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25. Stimmung und Wortbildung

Gute Stimmung ist gute Gedankenklarheit, Heiterkeit ist Klarheit, wie am Himmel.”

Stimmung” ist ein viel­deu­ti­ges Wort. Zwischen der Stimmung einer Stimmgabel, die sich mathe­ma­tisch auf 870 Schwingungen in der Sekunde für das einge­stri­chene a ange­ben läßt, und zwischen der soge­nann­ten Stimmung einer Landschaft, die sich weder beschrei­ben noch erklä­ren läßt, liegen zahl­rei­che Schattierungen des Begriffs. Seine Herkunft ist ebenso deut­lich, wie die des zu Grunde liegen­den “Stimme” undeut­lich ist. Es kommt von der Musik her. Früher, mehr intran­si­tiv, “stimm­ten” die Saiten, wenn sie den rich­ti­gen Klang gaben. (Heute noch: “das stimmt”.) Später stimmte man, tran­si­tiv, die Saiten auf den rich­ti­gen Klang. Dann spielte man, meta­pho­risch, auf der Seele; man stimmte sie lustig, trau­rig u.s.w. Jedes Gemeingefühl der “Seele” wurde zu einer Stimmung.

Da für uns die Seele aber nichts weiter gewor­den ist oder noch werden wird, als die Summe unse­rer bewuß­ten und und größte Grad der Langsamkeit, kann uns trau­rig, verzwei­felt, wahn­sin­nig machen. Es ist bekannt, daß ein mäßi­ger Alkoholgenuß eine heitere Stimmung und zugleich eine lebhaf­tere (nicht eine rich­ti­gere, aber darauf kommt es der Heiterkeit nicht an), eine raschere Geistesarbeit zur Folge habe; zugleich, weil eines nur ein ande­res Wort für das andere ist. Es ist sogar beob­ach­tet worden, daß Melancholiker bei leich­te­ren Fieberanfällen heite­rer wurden. Gute Stimmung ist gute Gedankenklarheit, Heiterkeit ist Klarheit, wie am Himmel.

Gute Arbeitsstimmung ist also eine leich­tere Erregbarkeit unse­res Gedächtnisses, und da dieses nichts ist als unser Sprachschatz, so können wir diese Stimmung als die bessere oder schlech­tere Bereitschaft unse­res Sprachschatzes erklä­ren. Wer ein Gespräch am rasches­ten mobil zu machen weiß, gilt für einen Mann von bester Stimmung.

Um zu erfah­ren, daß auch die andere Stimmung, d. h. der Grad unse­rer Vergnügtheit etwas Ähnliches sei, wollen wir als Übergang die mecha­ni­sche Arbeitsstimmung anse­hen. Auch die Sängerin, auch der Klavierspieler, auch der Glasschleifer, auch der abge­rich­tete Pudel sind nicht immer glei­cher Stimmung. Vieles gelingt in guter Stimmung, was in schlech­ter mißlingt. Wie nennen wir das? Wir müssen sagen, daß das eine Mal die Nervenbahnen der Gedächtnisse oder die Gedächtnisbahnen glatt durch­fah­ren werden, das andere Mal mit Hemmungen. Die Sängerin, der Glasschleifer, der abge­rich­tete Pudel sind in guter Arbeitsstimmung, wenn ihr wort­lo­ser Gedächtnisschatz in guter Bereitschaft ist, wenn der ganze unge­heuer kompli­zierte Apparat (die Feinheiten in den Fingern des Glasschleifers sind nicht gerin­ger als im Kehlkopf der Sängerin) unbe­wußt oder doch regel­mä­ßig, d.h. nach der geüb­ten Weise, arbeitet.

Nun kann man, ohne den Worten irgend­wel­che Gewalt anzu­tun, sagen, daß unsere allge­meine Stimmung, unser Gemeingefühl davon abhängt, ob die physio­lo­gi­schen Arbeiten unse­res Körpers (beson­ders Verdauung und Atmung samt dem Blutkreislauf) glatt und ohne Störung verlau­fen, ob also die Gedächtnisse der sympa­thi­schen Nervenbahnen, ob unsere physio­lo­gi­schen Gedächtnisse in tadel­lo­ser Bereitschaft sind. Wir sind vergnügt, in guter Stimmung, wenn das alles ganz unbe­wußt funk­tio­niert, wenn keine Hemmung diese physio­lo­gi­schen Vorgänge zum Bewußtsein bringt.

Wem also an hübschen, zusam­men­fas­sen­den Definitionen etwas gele­gen ist, der darf sagen: Unsere (körper­li­che oder geis­tige) Stimmung ist der Grad der Bereitschaft unse­rer (unbe­wuß­ten oder bewuß­ten) Gedächtnisse. Die allge­meine körper­li­che Stimmung verläuft darum, solange sie gut ist, wort­los und greift erst in bösen Stunden — oder aber in der schmerz­li­chen Wollust, wie in deren Heuchelei — zum Wort oder doch zur Interjektion, als zu den Zeichen der Gedächtnishemmung oder des Schmerzes oder des Bewußtseins. Die geis­tige Arbeitsstimmung ist der Grad der Bereitschaft des Wortschatzes und kann oft durch Talent oder Fleiß, durch Alkohol oder durch fixe Ideen vorüber­ge­hend geho­ben werden.

Wer nicht die Notwendigkeit, d.h. Bedingtheit alles Geschehens vor dem Denken will Halt machen lassen, der wird nicht leug­nen, daß das mensch­li­che Denken, nament­lich das unbe­wußte oder bewußte Sinnen, Ersinnen, Nachdenken und Grübeln durch­aus abhän­gig ist von den schein­bar frei aufstei­gen­den Assoziationen der Vorstellungen oder Begriffe. (Das erste für die Dichter näher, das zweite für die Denker.) Nun hat die Psychologie einige Gesetze für die Assoziationen von Vorstellungen ermit­telt; Gesetze, welche leider an das einzige Gesetz der Nürnberger erin­nern, die keinen hängen, sie hätten es denn vor. Der mensch­li­che Wissensdrang will immer seine Gesetzmäßigkeit an Stelle der erkann­ten Notwendigkeit setzen.

Aber eines ist bisher verges­sen worden, daß die Anfangsvorstellung beim begriff­li­chen Denken fast immer von einem Worte ausgeht, oder sich um des lieben Friedens willen rasch in ein Wort wandelt, daß dieses Wort einer bestimm­ten Sprache ange­hört und daß das Spiel der Assoziationen nun im Rahmen dieser indi­vi­du­el­len Sprache zu Ende geführt werden muß. Es gibt last kein Wort im Französischen, welches genau die glei­che Assoziationssphäre (ein glück­li­ches Wort LIEBMANNs) hätte, wie das entspre­chende deut­sche Wort. Man denke an die Assoziationssphäre von emper­eur, an die von Kaiser, amour und Liebe, monde und Welt, ville und Stadt. Jedes Wörterbuch ist eine Sammlung von Beispielen. Ebenso rufen die Worte in den verschie­de­nen Dialekten dersel­ben Sprache verschie­dene Assoziationen hervor. “Berg” und “Schiff” sind für den Norddeutschen Anfangsglieder ande­rer Gedankenketten als für den Süddeutschen, schon dem Dialekt nach. Und da schließ­lich jede Stadt, darin jeder Stand, da wieder jede Familie und in der Familie jeder einzelne seine indi­vi­du­elle Sprache hat, so bewegt sich das Denken keines Menschen genau in den Bahnen irgend eines ande­ren Menschen. Äußerlich läßt es sich dann á peu près über einen Leisten schla­gen; genau stimmt es so wenig wie Übersetzung und Original.

Wollte ich mich “syste­ma­tisch” auf früher Gesagtes beru­fen, so könnte ich die Subjektivität alles höhe­ren, begriff­li­chen, wert­vol­le­ren Denkens einfach genug bewei­sen. Wir haben ja gese­hen, daß es Sprache an sich nicht gibt, daß es nur Individualsprachen gibt. Da nun das begriff­li­che Denken seine Assoziationen stets an Worte bindet, also an die Worte der Individualsprache des Denkenden, so muß der Assoziationsverlauf in poten­zier­ter Weise indi­vi­du­ell sein, subjek­tiv. Aber die Assoziationen, welche allem Denken das Material liefern, sind nicht immer begriff­li­cher Art, werden uns nicht immer als Sprache bewußt, sind nicht immer apper­zep­tive Assoziationen. Es wäre also möglich, daß wir die Assoziationen in objek­tive und in subjek­tive einzu­tei­len hätten. Das leise Lachen, das mir die Wortzusammenstellung “objek­tive Assoziationen” sofort erweckt, bin ich außer stande, dem Leser asso­zia­tiv mitzu­tei­len, wenn nicht eine ähnli­che Seelensituation bei ihm sofort ein ähnli­ches leises Lachen auslöst.

Kein Gebiet der Psychologie ist von alters her so sauber ausge­ar­bei­tet worden, wie die Lehre von der Assoziation der Gedanken. Selbst noch der kleinste Katechismus der Psychologie weiß davon zu erzäh­len, wie eine Vorstellung immer durch eine andere hervor­ge­ru­fen wird, und wie diese soge­nann­ten Ideenassoziationen bald auf die Ähnlichkeit der Vorstellungen, bald auf den äuße­ren Zusammenhang in Raum und Zeit zurück­zu­füh­ren seien. WUNDT (Phys. Ps. 11, 376) hat die Assoziationen schär­fer in weitere Unterabteilungen geord­net, zuerst in äußere und innere Assoziationen, die äuße­ren wieder in die der gleich­zei­ti­gen Vorstellungen jeder Art und in die der sukzes­si­ven Schall- und Gesichtsvorstellungen; die inne­ren Assoziationen hat er nach den Kategorien des Begriffs, der Ähnlichkeit und der Kausalität in ein System zu brin­gen gesucht. Diese “Ordnung” unbe­ob­ach­te­ter Phänomene ist seit­dem von den Schülern WUNDTs oft zerbro­chen, geleimt, wieder zerbro­chen und wieder geleimt worden. Lesenswert sind die Ausführungen von ZIEHEN, MÜNSTERBERG, HELLPACH und JERUSALEM. Eine gründ­li­che Revision der psycho­lo­gi­schen Sprache fehlt beson­ders auf diesem Gebiete.

Als letzte Unterlage der Gedankenassoziation muß die Wissenschaft die Übung der Nervenbahnen zuge­ben. Wenn die Geleise oder Spuren in den Nervenbahnen auch für unsere Instrumente nicht nach­weis­bar sind, ja selbst wenn man das Wort Spur vermei­den möchte, so muß man doch glau­ben, daß die verhält­nis­mä­ßig leich­tere Verbindung mitein­an­der einge­üb­ter Vorstellungen eine Veränderung der Nervenbahn voraus­setze und verstärke, sowie sich die Übung des Athletenarms oder der Klavierspielerhand ganz deut­lich im Wachstum des Muskels darstelle. Diese Zurückführung der Gedankenassoziation auf Nervenbahnübungen, also auf die eigent­li­chen Erzeuger unse­rer Worte, sollte leicht darauf schlie­ßen lassen, daß die Gedankenassoziation nichts weiter sein werde als eine andere Bezeichnung für die mensch­li­che Sprache.

Und sehen wir uns irgend eine Tafel der Assoziationen darauf­hin an, so werden wir die Entdeckung machen, daß sich alle Formen der Assoziationen zurück­füh­ren lassen auf Vergleichungen oder Ähnlichkeiten, aus denen wir Begriffe oder Worte bilden, und auf solche, die wir aus den Begriffen oder Worten bilden. Die ersten, die begriff­bil­d­en­den Assoziationen nennen wir in ihrer Hauptmasse (den reinen Gedächtniskram ausge­nom­men) ganz gut die äuße­ren Assoziationen; die Geschöpfe unse­rer Worte nennen wir ganz schlecht die inne­ren Assoziationen. Wir müssen zuerst die Kategorien der über- und unter­ge­ord­ne­ten Begriffe, der Ähnlichkeit und des Gegensatzes, des Zwecks und der Kausalität gebil­det haben, bevor mir uns einbil­den können, derar­tige Spiele der Worte in uns vorzu­fin­den. Und weil Psychologie nicht Erkenntnistheorie ist, darum ist es für die Assoziations‑, ebenso wie für die Apperzeptions-Psychologie nicht erfor­der­lich, zu wissen, was Subsumtion, was Ähnlichkeit und Gegensatz, was Zweck und Kausalität eigent­lich sei. Der Streit darüber, ob zuerst Psychologie oder Philosophie zu trei­ben sei, wird doch nicht am Ende lächer­lich sein für die geis­tige Wirklichkeit?

Das Urphänomen ist also das der Wortbildung. Wir verglei­chen zwei Vorstellungen und üben uns für die ähnli­chen Lautzeichen ein. Die Verbindung tritt uns hier oft als eine Art Nachbarschaft (in Raum oder Zeit) entge­gen, und das, was vergleicht, ist unser Gedächtnis, das uns sonst als die letzte Wirklichkeit des mythi­schen Bewußtseins erschien, hier aber sofort selbst wieder mytho­lo­gi­sches Gewand annimmt. Man kann sagen: Bewußtseinselemente (Vorstellungen, Worte) kommen einan­der nahe, wenn sie einan­der nahe waren.

So zerfließt jeder Begriff bei der Berührung, und wenn hinter dem Gedächtnis das Ich sich nun zu Worte melden will, so lassen wir uns nicht mehr täuschen. Wir kennen kein dauern­des Ich, wir kennen nur Momente des Lebensdranges und das Gedächtnis jedes einzel­nen Moments. Und wie dieser Wille in uns (der Mythus Wille ist natür­lich nicht besser als ein ande­rer) aus dem gewal­ti­gen Gesichtsfeld seiner Netzhaut einen Punkt vor den benach­bar­ten auswählt, weiter sein Interesse gereizt hat, und ihn auf die Stelle des deut­lichs­ten Sehens einstellt, so wählt er unter den Worten, die die Gedankenassoziation mit kupp­le­ri­scher Gefälligkeit darbie­tet, nach seiner Neigung eine aus und wirft ihr das Taschentuch zu. So entschei­det auch hier unser Leben über unser Sprechen und Denken, und nicht umgekehrt.

Es ist eine oft beob­ach­tete Tatsache, daß von zwei Vorstellungen oder Anschauungen, Begriffen oder Worten, die mitein­an­der asso­zi­iert sind, das erste für das zweite nicht immer ebenso zugkräf­tig, nicht ebenso leitungs­fä­hig ist, wie das zweite für das erste. Das könnte anfangs über­ra­schen. Denn sonst ist ja die Entfernung von A nach B nicht größer oder klei­ner als die von B nach A.

Schon der Vergleich aber mit der Anziehung zweier Körper hätte die Überraschung mildern können. Die Anziehungskräfte zwischen Erde und Mond haben ihre Gesetze, darum ist die Zugkraft des Mondes nicht gleich der Zugkraft der Erde.

Aber bei den Gedankenassoziationen liegt der Fall noch einfa­cher. Es handelt sich bei ihnen durch­aus um Gedächtniserscheinungen, fast immer um die Erinnerung und Geläufigkeit von Wortbahnen. Um die Erinnerung an Bahnen; also nicht um Strecken, sondern um Kenntnis der Strecken. Man braucht bloß daran gemahnt zu werden, daß man einen Weg in der einen Richtung recht genau kennen kann, ohne ihn in entge­gen­ge­setz­ter Richtung so leicht zu finden; wenn ich gewohnt bin (aus Bequemlichkeit gewohnt bin), den Spaziergang von Berlin nach Schlachtensee zu Fuß zu machen, zurück aber jedes­mal die Eisenbahn zu benut­zen, so werde ich schließ­lich den Hinweg gedan­ken­los gehen und ihn selbst bei Nacht finden, werde aber den Rückweg, wenn ich ihn endlich einmal zu Fuß machen will, mühsam suchen müssen. Ebenso sagen wir das Abc vorwärts ganz geläu­fig auf (wir üben es ja täglich in dieser Richtung beim Nachschlagen alpha­be­tisch geord­ne­ter Reihen), stot­tern aber, wenn wir es rück­wärts aufsa­gen sollen. Es hat ja auch keinen Zweck, es rück­wärts zu lernen, sagt man.

Es hat keinen Zweck. Und der Zweck bestimmt nicht allein das absicht­li­che Lernen, sondern eben erst recht das unab­sicht­li­che Lernen durch die Gewohnheit.

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so ist unser Interesse viel häufi­ger, sie zu verste­hen als sie zu spre­chen; bei uns ande­ren wenigs­tens, die wir mehr lesen als spre­chen. Daher bildet sich die Gewohnheit, zum frem­den Wort das der Muttersprache zu asso­zi­ie­ren oder gar das Objekt selbst, schnel­ler als die andere Bahngewohnheit, vom deut­schen Worte aus oder gar vom Objekt aus das fremde Wort zu asso­zi­ie­ren. Das Interesse also bestimmt die Gewohnheit und diese sodann die Richtungskraft der Assoziation.

Wie unter­ge­ord­net das Amt des Bewußtseins oder des bewuß­ten Gedächtnisses dabei ist, kann man daraus erse­hen, daß auch die Bahnen der unbe­wuß­ten Gewohnheiten nicht nach allen Richtungen gleich schnell arbei­ten. Ich bin wenigs­tens so frei zu glau­ben, daß es mit dem sofor­ti­gen Urindrang nach Wassertrinken (während Urinieren keinen Durst erweckt) ganz ähnli­che Bewandtnis haben mag, wie mit der Geläufigkeit des Abc nach den zwei Richtungen. Nur daß wir in diesem physio­lo­gi­schen Beispiele wohl das Interesse nicht kennen, das die eine Bahnrichtung vor der ande­ren geläu­fi­ger gemacht hat.

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