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2. Wesen der Sprache

So schwer fällt es, den verschie­de­nen Sinn und die Unvollkommenheiten der Worte darzu­le­gen, wenn es nur mit Worten gesche­hen kann. — John Locke

Verstehst du nun mein Sprachprinzipium der Vernunft, und daß ich mit Luther die ganze Philosophie zu einer Grammatik mache? — Hamann an Jacobi

Im Anfang war daß Wort.” Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie blei­ben, stehen, wenn sie beim Worte blei­ben. Wer weiter schrei­ten will, auch nur um den klein­win­zi­gen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter brin­gen kann, der muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlö­sen versuchen.

Da hilft aber keine Einsicht, da hilft kein sprach­kri­ti­scher Atheismus. In der Luft ist kein Halt. Auf Stufen muß man empor­stei­gen und jede Stufe ist ein neuer Trug, weil sie nicht frei schwebt. Auf jeder Stufe, und wäre sie noch so nied­rig, und hielte sich der Emporstrebende noch so flüch­tig bei ihr auf, berührte er sie auch nur mit seinen Zehenspitzen: im Augenblicke, der Berührung schwebt auch er nicht frei, ist auch er gefes­selt an die Sprache dieses Augenblicks, dieser Stufe. Und hätte er sich auch Stufe und Sprache für diesen Augenblick selbst gebaut.

Es war also in der jahre­lan­gen Arbeit jedes­mal Selbsttäuschung, wenn er, der die Erlösung von der Sprache auf sich nehmen wollte, das Werk in einem regel­rech­ten, stufen­ge­rech­ten Werke zu voll­brin­gen hoffte. Der ist kein freier Mann, der sich noch einen Atheisten nennt, einen Gegner dessen, den er leug­net. Der kann das Werk der Befreiung von der Sprache nicht voll­brin­gen, der mit Worthunger, mit Wortliebe und mit Worteitelkeit ein Buch zu schrei­ben ausgeht in der Sprache von gestern oder von heute oder von morgen, in der erstarr­ten Sprache einer bestimm­ten festen Stufe. Will ich empor­klim­men in der Sprachkritik, die das wich­tigste Geschäft der denken­den Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernich­ten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrüm­mern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie aber­mals zu zertrümmern.

In dieser Einsicht liegt der Verzicht auf die Selbsttäuschung, ein Buch zu schrei­ben gegen die Sprache in einer star­ren Sprache. Weil die Sprache leben­dig ist, so bleibt sie nicht unver­än­dert vom Anfang eines Satzes bis zu seinem Ende. “Im Anfang war das Wort”; da, beim Aussprechen des fünf­ten Wortes, verwan­delt schon das erste Wort “im Anfang” seinen Sinn.

So mußte der Entschluß reifen, diese Bruchstücke entwe­der als Bruchstücke zu veröf­fent­li­chen oder das Ganze dem radi­kals­ten Erlöser zu über­ant­wor­ten, dem Feuer. Das Feuer hätte die Ruhe gebracht. Der Mensch jedoch, solange er lebt, ist wie die leben­dige Sprache und glaubt, er habe etwas zu sagen, weil er spricht.

Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

Es war einmal ein Pope, der war Pope genug, um Wanzen in seinem Bette zu haben, und Freigeist genug, um seine Wanzen als etwas Häßliches oder doch Fremdes zu empfin­den. Umsonst wandte er nach­ein­an­der hundert Mittel an, seine Wanzen zu vernich­ten. Eines Tages aber brachte er aus der großen Stadt, wo die Universität ist ein Pulver mit, welches ihn untrüg­lich befreien sollte. Er streute es aus und legte sich hin. Am ande­ren Morgen waren alle Wanzen tot, aber auch der Pope war tot. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

Mehr als einmal bin ich daran gegan­gen, diese alte und wahre Geschichte zu einer Satire gegen die Poperei aller Völker umzu­ge­stal­ten. Jedesmal schreckte mich der Gedanke zurück, daß die Satire nicht nur die Kirchen, sondern auch die Philosophien tref­fen könnte, keine Philosophie so trau­rig wie eine, die sich vermißt, die Welt von der Sprache zu erlö­sen und das mit armen Worten.

In dieser lachen­den Stunde des Entschlusses und des Endes, die eben zertrüm­merte Sprosse berüh­rend, auf welcher ich befreit bin von Worthunger, von Wortliebe und von Worteitelkeit, richte ich die Spitze ruhig gegen mich selbst und sage bereit: was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

Indem ich mich also anschi­cke, eine Kritik der mensch­li­chen Sprache zu geben, muß ich — eben weil der Gegenstand meiner Untersuchung mit dem Mittel der Untersuchung gleich bezeich­net wird, durch das Wort Sprache” nämlich — noch viel genauer, als das anderswo geschieht, die Begriffe prüfen. Mit dem Begriff “Kritik” frei­lich brau­che ich mich nicht lange aufzu­hal­ten. Kritik heißt von alters­her die schei­dende oder unter­schei­dende Tätigkeit des mensch­li­chen Verstands; das aufmerk­same Beobachten zweier ähnli­cher Tatsachen muß notwen­dig zur Beachtung ihrer unter­schei­den­den Merkmale führen, wenn der Unterschied für unsere Organe groß genug ist; denn es gibt keine iden­ti­schen Tatsachen. Wer also die Kritik einer Erscheinung verspricht, verspricht. nicht mehr und nicht weni­ger als eine gewis­sen­hafte Beobachtung oder Untersuchung dieser Erscheinung. Das kann jeder­mann mit gutem Gewissen tun, und das Ergebnis seiner Untersuchung hängt nach­her nicht von seinem Willen ab, sondern von der beob­ach­te­ten Wirklichkeit und von der Schärfe seiner Sinnesorgane.

Was aber ist die Sprache, die aufmerk­sam zu beob­ach­ten ich mir vorge­nom­men und den Lesern verspro­chen habe? Ich will ja nicht wie der Verfasser eines Wörterbuchs auf die einzel­nen Worte einer bestimm­ten Sprache achten; ich will nicht wie ein Grammatiker die verschie­de­nen Formen einer einzel­nen Sprache grup­pen­weise zusam­men­stel­len. Aber auch die Geschichte einer einzel­nen Sprache will ich nicht schrei­ben, eben­so­we­nig die Geschichte einer Sprachfamilie, wie sich das die verglei­chende Sprachwissenschaft, zuerst für unsere eigene “Sprachfamilie ” und dann für alle Sprachen der Erde, zur unlös­ba­ren Aufgabe gestellt hat. Ich will doch offen­bar dasje­nige unter­su­chen, was den Sprachen der Menschen gemein­sam ist, was man hübsch abstrakt etwa das Wesen der Sprache nennen kann. Da fällt es zuerst auf, daß “die Sprache” in diesem Sinne etwas ganz ande­res bedeu­tet als “eine Sprache” oder “die Sprachen” wobei man schließ­lich zur Not an etwas Wirkliches denken kann, wenn dieses Wirkliche auch nur, weil es ein flüch­ti­ger Schall ist, kaum zu den mate­ri­el­len Dingen gerech­net werden darf.

Doch welches Wirkliche wäre am Ende mehr als flüch­tige Form? Ich lasse mich dabei auf gar keine Spitzfindigkeiten ein. Wenn man die archi­tek­to­ni­schen Denkmäler und die verstei­ner­ten Überreste der Urwelt eine Sprache genannt hat, in welcher die Vorzeit der Kultur oder der Natur zu uns spricht, so ist das ein bild­li­cher Ausdruck. Wenn man an die Hieroglyphen und an die Keilschrift erin­nert, wo irgend ein altes Volk nur noch durch Schriftzeichen, also nur durch sicht­bare Zeichen zu uns zu reden sucht, so würde doch jeder solchen Sprache, falls sie wirk­lich enträt­selt wäre, eine gespro­chene Sprache zu Grunde liegen. Selbst die sicht­bare Fingersprache unse­rer Taubstummen ist ja doch nur eine den Verhältnissen ange­paßte sicht­bare Fixierung einer Volkssprache und weist auf eine gespro­chene Sprache ebenso zurück wie unsere gewöhn­li­che Schrift. Es gehört in einen ande­ren Gedankengang was frei­lich die Zusammengehörigkeit der Tatsachen nicht ausschließt — daß wir Büchermenschen durch unauf­hör­li­che Übung des Lesens es so weit brin­gen können, die gespro­chene Sprache in unse­rem Bewußtsein auszu­schal­ten; unbe­wußt arbei­tet jedoch das soge­nannte Zentrum der hörba­ren Sprache auch beim Lesen des Büchermenschen mit.

Die einzel­nen Sprachen sind also die außer­or­dent­lich kompli­zier­ten Lautgruppen, durch welche sich Menschengruppen mitein­an­der verstän­di­gen. Was aber ist “d i e Sprache”, mit der ich es zu tun habe? Was ist das Wesen der Sprache? In welcher Beziehung steht “die Sprache” zu den Sprachen.

Die einfachste Antwort wäre: “d i e Sprache” gibt es nicht; das Wort ist ein so blas­ses Abstraktum, daß ihm kaum mehr etwas Wirkliches entspricht. Und wenn die mensch­li­che Sprache als “Werkzeug” der Erkenntnis, wenn insbe­son­dere meine Muttersprache als Werkzeug auch zuver­läs­sig wäre, so müßte ich den Versuch dieser Kritik von vorn­her­ein aufge­ben, weil dann der Gegenstand der Untersuchung ein Abstraktum, ein unwirk­li­cher und unfaß­ba­rer Begriff ist. Damit stehe ich vor dem ersten betrü­ben­den Dilemma. Nur wenn die mensch­li­che Sprache und insbe­son­dere meine Muttersprache nicht zuver­läs­sig und nicht logisch ist, nur dann werde ich hinter dem äußers­ten Abstraktum “die Sprache” noch etwas Wirkliches entde­cken; dann aber werde ich wegen der Unzuverlässigkeit des Werkzeugs die Untersuchung nicht so gründ­lich vorneh­men können, wie ich möchte. Da ich aber diese Eingangssätze nicht tatsäch­lich am Anfang meiner Beobachtungen abfasse, sondern nach jahre­lan­gen Mühen, so weiß ich schon, daß dieses betrü­bende Dilemma mich von Schritt zu Schritt verfol­gen wird.

Welchen Sinn das Abstraktum “die Sprache” habe, das wird etwas deut­li­cher werden, wenn wir vorerst erfah­ren haben, wie abstrakt und unwirk­lich eigent­lich dasje­nige ist, was wir eben vorläu­fig mit gutem Glauben als etwas Wirkliches hinge­nom­men haben: die Einzelsprachen. Was sind diese Einzelsprachen, die das Objekt der Sprachwissenschaft abge­ben, der blut­jun­gen Wissenschaft, die in diesem Jahre (1896) 80 Jahre alt gewor­den ist? Wenn man bedenkt, daß diese Wissenschaft es sich zur Aufgabe gestellt hat, die verschie­de­nen Sprachen der Menschen nach Stämmen, Völkern und dann wieder nach Mundarten u.s.w. zu sondern, so muß man aner­ken­nen, daß die Sprachwissenschaft nur vorläu­fig und mit Vorbehalt von den Einzelsprachen ausge­hen darf. Ihr Gegenstand ist viel­mehr die unge­heure Masse aller mensch­li­chen Laute, die jemals irgendwo auf der Erde von Menschen zum Zwecke der Verständigung gespro­chen oder geschrie­ben worden sind.

Die Sprachwissenschaft hat sich die Aufgabe gestellt, diesen unge­heu­ren Vorrat nach Worten und nach Bildungsformen, sodann oder vorher nach nähe­rer und weite­rer “Verwandtschaft” zu ordnen. Die volks­tüm­li­che Abgrenzung nach Volkssprachen und nach Mundarten dient, wie gesagt, nur zur vorläu­fi­gen Orientierung. Es kann eines Tages entdeckt werden, daß die Sprache der alten Inder der unse­ren nahe “verwandt” ist; es kann wieder einmal entdeckt werden, daß die nieder­deut­sche Mundart der hoch­deut­schen Sprache ferner steht, als der platt­deutsch redende Mecklenburger wohl glaubt. Auf dem Gebiete der ostasia­ti­schen Sprachen gehö­ren solche Überraschungen zu den alltäg­li­chen Ereignissen.

Aus dieser Lage der Sprachwissenschaft wird klar, daß ihre einzel­nen Sprachen nicht so sicher defi­nier­bare Einheiten sind, wie man wohl glau­ben möchte. In Wirklichkeit ist auch der Begriff der Einzelsprache nur ein Abstraktum für die Fülle von Ähnlichkeiten, von aller­dings sehr großen Ähnlichkeiten, welche die Individualsprachen einer Menschengruppe bieten, eines soge­nann­ten Volkes.

Wir müssen hier gleich fest­hal­ten, was sich später über­sicht­li­cher erge­ben wird, daß die Individualsprache eines Menschen niemals der irgend eines ande­ren Menschen voll­kom­men gleich ist, und daß ein und derselbe Mensch in verschie­de­nen Lebensaltern nicht die glei­che Sprache redet, auch wenn man von den Besonderheiten seiner Kindersprache absieht. Die Ungleichheit der Individualsprachen ist bei eini­ger Aufmerksamkeit gar nicht zu über­se­hen. Jeder charak­ter­volle Schriftsteller ist an seiner charak­te­ris­ti­schen Individualsprache zu erken­nen. Auf hundert Schritte. Wie das Bild eines charak­ter­vol­len Malers. Wer seinen eige­nen Stil nicht hat, ist kein gebo­re­ner Schriftsteller.

Aber auch die Ungleichheit einer Individualsprache in verschie­de­nen Lebensperioden ist größer, als man wohl glau­ben möchte. Man kann allge­mein anneh­men, daß der einzelne Mensch im ganzen und großen die Sprachentwicklung der durch­leb­ten Zeit mitmacht, wenn auch viele Gewohnheiten seiner Jugend ebenso haften blei­ben werden, wie in der Fremde die Gewohnheiten seiner heimat­li­chen Mundart. Stelle man sich einen deut­schen Mann vor, der im selben Jahre mit WALTHER von der VOGELWEIDE gebo­ren worden wäre und nun noch, etwas mehr als 700 Jahre alt, in voller Frische des Geistes und Körpers leben würde. Manche nüch­tern wissen­schaft­li­che Hypothese unse­rer Sprachforscher setzt mehr Phantasie voraus. Wie wir nun heute die Gedichte WALTHERs erst mit Hilfe eines mittel­hoch­deut­schen Lexikons verste­hen, wie WALTHER selbst unsere Romane und Zeitungsartikel erst nach viel anstren­gen­de­ren Studien (weil er viel mehr Tatsächliches hinzu­zu­ler­nen hätte) verste­hen könnte, so behaupte ich: mein Siebenhundertjähriger würde im ganzen und großen die Sprache unse­rer Tage reden, würde bei der Lektüre von LESSING zum Beispiel freund­lich ange­mu­tet werden von den Gewohnheiten des 18. Jahrhunderts, seinen Jugendgenossen WALTHER aber würde er eben­so­we­nig ohne wissen­schaft­li­che Hilfe lesen können wie wir. Begegnete er sich mit WALTHER, sie würden einan­der nicht mehr verstehen.

Wir können also sagen, daß die Einzelsprachen, mit welchen die Sprachwissenschaft sich wie mit wirk­li­chen Dingen abzu­ge­ben gewohnt ist, Strömen glei­chen, in welchen an jedem einzel­nen Punkte der Wassertropfen zeit­lich unauf­hör­lich von ande­ren Wassertropfen abge­löst wird, räum­lich in der Mitte von ande­ren Wassertropfen dahin­fließt. Der alte grie­chi­sche Satz “man kann nicht zwei­mal in densel­ben Fluß hinab­stei­gen” gilt auch für die Sprache. Ihre Worte und Formen haben sich unauf­hör­lich verän­dert. Wenn unser “Helm” wirk­lich von dem alten indi­schen carman herkommt (gotisch hilms), so ist die Veränderung in unschein­ba­ren Abschattierungen der Laute ganz allmäh­lich vor sich gegan­gen; aber je unbe­deu­ten­der die Lautveränderungen von Geschlecht zu Geschlecht vor sich gehen, je siche­rer jedes Geschlecht glaubt und hofft, das ererbte Wort unver­fälscht weiter zu geben, desto unauf­hör­li­cher muß der Fluß dieser Veränderungen sein, damit aus carman Helm werde. Hundert Jahre bedeu­ten da so wenig, daß “Helm” z.B. noch ganz mund­ge­recht war, als die preu­ßi­schen Heeresorganisatoren zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Wort (mit der Sache) wieder einführ­ten, nach­dem es gegen zwei­hun­dert Jahre lang in bloß poetisch­his­to­ri­schem Gebrauche geruht hatte.

Auch die Mühlen der Sprache mahlen lang­sam, aber sicher. So ist — um beim Bilde vom Strome zu blei­ben — jeder folgende Tropfen dem voran­ge­gan­ge­nen so ähnlich, daß kein Mikroskop einen Unterschied heraus­fin­den könnte; und doch ist es nicht ausge­schlos­sen, daß das Wasser eines Stromes im Laufe der Jahrhunderte die in ihm aufge­lös­ten Bestandteile ändert, weil durch­flos­sene Minerallager erschöpft worden sind oder weil irgend ein Gebirge durch, Abholzung rascher über­flu­tet wird oder weil Bodenveränderungen statt­ge­fun­den haben u.s.w. Was beim Strome eine wenig beach­tete Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ist, das ist in der Sprache zuver­läs­sig Wirklichkeit. Unablässig wandeln die Sprachen die Bedeutung ihrer Worte und bei dem unüber­seh­ba­ren Verkehr des letz­ten Jahrhunderts, bei dem star­ken Aufwand an neuen Begriffen kann die Sprache dem Bedürfnis an Bedeutungswandel kaum nach­kom­men. So hat sich z.B. der Bedeutungswandel der Worte inner­halb der großen Gruppe der Eisenbahnbegriffe bis heute nicht voll­stän­dig voll­zo­gen. Man denke an “Platz” in “Platzkarte”. Oder an den Begriff “Stunde” beim Berliner (“Nach Hamburg sind es vier Stunden”) und beim Gebirgsbewohner (“Gute vier Stund’ bis hinauf ”).

Unablässig geht auf der ande­ren Seite der Lautwandel vor sich, der sich in der Hauptsache auf das einzige Bedürfnis der physio­lo­gi­schen Bequemlichkeit zurück­füh­ren läßt. Denn wenn einer­seits allge­mein aner­kannt wird, daß der Lautwandel zum großen Teile vorge­nom­men wird, um den Sprachorganen Arbeit zu erspa­ren, so ist doch auch derje­nige Wandel in den Bildungsormen, der auf Erweiterung und neue­rungs­süch­tige Ausdehnung der Analogien hinaus­läuft (z.B. im Deutschen das Ersetzen der star­ken Konjugation durch die schwa­che, wie backte statt buk, ähnlich wie in der Kindersprache trinkte statt trank), eine Bequemlichkeit für die Nervenbahnen. Beispiele sind beinahe über­flüs­sig. Im Deutschen ist aus dem spät­la­tei­ni­schen merk­wür­di­gen Worte para­ver­ê­dus schließ­lich “Pferd” gewor­den, das über­dies viel­fach “Ferd” ausge­spro­chen wird, so daß eine künf­tige Orthographie das p viel­leicht weglas­sen wird. Aus dem grie­chi­schen Worte eléé­mo­syne (deutsch Almosen) ist das engli­sche alms gewor­den, das ams ausge­spro­chen wird. Wir können diese heim­li­che Tätigkeit zu Gunsten einer beque­me­ren Aussprache mitun­ter bei der Arbeit beob­ach­ten. So schreibt heute noch jeder Schulmeister und jeder Dorfschüler “sehen” und “gehen”. Schauspieler, Kanzelredner und ihres­glei­chen bemü­hen sich, das stumme e deut­lich auszu­spre­chen. In der Umgangssprache wird aber dieses stumme e, welches im Gotischen ein a ( saih­wan), nicht mehr gespro­chen, und die Sprachmeister sind in Verlegenheit, welche Regel sie aufstel­len sollen. Noch vor weni­gen Jahren schrieb ein Sprachforscher, die Weglassung des e in der Endsilbe en (gesehn) sei vulgär. Seitdem habe ich diese Weglassung sehr häufig gesehn.

Ist nun die zeit­li­che Veränderung der Worte schon viel­sei­ti­ger und feiner, als wie die Verschiedenheit der aufein­an­der­fol­gen­den Wassertropfen bisher gekenn­zeich­net worden ist, so ist offen­bar die Verschiedenheit der Wassertropfen, die im Strombett neben­ein­an­der flie­ßen, auch nicht so groß wie die Verschiedenheit der Individualsprachen unter Volksgenossen. Habe ich also die EinzeIsprache mit dem ewig verän­der­li­chen Flusse vergli­chen, so ist die Strömung der Sprache zwar eine lang­sa­mere, aber, worauf es ankommt, die Unfaßbarkeit und Flüchtigkeit des einzel­nen Moments scheint mir bei der Sprache noch größer zu sein. Wir kämen weiter, wenn wir zur Vergleichung an regel­mä­ßige Luftströme und Luftstrombette denken dürf­ten. Will man also die Einzelsprache nicht als ein unwirk­li­ches Abstraktum aner­ken­nen, so wird nichts übrig blei­ben, als das Strombett selbst, die sich gleich­blei­bende Form mit der Einzelsprache zu verglei­chen, weil das Strombett sich denn doch lang­sam genug verändert.

Habe ich es mir nun zur Aufgabe gestellt, nicht die Form und die Geschichte der Einzelsprachen zu verfol­gen, sondern dasje­nige zu beob­ach­ten, was den Einzelsprachen gemein­sam ist, so werde ich Ähnlichkeiten zwischen ihnen auffin­den müssen. Ist zwischen den Einzelsprachen keine andere Ähnlichkeit vorhan­den als die in der Definition liegende, daß sie nämlich zur Verständigung zwischen den Menschen dienen, so wird meine Untersuchung bald zu Ende sein oder doch kein posi­ti­ves Ergebnis liefern. Doch auch dann wäre es nütz­lich, manchen Aberglauben zu zerstö­ren, den Grammatik und Logik an die Sprache geknüpft haben. Ich hoffe aber, noch um einen klei­nen Schritt weiter kommen zu können. Vergleicht man die einzel­nen Sprachen mitein­an­der etwa so, wie die Erdbeschreibung die einzel­nen Strombette mitein­an­der vergleicht, nach ihrer Lage, ihren Linien und derglei­chen, so scheint mir dabei nur eine über­flüs­sige Wissenschaft herauszukommen.

Es wäre aber auch möglich, bei sehr genauer Beachtung und voll­stän­di­ger Kenntnis aller Begleitumstände, jedes einzelne Strombett als die Wirkung seiner eige­nen Wassermassen bis ins kleinste zu erklä­ren. Die bekann­ten physi­ka­li­schen und chemi­schen Eigenschaften des Wassers sind die allei­nige Ursache der gegen­wär­ti­gen Strombette, die dann frei­lich wieder den neuen Wassermassen ihren Weg weisen. Diese Weisheiten sind so wohl­feil wie Brombeeren. Jeder Schafhirt versteht sie und kennt sie auch unge­fragt. Dennoch gab es eine Zeit, in welcher die Menschheit unter dem Zwang eines lebhaf­te­ren mytho­lo­gi­schen Bedürfnisses sich irgend einen Gott, ein Mannsbild oder ein Frauenzimmer, am Ursprung eines Flusses sitzend dachte, welcher Gott nach geheim­nis­vol­len Absichten viel oder weni­ger Wasser, warmes oder kaltes Wasser, gutes oder schlech­tes Wasser in das Strombett oder aus der Quelle flie­ßen ließ. Eine Nachwirkung dieser Mythologie finden wir heute noch in Ausdrücken wie Vater Rhein oder auch in den lächer­li­chen Frauenzimmern, welche auf lächer­li­chen Denkmälern mit unprak­ti­schen grie­chi­schen Krügen in der Hand deut­sche Flüsse darstellen- Wir dach­ten uns nichts dabei, sagen die Leute zur Entschuldigung.

In den Geisteswissenschaften, nament­lich in den Anschauungen von der mensch­li­chen Sprache, ist aber dieses mytho­lo­gi­sche Bedürfnis noch unge­schwächt vorhan­den. Was nicht allein Pfaffe und Pöbel von der Sprache behaup­tet, was fast alle Sprachforscher — einer dem ande­ren — nach­schrei­ben, daß nämlich die Sprache ein Werkzeug unse­res Denkens sei (ein bewun­de­rungs­wür­di­ges Werkzeug noch dazu), das erscheint mir als eine Mythologie. Nach dieser Vorstellung, welche heute noch von allen Köpfen geteilt wird, sitzt irgendwo am Strombett der Sprache eine Gottheit, Mannsbild oder Frauenzimmer, das soge­nannte Denken, und herrscht unter den Einflüsterungen einer ähnli­chen Gottheit, der Logik, über die mensch­li­che Sprache mit Hilfe einer drit­ten dienen­den Gottheit, der Grammatik. Ich würde es für das stol­zeste Ergebnis meiner Untersuchung halten, wenn ich die Menschen von der Unwirklichkeit, von der Wertlosigkeit dieser drei­ei­ni­gen Göttinnen über­zeu­gen könnte, denn der Dienst unwirk­li­cher Götter ist immer opfer­voll, also immer schädlich.

Ich vermute, daß “die Sprache”, die Sprache im allge­mei­nen oder das Wesen der Sprache, bei genauer Betrachtung nichts mehr von der Herrschaft des Denkens, der Logik und der Grammatik wird wissen wollen. “Die Sprache” wird sich größ­ten­teils als ein leeres Abstraktum heraus­stel­len; wo wir aber dennoch zwischen den Einzelsprachen, die frei­lich selbst Abstraktionen sind, tatsäch­li­che Ähnlichkeit wahr­neh­men werden, wo “die Sprache” uns eine Bezeichnung werden wird für eine wirk­li­che Art des mensch­li­chen Handelns, da werden wir niemals nötig haben, auf Denken, auf Logik oder Grammatik als den Ursprung zurück­zu­ge­hen. Vielmehr werden wir wohl finden, daß Denken, Logik und Grammatik Merkmale der Sprache sind, gewis­ser­ma­ßen in der Sprache drin­ste­cken und nur von müßi­gen Ordnungsfanatikern heraus­ge­zo­gen worden sind. So gibt es in der Natur kein ande­res Blau als an blauen Erscheinungen. Es wäre auch da, wenn die Sprache das Adjektivum blau zu abstra­hie­ren sich nicht die Mühe genom­men hätte. Wie die Elektrizität da war, bevor man sie entdeckte, d.h. ihre Wirkungen unse­ren Sinnen wahr­nehm­bar machte. Wie in der Natur alle die Elemente schon da sind, die wir noch nicht kennen. Am Ende wird aber auch diese Kritik nur wollen, was alle Sprachwissenschaft von jeher wollte: die Erscheinung der Sprache erklären.

Die Sprache erklä­ren! Schon die naiven Griechen versuch­ten so etwas, als sie darüber strit­ten, ob die Sprache durch die Natur oder durch einen Gesetzgeber entstan­den sei. Die Entstehung durch einen Gesetzgeber muß die älteste, die theo­lo­gi­sche Antwort gewe­sen sein. Diese Antwort wurde übri­gens von den wenig dogma­ti­schen Griechen noch etwas vernünf­ti­ger gege­ben als von den Christen des Mittelalters; die Griechen dach­ten doch halb­wegs an einen mensch­li­chen Gesetzgeber, einen Heros, einen Erfinder, wie sie denn in ihren Göttern gern die Erfinder wich­ti­ger Kulturarbeiten verehr­ten. Auch darin waren sie den Christen vorzu­zie­hen, daß sie bei der Sprache an etwas Konkreteres dach­ten, nämlich an ihre eigene Landessprache, an Griechisch. Die Christen — um unter diesem Namen die Völker der neue­ren abend­län­di­schen Entwicklung zusam­men­zu­fas­sen — gelang­ten sehr früh zu dem Bewußtsein, daß es viele und gleich­be­rech­tigte Sprachen gebe, und faßten so zuerst “die Sprache” als ein Abstraktum, das unge­fähr den Sinn von “Sprachvermögen ” enthielt, wenn davon die Rede war, daß Gott den Menschen die Sprache verlie­hen habe. Dieser für uns fast mons­tröse Gedanke findet sich noch ganz unge­schwächt und pfäf­fisch in einem sonst so vorzüg­li­chen Überblick über die bishe­ri­gen Ergebnisse der Sprachwissenschaft, wie es die Vorlesungen von WHITNEY sind. Es heißt da (“Die Sprachwissenschaft”, bear­bei­tet von JOLLY, 1874, Seite 555):
“Der gött­li­che Ursprung der Sprache ist in dem Sinne aufrecht zu erhal­ten, in welchem die Menschennatur über­haupt mitsamt all ihren ange­bo­re­nen und ange­nom­me­nen Gaben Gottes Werk ist.“
Solche Komplimente für den lieben Gott können bewußte Heuchelei sein (woran ich an ähnli­chen Stellen aus MAX MÜLLERs “Einleitung in die verglei­chende Religionswissenschaft” nicht gern glau­ben möchte); sie können aber auch unbe­wußte Höflichkeit sein, Anpassung an die Volksgemeinschaft; und dann gehö­ren sie schon selbst dem Gebiete des Bedeutungswandels an.

Wir müssen uns aber natür­lich davor hüten zu glau­ben, alle diese Sätze, Fragen und Antworten hätten zu allen Zeiten den glei­chen Sinn gehabt. Zu der Entwicklung der Sprache gehört es als ein beglei­ten­der Nebenumstand, daß die Worte auch da einen Bedeutungswandel erfah­ren, wo wir es nicht wissen. Und wo wir es wissen, blei­ben wir uns des Wandels nicht immer bewußt.

So verban­den die Griechen ganz gewiß mit dem Gedanken, daß ein Gesetzgeber die Sprache gemacht habe, die kind­li­che Vorstellung, daß dieser Gesetzgeber die einzig rich­tige Sprache gemacht habe, natür­lich die grie­chi­sche. Ein Pferd hieß nicht nur hippos, es war auch ein hippos. Darin nun waren ihnen die Christen wieder über­le­gen, daß in ihrer Lehre von dem gött­li­chen Ursprung der Sprache ebenso gewiß die Vorstellung von einer gewis­sen Willkür steckte. Gottes Wille ist eo ipso [selbst­ver­ständ­lich, wp] Zufall. Es war Gottes Wille, daß es mehrere Sprachen gab; aber es gab doch mehrere gleich­be­rech­tigte Sprachen. Nationaler Dünkel mußte der inter­na­tio­na­len Christenheit ursprüng­lich fremd sein. Auf den närri­schen Einfall, die Sprachen etymo­lo­gisch vom Hebräischen abzu­lei­ten, kam man erst später, auf philo­lo­gi­schem Wege. Es war kein theo­lo­gi­sches Dogma.

Als nun dem Satze, die Sprache sei thesei (durch einen Gesetzgeber) entstan­den, die neue Lehre entge­gen­ge­stellt wurde, sie sei physei (natür­lich) entstan­den, waren ebenso naive Vorstellungen mit dem rich­ti­gen Gedanken verbun­den. Es wäre darum ganz falsch, die gegen­wär­tige Auffassung von einer natür­li­chen Entwicklung der Sprache schon den Nachfolgern des HERAKLEITOS zuzu­trauen. Wir können uns eben kaum mehr in das Gehirn von Leuten hinein­den­ken, welche die künst­li­che Sprachschöpfung leug­ne­ten, aber daß Unbewußte des Vorgangs nicht ahnten und noch dazu von Natur eine “rich­tige” Sprache entste­hen ließen. Die die Entstehung physei lehr­ten, frag­ten dabei immer noch nach dem Ursprung der grie­chi­schen Sprache. Unsere Sprachforscher lehren eben­falls die Entwicklung auf natür­li­chem Wege; aber sie kennen seit LEIBNIZ das Unbewußte der mensch­li­chen Tätigkeit, die solche Wirkung erzeugt, und sie nehmen die einzel­nen Sprachen als Tatsachen hin. Ihre Frage geht darum nicht mehr nach dem Ursprung der einzig rich­ti­gen Sprache, auch nicht einmal mehr nach dem Ursprung der Sprache über­haupt. Ihre Frage lautet viel­mehr ganz beschei­den etwa so: durch welche histo­ri­sche Entwicklung ist es gekom­men, daß wir (z.B. die Einwohner eines Fleckens in der Altmark) so spre­chen, wie wir spre­chen, daß die heuti­gen Bantuneger wiederum so spre­chen, wie sie sprechen.

Diese Frage läßt sich teil­weise beant­wor­ten; bald auf zwei oder drei, bald auf fünf­zig, ja bis auf hundert Generationen zurück. Wie es Familien gibt, welche höchs­tens noch wissen, wie der Großvater gehei­ßen hat und was er trieb, wie es andere, stol­zere Familien gibt, die noch Nachrichten von ihrem Urahn besit­zen, so gibt es junge und alte Sprachgeschichten. Hinter diesen beglau­big­ten Entwicklungen liegt aber jedes­mal die Paläontologie der Sprache. Und die Frage der moder­nen Sprachwissenschaft ist darum so beschei­den, weil sie sich mit so dürf­ti­gen Nachrichten begnügt, und die vagen Hypothesen, welche die Vorgeschichte aufhel­len sollen, noch dank­bar mit in Kauf nimmt.

Während also die Alten das Abstraktum “die Sprache” nicht so wie wir fassen konn­ten, weil sie über ihre eigene Landessprache (wozu die Römer noch Griechisch trie­ben) nicht hinaus­dach­ten, konn­ten sie doch wieder nicht das Konkrete an der Sprache so erfas­sen, wie unsere Forscher, die wirk­lich bis zum Konkretesten, den Schallwellen, beinahe vorge­drun­gen sind. Die Sprachlaute werden als bewegte Luft zwar nicht mathe­ma­tisch bestimmt, aber wohl physi­ka­lisch begriffen.

Doch die Götzendienerei ist dem Menschen ange­bo­ren. Immer wieder versucht er den Sprung von den drei bis hundert Generationen, die er kennt, zurück zu den unzäh­li­gen, die er nicht kennt; immer wieder fragt er nach dem Ursprung “der” Sprache. Da er nämlich, wenn er ein beson­ne­ner Sprachforscher ist, wirk­lich nicht nach dem Ursprung eines jetzt gespro­che­nen Sprachstamms fragen dürfte, da die Frage nach dem Ursprung z.B. der Sanskrit-Wurzeln, mit welchen unsere indo-europäischen Sprachen begon­nen haben sollen, wirk­lich nur wie ein kindi­scher Scherz klingt, so ist jede Untersuchung über den Ursprung der Sprache nicht mehr eine Beschäftigung mit irgend etwas Konkretem, sondern — was nur noch nicht in die Köpfe einge­gan­gen ist — eine Rückkehr zu dem Abstraktum: “die” Sprache. In diesem Sinne ist also “d i e Sprache” unge­fähr dasselbe wie das, was die ältere Psychologie “das Sprachvermögen” genannt hat. Es würde demnach die Frage nach dem Ursprung der Sprache, das heißt doch nach der ersten Betätigung des Sprachvermögens, iden­tisch sein mit der Frage nach dem Ursprung des Sprachvermögens. Was ein Unsinn zu sein scheint.

Nur scheint. Wir müssen eben die Sprache unter die übri­gen Tätigkeiten des Menschen rech­nen als wie das Gehen, das Atmen. Da ist es für einen Biologen gar kein unsin­ni­ger Gedanke, daß der Mensch nicht geht, weil er Beine hat, sondern daß er Beine hat, weil er geht; daß der Mensch nicht atmet, weil er eine Lunge hat, sondern daß er eine Lunge hat, weil er atmet.

Richtiger: die Entwicklung des Werkzeugs und die Steigerung der Tätigkeit gehen paral­lel neben­ein­an­der her. Nehmen wir nun das wirk­li­che Sprachwerkzeug (unter Sprachwerkzeug verstehe ich außer dem Tonapparat auch alle ihm dienen­den oder befeh­len­den Muskeln und Nerven) als den tatsäch­li­chen Ausdruck für ein geträum­tes Sprachvermögen, so ist es aller­dings möglich, daß die Entwicklung der mensch­li­chen Sprache neben der Entwicklung der mensch­li­chen Sprachorgane einher­ge­gan­gen sei.

Fassen wir diesen Gedanken ganz scharf ins Auge, so sehen wir hoffent­lich, daß — in wie unend­li­che Zeiträume wir auch den Ursprung der Sprache zurück­ver­fol­gen mögen — wir doch niemals an einen Moment gelan­gen, wo wir die Vorstellung konkre­ter Sprachlaute verlas­sen müßten, wo wir nach dem Ursprung des Abstraktums Sprache fragen müßten.

Der Wert dieses Gesichtspunktes scheint mir darin zu bestehen, daß wieder einige Abstrakta aus dem wissen­schaft­li­chen Gebrauche hinaus­ge­wor­fen wurden. “Sprachvermögen” oder “die Gabe der Sprache” wird defi­ni­tiv über­flüs­sig, wenn klar erkannt wird, daß der Sprachgebrauch, d.h. hier die Ausübung der Sprachtätigkeit, sich erst das Sprachwerkzeug ausge­bil­det hat. Man wird dann den Begriff “Sprachvermögen” ebenso absurd finden, als etwa ein beson­de­res “Gehvermögen” oder ein beson­de­res “Atmungvermögen”. Gewiß liegt im selbst­tä­ti­gen Fortbewegen des Tieres gegen­über dem Abwarten der Pflanze die Möglichkeit höhe­ren Komforts; doch hat sich das Bewegungswerkzeug durch Gehen erst entwi­ckelt. Ebenso ist das Atmen der Luft durch Lungen wahr­schein­lich komfor­ta­bler, als die Benützung der Luft im Wasser durch die Kiemenatmer; doch wird kein Mensch die allmäh­li­che “Entwicklung” dieser “Gabe” über­se­hen können, da jeder Frosch ein Beispiel bietet.

Die Ähnlichkeit zwischen Gehen u.s.w. und Sprechen würde heller werden, wenn wir schon hier mit klarer Einsicht das Abstraktum “Sprache” immer durch das Tätigkeitswort Sprechen” erset­zen dürften.

Unser Gesichtspunkt ist weiter darin wert­voll, daß die Frage nach dem Ursprung “der” Sprache ihren alten Sinn verliert. Der Ursprung muß immer weiter und weiter zurück­ver­legt werden und die Untersuchung der Sanskritwurzeln sinkt zu einer Sprachgeschichte des gest­ri­gen Tages herab. Wo ich selbst — dem unbe­sieg­ba­ren Sprachgebrauche folgend eben­falls von einem Ursprung der Sprache rede, denke ich darum nicht an den wirk­li­chen unnah­ba­ren Ursprung, sondern an einen irgendwo weit zurück­lie­gen­den Punkt des Stromlaufs, an einen Ruhepunkt, der aber nur in meiner Vorstellung existiert.

Die zweck­mä­ßi­gen Bewegungen, welche wir unter dem Namen Sprache zusam­men­fas­sen, oder besser unter dem Verbum “Sprechen” (jedes Verbum ein Ordnungsbegriff unter dem mensch­li­chen Gesichtspunkte eines Zwecks), machen den allge­mei­nen Weg von der unbe­wuß­ten Bewegung durch das bewußte Wollen zum Unbewußten zurück, und zwar sowohl in der allge­mei­nen Sprachentwicklung wie in der Sprache des Individuums. Die Äußerungen des Schmerzes und der Freude gehen noch aus keinem bewuß­ten Willen hervor; sie kommen, um den Sprachgebrauch fran­zö­si­scher Psychologen anzu­wen­den, aus Volitionen, nicht aus der volonté. Das Sprechenlernen des Kindes ist mit Bewußtsein verbun­den wie das Gehenlernen; auch in der gene­ti­schen Entwicklung der Sprache müssen wir behaup­ten, daß jede Bereicherung, jede neue kühne Metapher, mit Bewußtsein verbun­den war. Am Ende wird aber das gewöhn­li­che Sprechen so auto­ma­tisch, daß es dem Laien zuerst schwer fällt, nur in den Bewegungen das Wirkliche der Sprache zu sehen. Denn er achtet zuletzt nur noch auf die Ergebnisse der Bewegungen, die Töne, und nicht auf die Bewegungen selbst. Mit dem bewuß­ten oder unbe­wuß­ten Wollen bleibt das Sprechen oder Denken, bleibt alles Erkennen immer verbun­den, weil alles Erkennen zuletzt auf die durch das Individualinteresse erweckte Aufmerksamkeit und die durch das Vorfahreninteresse ererbte Aufmerksamkeit zurückgeht.

Hätten die Menschen nicht spre­chen gelernt, und nur ein einzel­ner unter ihnen würde spre­chen, so wäre es dem Beobachter natür­lich, die Erscheinung als eine Reihe von Bewegungen aufzu­fas­sen, und es würde ihm kaum einfal­len, diesen Bewegungen einen Gesamtnamen zu geben. So fällt dem Kinde an dem brül­len­den Ochsen sehr deut­lich die Anstrengung auf, die das Tier macht. Die Sprachbewegungen des unter sprach­lo­sen Mitmenschen allein reden­den Individuums wären aber gar nicht Sprache. Ein einzig spre­chen­der Mensch unter sprach­lo­sen Volksgenossen ist eben­so­we­nig vorstell­bar wie ein reden­der Gott, der den Menschen die Sprache erst schenkte. Oder er wäre wie der Teilnehmer an einem ausge­dehn­ten Telephonnetze, das keinen zwei­ten Teilnehmer hätte. Seine Zweckbewegungen wären nicht Sprache. Sprache werden diese Bewegungen erst durch ihre über das Individuum und über die Wirklichkeit hinaus­ge­hende Eigentümlichkeit, daß sie bei einer Gruppe von Menschen die glei­chen Vorstellungen hervor­ru­fen, daß sie dadurch verständ­lich, daß sie nütz­lich sind. Als sozia­ler Faktor erst wird die Sprache, die vor Erfindung der Buchdruckerkunst noch nicht einmal in einem Wörterbuch beisam­men war, etwas Wirkliches. Eine soziale Wirklichkeit ist sie; abge­se­hen davon, ist sie nur eine Abstraktion von bestimm­ten Bewegungen.

Ich brau­che nicht erst hinzu­zu­fü­gen, daß die gebrauch­ten Begriffe Volitionen und Wollen selbst wieder Abstraktionen sind, denen nichts Wirkliches entspricht. So führt man die Sprachbewegungen zuletzt auf einen Mitteilungstrieb zurück, der neben dem Atmungstrieb, dem Ernährungstrieb (wovon der Atmungstrieb doch nur eine Unterart wäre), dem Geschlechtstrieb (wovon der Ernährungstrieb wieder nur ein Diener wäre), dem Spieltrieb und dem Wahrnehmungstrieb sauber aufge­zählt wird. Der Wahrnehmungstrieb ließe sich eben­so­gut in einen Sehtrieb, einen Hörtrieb u.s.w. zerle­gen. Aber alle diese Triebe sind doch nur entstan­den durch den mensch­li­chen Klassifikationstrieb, der ihrer würdig ist, d.h. durch die Ökonomie des mensch­li­chen Gedächtnisses; in der psycho­lo­gi­schen Wirklichkeit kann es auch keinen Trieb geben außer dem indi­vi­du­el­len Willen zum Leben, für den sich dann natür­lich die Bezeichnung Selbsterhaltungstrieb findet.

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