Und wie bei Laura Bridgman gibt es auch bei Vollsinnigen ganze Wortgruppen, beson­ders aus dem Gebiete der Moral und Theologie, der Philosophie und der Ästhetik, die sie zum bloßen Schwatzvergnügen einge­übt haben, weil der Schullehrer sie ihnen auf der Schule, dem Gymnasium oder der Universität beibrachte.”

Wir behaup­ten, das Weltbild der Amöbe sei objek­ti­ver als das des Menschen, die amöbi­sche Orientierung in den Weltvibrationen müsse der Wirklichkeit ähnli­cher sein. Könnten wir uns nun einen Organismus vorstel­len, der ohne Gesicht und Gehör, mit mangel­haf­tem Geschmack und Geruch, nur mit einem guten Tastgefühl ausge­rüs­tet in der Welt stünde, trotz­dem aber in Menschensprache mensch­li­che Mitteilung machen könnte, so könn­ten wir uns in diesem Organismus den Enträtseler der Welt denken. So steht es aber um philo­so­phi­sche Konstruktionen. Der mühsam erdachte, wider­spruchs­volle Organismus exis­tiert, exis­tiert leider in zu vielen Exemplaren, in den soge­nann­ten Dreisinnigen, von denen LAURA BRIDGMAN zuerst und am besten beob­ach­tet worden ist. Anstatt jedoch die Rätsel der Welterkenntnis zu lösen, fügt dieser Organismus nur ein neues Rätsel hinzu. Ich behandle den Fall hier, weil er doch eini­ges Licht verbrei­tet über die rela­tiv objek­ti­ven Erkenntnisdaten der Sinne und über die völlig subjek­ti­ven Arbeitsleistungen der Assoziationen.

Nur ein Wort schi­cke ich voraus: Meine Konstruktion, die Amöbe mit Menschensprache, unter­schei­det sich gründ­lich von der Konstruktion der Natur, von dem Experimente, das die Natur an den Dreisinnigen ange­stellt hat. Weil drei­sin­nige Menschen nicht Amöben sind, weil Gesicht und Gehör zwar ausge­schal­tet sind, aber das ererbte Menschengehirn mit seiner Anlage zu mensch­li­chen, voll­sin­ni­gen Assoziationen vorhan­den ist, also die Anlage und die Tendenz zur Subjektivität. Weil endlich die Sprache der Dreisinnigen nicht von ihnen erfun­den, nicht amöbisch, nicht objek­tiv ist, sondern die mangel­haft beigebrachte Sprache voll­sin­ni­ger, fünf­sin­ni­ger Menschen. Das wollen wir nicht verges­sen, wenn wir uns jetzt dem Falle der LAURA BRIDGMAN zuwenden.

LAURA BRIDGMAN, die arme drei­sin­nige Amerikanerin, wird etwa zwölf Jahre alt gewe­sen sein, als sie erfuhr, daß sie sich von ande­ren Kindern unter­schied und daß sie nur drei Sinne besaß, nämlich den Tastsinn und außer­dem ein bißchen Geruch und Geschmack. Sie hatte damals schon das Wort denken ( think ) halb als Verbum, halb als Substantiv kennen gelernt und gebrauchte es auffal­lend häufig für die Anstrengung des Denkens, die sie in ihrem Kopfe loka­li­siert empfand. So sagte sie z.B.: “Mein Denken ist müde.” Als sie nun erfuhr, sie habe nur drei Sinne, rief sie: “Ich habe vier Sinne: Denken und Nase und Mund und Finger (think and nose and mouth and fingers).” Ich will kein beson­de­res Gewicht darauf legen, daß sie für ihre drei Sinne die Sinnesorgane oder doch die gröbs­ten Sinnesorgane nannte und das Denken abstrakt bezeich­nete; ich habe schon bemerkt, daß think ihr etwa ein Substantiv war und daß sie den Kopf gar wohl als das Sinneswerkzeug der Denkarbeit betrach­ten konnte, wie die Nase als das Sinneswerkzeug der Geruchsarbeit. Was die Lehrer ihr jedoch mit dem Tastzeichen für think beibrach­ten, das empfand die Selbstbeobachtung des armen Kindes sicher­lich als die schwere Arbeit, sich der Assoziationen ihrer Tastempfindungen zu erin­nern, und mochte so den Kopf als das Werkzeug der Erinnerungsarbeit der Nase, dem Munde und den Fingern gleichstellen.

LAURAs Gedächtnis war außer­or­dent­lich gut entwi­ckelt. In ihrem vier­zehn­ten Lebensjahre wurde ihr ein kind­li­ches Lesestück in ihrer Sprache “vorge­le­sen”, und LAURA mußte es am nächs­ten Tage aus dem Gedächtnisse nieder­schrei­ben. Diese Niederschrift hält sich, wenn man von einer gewis­sen Freude an klei­nen Steigerungen absieht, so genau an das Original, daß eine solche Leistung einem voll­sin­ni­gen Kinde glei­chen Alters nicht immer gelin­gen würde. LAURA ist also ein Beweis dafür, daß ein außer­or­dent­li­ches Gedächtnis alle oder doch die meis­ten Assoziationen, deren Verbindungen unsere Welterkenntnis oder Sprache ausma­chen, auch ohne Gesicht und Gehör an den Tastsinn binden kann.

Das furcht­bare Experiment, welches die Natur an solchen Dreisinnigen, d.h. an Kindern ange­stellt hat, die zugleich voll­stän­dig blind und taub (und infolge der Taubheit auch stumm sind), kann für die Psychologie der Sprache nur unter Anwendung der schärfs­ten Kritik brauch­bare Ergebnisse liefern. Diese Kritik an dem bekann­tes­ten Falle, eben dem der LAURA BRIDGMAN zu üben, ist uns durch die gewis­sen­hafte Monographie WILHELM JERUSALEMs bequem gemacht. Der Fall ist frei­lich nicht ganz typisch für die Dreisinnigen. Denn erstens verlor LAURA Gesicht und Gehör erst, nach­dem sie voll­sin­nig zwei Jahre alt gewor­den war und die Anfangsgründe eines norma­len Weltbildes und der Sprache schon aufge­nom­men hatte; von unend­li­cher Bedeutung wäre es darum gewe­sen, ihr Gehirn, als sie im Alter von sech­zig Jahren gestor­ben war, nach der Methode von FLECHSIG zu unter­su­chen und es mit dem Gehirn drei­sin­nig Geborener zu verglei­chen. Zweitens war LAURA offen­bar ein ganz unge­wöhn­lich begab­tes, d. h. gedächt­nis­rei­ches und wißbe­gie­ri­ges, ehrgei­zi­ges Kind. Der erste Umstand kompli­ziert ihre Psychologie aufs äußerste; der zweite verführt dazu, die Leistung ihres Lehrers HOWE zu über­schät­zen. Seine Güte gegen das arme Kind kann frei­lich gar nicht genug hoch­ge­schätzt werden.

Hier möchte ich zunächst nur auf eines hinwei­sen, daß Laura nämlich durch den ihr gewor­de­nen Sprachunterricht ohne Zweifel eine außer­or­dent­li­che Wohltat empfing, daß sie in den Stand gesetzt wurde, mit Kindern und dann mit Erwachsenen zu verkeh­ren, daß jedoch weit mehr die Lust am Schwatzen als die Fähigkeit der Welterkenntnis in ihr ausge­bil­det wurde. Vom Standpunkte der Menschlichkeit ist dieser Unterricht im Verkehren und Schwatzen nicht genug zu rühmen; Doktor HOWE verwan­delte das bedau­erns­werte Geschöpf aus einem geschla­ge­nen und gesto­ße­nen Halbtiere in ein fröh­li­ches und verhät­schel­tes Menschenwesen. Berichte über andere Dreisinnige lassen das Tierische in ihrer vorsprach­li­chen Zeit noch deut­li­cher hervor­tre­ten; aber niemals dürfen wir über­se­hen, daß da das Epitheton “tierisch” immer nur meta­pho­risch gebraucht wird, haupt­säch­lich die Wildheit meint, daß mensch­li­che Instinkte und Bedürfnisse vorhan­den sind, und daß nach­her der Besitz der Sprache weit mehr dem Vergnügen, der Geselligkeit oder der Poesie als der Welterkenntnis dient. Die Psychologie muß sich hüten, das Geistesleben LAURAs wort­a­ber­gläu­bisch dem Geistesleben voll­sin­ni­ger Menschen um deswil­len etwa gleich zu setzen, weil LAURA abstrakte Sätze und sogar kleine Aufsätze schrei­ben konnte, wie nur irgend eine andere Schülerin. Zu beach­ten dabei und ihr gutzu­schrei­ben ist frei­lich die trau­rige Tatsache, daß das Experiment der Natur von den Menschen empfind­lich gestört wurde. Der wackere Doktor HOWE wollte nämlich mit der Unterweisung in reli­giö­sen Begriffen und Sätzen warten, bis LAURA die Vorstellungen von Ursache und Wirkung aufge­nom­men hätte. Die angeb­li­chen Gönner jedoch, welche das bißchen Geld für die Erziehung LAURAs herge­ge­ben hatten, setz­ten es durch, daß sie von ihrem elften Jahre ab in der “Religion” ihrer Gönner unter­rich­tet wurde, und da mußte sie frei­lich bald unver­stan­dene Wortfolgen wie “Heiliges Heim (der Himmel) ist von Ewigkeit zu Ewigkeit” für Eingebungen ihrer dich­te­ri­schen Phantasie halten.

Zum Vergleiche ladet ein älte­rer Fall ein, über welchen kein Geringerer als La METTRIE sein Urteil gespro­chen hat in einer der Krankengeschichten, die er seinem viel­ge­schmäh­ten Traité de l’âme hinzu­fügte. Als der Taubstumme von Chartres spre­chen gelernt hatte, befrag­ten ihn sogleich “geschickte Theologen” über seinen vergan­ge­nen Geisteszustand aus; ihre wich­tigs­ten Fragen dreh­ten sich um Gott, die Seele, die Güte und das mora­lisch Schlechte. Es schien nicht, daß er seine Gedanken hätte so weit schwei­fen lassen. Das sind die Worte des offi­zi­el­len Berichts, wie ihn die Pariser Akademie der Wissenschaften von 1703 liefert. In der Geschichte eines operier­ten Starblinden, der zunächst eine Kugel und einen Würfel nicht unter­schei­den konnte, kommt La METTRIE auf die Dummheit der Fragen zurück und gibt zu verste­hen, daß er mit LOCKE die ange­bo­re­nen Ideen leugne und im Verstande nichts suche, als was vorher in den Sinnen gewe­sen ist. “Man hat mehr Gewandtheit darin, Irrtümer zu stüt­zen, als die Wahrheit zu entde­cken. Die geschick­ten Theologen, welche den Taubstummen von Chartres ausfrag­ten, hoff­ten in der Menschennatur Urteile vorzu­fin­den, welche dem ersten Sinneseindruck voraus­gin­gen.” Sehr beach­tens­wert ist dabei, daß La METTRIE sich den Fall von LAURA BRIDGMAN im voraus konstru­iert, wenn er der Bemerkung des offi­zi­el­len Berichts, daß der größte Teil der allge­mei­nen Vorstellungen aus dem Verkehre der Menschen stamme, die Behauptung entge­gen­stellt, es gelte das noch allge­mei­ner. Wäre der Taubstumme auch noch blind gewe­sen, so wäre er ganz ohne Ideen geblie­ben, wobei La METTRIE aller­dings die Assoziationsfähigkeit der Tasteindrücke übersieht.

Fast gleich­zei­tig mit La METTRIE, aber doch etwas später, hat sich DIDEROT mit der Psychologie der Sinne beschäf­tigt. In seinen Briefen Sur les aveugles und Sur les Sourds et Muets. Besonders der zweite Brief (von 1751) ist des Mannes würdig, dessen Einfluß auf Europas Kultur, insbe­son­dere auf den deut­schen Geist (auf LESSING und GOETHE immer noch nicht genug deut­lich gemacht worden ist. Der Brief Sur les Sourds et Muets hat LESSING die Idee zu seinem Laokoon und CONDILLAC den Einfall gege­ben, seine viel­zi­tierte Marmorstatue durch Gewinn der einzel­nen Sinne zu einem Ich werden zu lassen. DIDEROT war nicht so gründ­lich wie LESSING, doch viel scharf­sich­ti­ger als CONDILLAC. DIDEROT erfand (darum nenne ich ihn hier) die Fiktion von Menschen, die nur Einen Sinn hätten. Sie würden einan­der für wahn­sin­nig halten. Wie das über­haupt alltäg­lich geschieht.

Abgesehen von solchen tiefen Scherzen weiß er besser als CONDILLAC, daß mit dem Tastsinn ange­fan­gen werden müsse. Man spielte mit der Vorstellung drei­sin­ni­ger, einsin­ni­ger Menschen. Doch ein leben­di­ges Wesen wie LAURA BRIDGMAN wäre auch noch hundert Jahre später kaum glaub­haft erschie­nen, hätte sie nicht wirk­lich gelebt und gelehrte Zeitgenossen in Erstaunen gesetzt.

Die starke Wahrscheinlichkeit, daß sie mit Vergnügen Worte ohne Sinn gebrauchte, ist nun schon bei ihren Lebzeiten ausge­spro­chen worden und zwar von dem ameri­ka­ni­schen Psychologen STANLEY HALL, der sie in ihrem fünf­zigs­ten Lebensjahre wissen­schaft­lich beob­ach­tete. Es ist öfter hervor­ge­ho­ben worden, daß LAURA die Farben der meis­ten Blumen, die Farben des Himmels, des Grases, des Blutes anzu­ge­ben wußte. (Daß sie die Farben ihrer eige­nen Kleider kannte, gehört nicht hier­her.) STANLEY HALL meint nun, alle diese Farbenbezeichnungen seien ganz konven­tio­nell und sprach­lich, ein bloßes Wortwissen. “Sie hat sich niemals einen Begriff davon gemacht, womit Farbe Ähnlichkeit habe, wie so viele Blinde tun. In ihrem Geiste ist Farbe nie mit einer ande­ren Sinnesempfindung iden­ti­fi­ziert oder in Analogie gebracht worden.”

Offenbar machte ihr das Bilden von Sätzen, wie “Himmel ist blau, Gras ist grün,” ein rech­tes Vergnügen, wie es spie­len­den Kindern ein Vergnügen ist, wenn sie sinn­lose Abzählverse anwen­den gelernt haben, wie es ehrgei­zi­gen Kindern in der Schule ein Vergnügen ist, völlig unver­stan­dene Sätze aus der Glaubenslehre rich­tig nach­zu­sa­gen. Einen hübschen Beleg dafür, wie das Sprechenlernen ihr Freude machte, ohne daß es sie im Denken oder im Verkehre förderte, gibt das folgende. Sie war im achten Jahre aus ihrer Halbtierheit heraus nach Boston in die Anstalt gebracht worden. Als sie nun zwei Jahre später mit ihrer Lehrerin ihr elter­li­ches Haus aufsuchte, erin­nerte sie sich der Räume und Gegenstände sehr wohl und ließ sich von der Lehrerin alle diese Erinnerungen nach­träg­lich benennen.

Warum bilde­ten nun LAURAs Wortzeichen für Farben keine Assoziationszentren? Bildeten ihr doch ihre Wortzeichen für Menschen und Dinge, für Handlungen und Gefühle sehr lebhafte Assoziationszentren. Offenbar darum nicht, weil die Bekanntschaft LAURAs mit der Wirklichkeitswelt (abge­se­hen von den sehr schlecht entwi­ckel­ten Sinnen für Geschmack und Geruch) ausschließ­lich durch den Tastsinn vermit­telt wurde und weil die Tastzeichen ihrer Worte nichts ande­res sein konn­ten als die Zwischenstationen zwischen ihrem Denken und ihren unmit­tel­ba­ren Tastwahrnehmungen, wie denn auch beim norma­len Menschen die hörba­ren, beim Büchermenschen die sicht­ba­ren Wortzeichen aus prak­ti­schen Gründen als Zwischenstationen zwischen dem Denken und allen Sinneswahmehmungen aufge­faßt werden könn­ten. Nur daß bei LAURA die Übersetzung in die hörba­ren oder sicht­ba­ren Zeichen fehlte. Wenn sie nun Worte für mensch­li­che Individuen, für Gegenstände des Hausrats u.s.w. gebrau­chen lernte, so asso­zi­ier­ten sich die Tastzeichen für Worte mit den Tastzeichen für Menschen und Dinge. Tastzeichen für Worte aus dem Gebiete des Hörens konn­ten immer noch wirk­li­che Wahrnehmungen asso­zi­ie­ren, weil LAURA ihren Tastsinn für die Vibrationen tönen­der Gegenstände oder der tönen­den Luft in erstaun­li­cher Weise verfei­nert hatte. Hatte sie jedoch Tastzeichen für Farbenworte erlernt, so war beim Lernen dieser Wortgattung eine Assoziation mit unmit­tel­ba­ren Tastempfindungen ausge­schlos­sen und es konn­ten darum beim späte­ren Gebrauche dieser Worte auch keine Assoziationen voll­zo­gen werden. Denn es gibt im Verstande auch keine Assoziation, die nicht vorher in den Sinnessphären ange­bahnt worden ist.

Uns aber ist dieses Schwatzen von LAURA BRIDGMAN neben­bei darum so lehr­reich, weil es mit dem Schwatzen ande­rer Menschen, auch mit dem Schwatzen von Gelehrten und Schriftstellern eine auffal­lende Ähnlichkeit besitzt. DIDEROT hat in seinen beiden berühm­ten Briefen auf diesen sinn­lo­sen Wortgebrauch boshaft genug schon aufmerk­sam gemacht.

Noch epigram­ma­ti­scher beschließt VOLTAIRE sein klei­nes Geschichtchen “Le Aveugles juges des couleurs” mit der präch­ti­gen Moral. Auch voll­sin­nige Menschen stehen nicht an, mit eitlem Vergnügen Worte in Sätzen zu verbin­den, welche sie nur dem Klange nach spre­chen gelernt haben, die sich jedoch mit keiner Wahrnehmung aus der Wirklichkeitswelt verbin­den, weil keine Mitteilung der Sinne mit dem Erlernen dieser Klänge verknüpft worden ist. Und wie bei LAURA BRIDGMAN gibt es auch bei Vollsinnigen ganze Wortgruppen, beson­ders aus dem Gebiete der Moral und Theologie, der Philosophie und der Ästhetik, die sie zum bloßen Schwatzvergnügen einge­übt haben, weil der Schullehrer sie ihnen auf der Schule, dem Gymnasium oder der Universität beibrachte, bevor sie die Begriffe von Ursache und Wirkung entspre­chend kritisch genug aufge­nom­men hatten. “Heiliges Heim ist von Ewigkeit zu Ewigkeit,” sagte LAURA. Auf allen diesen Gebieten war LAURA eine recht gebil­dete Dame; für die Psychologie des Schwatzvergnügens ist es neben­säch­lich, ob der Tastsinn oder das Gehör die Assoziationszentren liefert, ob die Finger oder die Lippen sich beim Sprechen bewegen.

Für die physio­lo­gi­sche Psychologie aber, inso­fern sie Bewußtseinsvorgänge im Gehirn zu loka­li­sie­ren sucht, müßte der Fall der LAURA BRIDGMAN sehr lehr­reich sein. Den Erforschem des mensch­li­chen Gehirns scheint kaum ein Ergebnis siche­rer zu sein, als die Existenz von Gehirnprovinzen, den soge­nann­ten Zentren, in denen die hörba­ren Zeichen sich bei ihrer Entstehung und bei ihrem Gebrauche mit allen zuge­hö­ri­gen Vorstellungen asso­zi­ie­ren oder asso­zi­ie­ren können. So ist wirk­lich beim norma­len Menschen das Gehirn das Denkorgan dort, wo es das innere Sprachorgan ist. Es ist schon oft beob­ach­tet worden, daß der kluge und denkende Hund seine Vorstellungen höchst wahr­schein­lich mit Geruchsempfindungen oder viel­leicht auch mit Zeichen von oder für Geruchserinnerungen assoziiert.

JULIA BRACE, eine Taubstummblinde, die zu alt zu Doktor HOWE kam, um noch spre­chen lernen zu können, hatte ihren Geruch in Stellvertretung so ausge­bil­det, daß sie aus einem Haufen Handschuhe ein zusam­men­ge­hö­ren­des Paar und sogar die Handschuhe zweier Schwestern heraus­fin­den konnte.

LAURA BRIDGMAN nun, welche sich in ihrem Geistesleben doch auf mensch­li­cher Höhe hielt, konnte denken oder spre­chen, asso­zi­ierte jedoch alle ihre Erfahrungen durch Tastempfindungen. Sie hatte zuerst betas­tete Gegenstände mit betas­te­ten Wortzeichen asso­zi­ie­ren gelernt, lernte später eine selb­stän­dige Fingersprache, gelangte aber mit alle­dem über Erinnerungen an Tastempfindungen nicht hinaus; in der Fingersprache sprach sie mit sich selbst, in der Fingersprache träumte sie sogar.

Wenn man nun nicht glau­ben will, daß das Abstraktum Sprache, das es in der Wirklichkeitswelt nicht gibt, wie eine Gottheit ein beson­de­res Sprachzentrum des Gehirns beherr­sche, wenn man weiter bedenkt, daß alle Untersuchungen des mensch­li­chen Gehirns in dieser Richtung immer nur die Verbindung des Denkens mit den Leitungen der norma­len Sprache, den Gehörnerven und den Gesichtsnerven, aufsu­chen, wenn man die doch nahe­lie­gende Hypothese aufstellt, daß die glei­che Gehirnprovinz bei Laura BRIDGMAN zum Zwecke des Denkens eine Verbindung mit den Tastnerven einge­hen mußte, so scheint mir die physio­lo­gi­sche Psychologie unse­rer Tage einen recht fühl­ba­ren Stoß zu erhal­ten. Sie muß schon um dieses Falles willen umler­nen. Sie muß das Abstraktum, Sprache den längst verab­schie­de­ten Seelenvermögen nachschicken.

In den letz­ten Jahren sind aus der Zahl der etwa fünf­zig Dreisinnigen, von denen fünf oder sechs als Dreisinnige gebo­ren waren, der Fall von HELEN KELLER und der Fall von MARIE HEURTIN genauer bekannt gewor­den. HELEN KELLER ist sogar, nicht ohne Zutun ameri­ka­ni­scher Reklame, zu einer Art lite­ra­ri­scher Berühmtheit gelangt. Eine Taubstummblinde konnte eine geschätzte Worthändlerin werden. MARIE HEURTIN wiederum kam in die Entreprise einer katho­li­schen Reklame. Mit psycho­lo­gi­schem Ernste ist der Fall HELEN von WILLIAM STERN, der Fall MARIE von WILHELM JERUSALEM behan­delt worden. HELEN über­trifft LAURA an Begabung oder Wortgedächtnis ebenso sehr, wie MARIE, die drei­sin­nig Geborene, hinter LAURA zurück­bleibt. Was LAURAs Geschichte lehren konnte, ist durch die neue­ren Beobachtungen nicht wesent­lich verän­dert worden. Aufwühlendes Mitgefühl für die Opfer des Naturexperiments und Bewunderung für ihre Pädagogen darf uns nicht taub und blind und stumm machen für die Wahrheit: LAURA, HELEN und MARIE sind glück­li­chere Geschöpfe gewor­den durch das befrie­digte Schwatzvergnügen und durch die erwor­bene Fähigkeit, guten Menschen ihre Wünsche mitzu­tei­len; für den Erkenntniswert der Sprache bewei­sen die geschul­ten Dreisinnigen nichts. Aus Tieren sind sie Menschen gewor­den. Das ist alles. Nur Menschen bewer­ten das mensch­lich. Als MARIE noch bellte wie ein Hund, legte ihr bereits die Tante, weil sie das Bellen verstand, Obstmus auf das trockene Brot.

Auch im Tierstand, vor Erlernung einer Sprache, waren LAURA, HELEN und MARIE Organismen, Individuen, merk­ten sich ihre Interessen; durch die Sprache lern­ten sie nur, ihre Leiden und Freuden zwischen den Menschen, zwischen mehr Menschen, an das Gedächtnis von Tast- und Bewegungsempfindungen knüpfen.

Die Assoziationsfähigkeit der Tastempfindungen war bei LAURA BRIDGMAN bewun­derns­wert, wenn man allen Berichten glau­ben darf. “Laura erkannte bei der leises­ten Berührung jede Person, die sie einmal kennen gelernt hatte, selbst nach mehre­ren Jahren wieder. Selbst die Stimmung ihrer Bekannten erriet sie durch Befühlen des Gesichtes.” Eine soge­nannte Erklärung dafür wird man in der Parallelerscheinung finden, daß LAURA (nach der bekann­ten WEBERschen Methode gemes­sen) für Unterscheidung zweier nahen Tastempfindungen sowohl an den empfind­lichs­ten wie an den dump­fes­ten Körperstellen etwa drei­mal so genaue Feinheit besaß als ein Normalmensch.

Aber diese Assoziationsfähigkeit oder Denkkraft oder Begabung LAURAs — wie immer man die Äußerungen ihrer Gebärdensprache nennen mag — führen immer auf ihr vorzüg­li­ches Gedächtnis als Quelle zurück. Materialistische Psychologen mögen es unter sich ausma­chen, wie in ihrem Gehirn das Tastzentrum “vika­ri­ie­rend” für das Gehörzentrum eintre­ten konnte, ohne die Lehre von den Lokalisationen über den Haufen zu werfen.

Für eine höhere Warte ist es ein Nebenumstand, daß das Gedächtnis der Dreisinnigen an Tast- und Bewegungsgefühle geknüpft werden muß, weil die Fäden des Gesichts- und Gehörsinns geris­sen sind. Es bleibt, mit einer leisen Änderung, bei dem alten Satze: Es ist nichts im Verstande oder im Gedächtnis oder in der Sprache, was nicht vorher in einem der Zufallssinne gewe­sen ist. Und weil mir vorge­wor­fen wird, daß ich diesen alten Satz zu oft bemühe, so will ich dies­mal, um seine eigent­li­che Weisheit zu erhel­len, ein für alle­mal noch sagen, daß er nach meiner Meinung gar nicht mate­ria­lis­tisch oder sensua­lis­tisch ausge­beu­tet werden darf. Im Intellekt oder in der Sprache oder im Gedächtnis ist natür­lich nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, in den Zufallssinnen. Nur unsere Gehirnarbeit also, unsere Sprache oder unser Gedächtnis, ist sinn­lich, sinn­haft, sensua­lis­tisch. Für das andere, das eigent­lich ist und wird, das auch wir sind und wider­wir­ken, haben wir keinen Sinn und darum kein Wort.

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