und willkürliche Aufmerksamkeit ergab feste Grenzlinien. Dann glaubten wir das Wesen der Aufmerksamkeit besser beobachten zu können an dem Unterschiede zwischen aufmerksamem Wahrnehmen und aufmerksamem Denken; aber auch hier schoben sich die früheren Einteilungsgründe dazwischen, und die schönsten Vorstellungen vom Wollen gerieten ins Schwanken. Als nun gar die personifizierte Aufmerksamkeit zugleich die Wirkung und die Ursache der Menschenentwicklung sein sollte, da wurden wir stutzig. Wir kehren jetzt zum Anfang der Untersuchung zurück. Läßt sich die Aufmerksamkeit irgendwie einteilen, ist sie gar Ursache, geschweige denn Wirkung der Entwicklung, so muß sie ein Ding sein, z.B. eine personifizierte Kraft, etwas Objektives; nach unserer vorläufigen Definition ist sie eine Empfindung, etwas Subjektives. Wohlgemerkt, hier darf man nicht mehr von einem Einteilungsgrunde reden. Die Aufmerksamkeit in eine subjektive und in eine objektive einzuteilen, das wäre ebenso falsch, wie wenn man ein Siegel in das vertiefte und in das erhabene Siegel einteilen wollte, weil Siegel und Siegelabdruck vertieft oder erhaben sind, je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit auf das Material lenken.
Es bleibt noch übrig, an einigen Beispielen zu zeigen welche Wirkung die Aufmerksamkeit dort ausübt, wo wir ihr nach alten Schulbegriffen gar keine Rechte einräumen, in der Logik nämlich. Hier spielt sie aber eine entscheidende Rolle; wie wir ohne die Fähigkeit aufzumerken, nicht als Menschen sehen und hören können, so besorgt auch die Aufmerksamkeit das, was wir nachher unser logisches Denken nennen.
Ich setze dabei voraus, daß später zugestanden werden wird, jedes Urteil sei nur eine Tautologie. Der Anerkenntnis dieser Grundwahrheit steht uns nur unser Gefühl entgegen, daß tautologische Sätze in Ewigkeit nicht weiter führen könnten; wir haben aber sehr häufig die Überzeugung, durch Aneinanderreihung von Sätzen im Denken weiter zu kommen. Es ist das derselbe Widerspruch wie der in der Bewertung der Sprache; sie ist unfähig, dem Denkprozesse zu dienen, und doch denken wir in ihr.
In welcher Weise die Aufmerksamkeit da mitspricht, sehen wir am einfachsten und schnellsten, wenn wir diejenige Art von Tautologien betrachten, die wir Schlüsse nennen und uns gleich an das gemeinste Schulbeispiel halten. “Alle Menschen sind sterblich, Peter ist ein Mensch, also ist Peter sterblich.” Ich glaube nicht, daß jemals ein Mensch unserer Zeit zu der Vermutung, Peter sei sterblich, durch einen solchen Schluß gelangt ist. Für unsere Weltanschauung haben wir da drei Tautologien; die beiden Prämissen sind Tautologien und der Schluß ist erst recht eine Tautologie. Unablösbar ist von unserer Vorstellung “Menschen” die Gewißheit, daß alle sterben werden, unablösbar von der Vorstellung Peter, daß er ein Mensch sei, unablösbar von der Vorstellung Peter, daß er sterblich sei. Unablösbar natürlich nur für den Zustand der Aufmerksamkeit. Solange unsere Aufmerksamkeit nicht auf den Tod gelenkt ist, solange leben wir dahin wie andere Tiere und denken nicht daran, daß Peter oder Paul oder wir selbst sterben müssen. Wird aber Peter krank, oder wird er achtzig Jahre alt, oder hoffen wir, ihn zu beerben, oder fürchten wir von seinem Tode einen Verlust für uns, einen Verlust für unser Volk, so vollzieht sich blitzschnell die Arbeit der Aufmerksamkeit; und vor unserem Bewußtsein steht die Überzeugung, daß Peter sterblich sei. Niemand, wie gesagt, braucht dazu eine Schlußfolgerung. Peter, Menschen und sterblich sind in unserem Bewußtsein wie drei Seiten eines Dreiecks. Wir können aus praktischen Gründen oder zum Spiele bald die eine, bald die andere Seite in den Blickpunkt unserer Aufmerksamkeit bringen, aber das Verhältnis der drei Seiten in unserem Bewußtsein ist unbeweglich. Nicht die Begriffe bewegen sich, wenn wir schließen; wir bewegen unsere Aufmerksamkeit über die Begriffe hin. So bewegt sich auch die Statue nicht, wenn wir um sie herum gehen und sie von allen Seiten betrachten.
Nicht wir vollziehen einen Schluß, wenn wir auf Peters Sterblichkeit aufmerksam werden; der Schluß, ein Induktivschluß natürlich, ist von unseren Urahnen vollzogen worden, als sie auf das Sterben der Menschen aufmerksam wurden, vielleicht Hunderttausende von Jahren sich über den Tod wunderten, dann immer noch die Ausnahmslosigkeit bezweifelten (Ahasver, Elias) und endlich den Begriff der Sterblichkeit als Erinnerung an unzählige Beobachtungen des Menschengeschlechts in das Gedächtnis des Menschengeschlechts oder die Sprache aufnahmen. Die Tiere besaßen nur nicht die Aufmerksamkeit oder das Interesse, auf den Tod ihrer Mittiere zu achten; so konnten sie sich den Begriff der allgeme nen Sterblichkeit nicht bilden. Hätten sie diesen Begriff, so würde ihre Aufmerksamkeit wohl hinreichen, das Allgemeine im Besonderen zu bemerken. An jedem Tag vollzieht nach dem lateinischen Sprichworte der Esel den Induktionsschluß, sich nicht zweimal an dem gleichen Stein zu stoßen. Der Begriff der Sterblichkeit war anfangs eine geniale Hypothese der Menschen, bis er eine sehr banale und überaus wahrscheinliche Hypothese geworden ist. Jede Begriffsbildung muß mit einer solchen Hypothese anfangen. Die Tiere aber haben keine Neigung zur Hypothesenbildung.
In den Urteilen und Definitionen, in welche wir unsere Begriffe beim sogenannten Schließen zerfasern, liegt die Tautologie noch offener zu Tage. “Kochsalz ist Chlornatrium.” Das ist die reine Tautologie gerade vom Standpunkte der Logik. Man kann den Satz ohne weiteres umkehren wie die Formel a = a. Es ist aber nicht wahr, daß man den Satz “Kochsalz ist Chlornatrium” umkehren kann, ohne seinen Sinn zu verändern, nicht wahr, daß die logische Formel auf die lebendige Sprache paßt. Je nachdem die Aufmerksamkeit auf das gemeinsprachliche Kochsalz oder auf den technischen Ausdruck Chlornatrium gelenkt wird, ist der Sinn ein anderer und verliert der Satz seinen tautologischen Charakter. Es macht auch einen Unterschied, ob der Redende die eigene Aufmerksamkeit auf eines der Urteilsglieder lenkt, oder etwa die Aufmerksamkeit eines Schülers. Auch bei diesen wissenschaftlichen Urteilen oder Definitionen handelt es sich wie bei der Begriffsbildung überhaupt, gewissermaßen um Hypothesen oder doch um die Vorläufigkeit der Definition. Was die Chemie sich bei dem Satze “Kochsalz ist Chlornatrium” vorstellt, das ist für die gegenwärtige Sachkenntnis wohl richtig; die Definition wird aber in künftigen Jahrhunderten gewiß ebenso schief erscheinen, wie uns die Definition der Kalke aus der phlogistischen Zeit, die damals vorläufig richtig war. Das ist der letzte Grund, weshalb es Realdefinitionen nicht gibt, sondern nur Nominaldefinitionen.
Im Wesen nun der Worterklärungen scheint es mir zu liegen, daß sie Tautologien sind; rechts und links von dem Gleichheitsstriche oder der Kopula “ist” stehen die gleichgesetzten Glieder, und unsere Aufmerksamkeit macht so empfindlich, daß durch ihr bloßes Hinblicken das rechte oder das linke Glied sich verwandelt. Es ist, als ob unsere Aufmerksamkeit bald die rechte, bald die linke Schale einer gleichstehenden Wage anblicken wollte, und dieses Anblicken allein bald die rechte, bald die linke Schale zum Sinken brächte. Unsere ganze Weltanschauung ist in solchenTautologien niedergelegt, in gleichstehenden Wagschalen, deren Gewichte durch den Grad unserer Aufmerksamkeit vermehrt oder vermindert werden. Hypothese oder vorläufige Definition ist alIes, in der Wissenschaft sowohl wie in unseren Werturteilen. Und der sogenannte Fortschritt der Menschheit ist wie bei der Begriffsbildung von “Sterblichkeit” nur darin zu finden, in Werturteilen wie in der Wissenschaft, daß unsere Aufmerksamkeit feinere und feinere Gewichtsunterschiede bemerkt, d.h. erzeugt. Unsere Gesetzbücher haben heute tausend Paragraphen, wo einst zehn Gebote genügten; unsere Lehrbücher sind angeschwollen. Aber wo der Richter, wo der Forscher mit gespannter Aufmerksamkeit hinblickt, da genügen ihm die tausend und abertausend Tautologien nicht. Er legt der Tautologie, die im Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit ist, auf der rechten oder auf der linken Schale ein minimales Gewicht hinzu.
So ist es die ehrliche Aufmerksamkeit, durch welche wir denken. Und durch Erregung der Aufmerksamkeit wird von Forschern und Richtern die Welt gelenkt, von Rednern die Menge beeinflußt. Dafür nur ein einziges Beispiel. Die ‘Epitheta ornantia werden in der Poesie, in der Redekunst und im alltäglichen Gespräche unaufhörlich gebraucht, ohne logisch untergebracht werden zu können. Sagt z.B. ein Volksredner “die reichen Fabrikanten”, so fügt er gewöhnlich im Zusammenhange seiner Darstellung dem Worte “Fabrikanten ” nur ein ‘Epitheton ornans hinzu. In seinem Sinne und im Sinne seiner Zuhörer wird der Begriff Fabrikant durch das Eigenschaftswort “reich” nicht im mindesten eingeschränkt. Der Redner will nicht aus der Klasse der Fabrikanten eine Unterklasse der reichen Fabrikanten herausheben. In seinem Sinne und im Sinne seiner Zuhörer ist: Fabrikant = reicher Fabrikant. Aber die Aufmerksamkeit der Zuhörer wird so stark auf das scheinbar wertlose Eigenschaftswort gelenkt, daß ihnen die Gleichung “Fabrikant = reicher Fabrikant” für die Dauer der Rede und lange nachher nicht als Hypothese, sondern als vollständiger Induktionsschluß erscheint. Dieser Mißbrauch der Aufmerksamkeitserregung hat manches Schlimme und viel Gutes in der Welt gestiftet. Ich wollte ihn nicht sittlich tadeln, sondern nur auf die psychologische Tatsache hinweisen, daß auch in solchen Fällen es unsere Aufmerksamkeit ist, was in uns denkt, was bei richtigen und falschen Tautologien oft unkontrollierbar den Ausschlag gibt.
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