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1. Vorwort zur 2. Auflage

Ein gründ­li­cher Fachmann, den ein Kollege mahnte, sich mit den Gedanken meiner Sprachkritik ausein­an­der zu setzen, rief in mensch­lich begreif­li­cher Entrüstung aus: “Soll ich meine Kollegienhefte verbren­nen?” Ich möchte darauf nicht gern mit einem einfa­chen “Jawohl” antworten.”

Ich vertraue, ich habe einen Richtweg geschla­gen zu einer Philosophie. Zu Erkenntniskritik, welche Kritik der Sprache ist. Andere mögen nach­rü­cken, mögen versu­chen, in der glei­chen Richtung eine via regia zu bahnen zur Erkenntniskritik, die nur Kritik der Sprache sein kann. Oder gibt es eine solche bequeme via regia zur Philosophie eben­so­we­nig wie zur Mathematik?

Das Erscheinen der zwei­ten Auflage sagt, daß viele Einzelne tapfer meinem unbe­que­men Richtwege schon folgen.

Zwischen der Bearbeitung dieser zwei­ten Auflage und der Drucklegung der ersten liegen nur fünf Jahre. Doch zwischen der heuti­gen Stunde und der Niederschrift oder gar der Konzeption vieler Ausführungen liegt eine viel längere Zeit, nicht selten eine Zeit von mehr als 30 Jahren. Manches Urteil, manche Wortfolge aus der ersten Niederschrift wenn unver­än­dert stehen geblie­ben, mit denen ich unzu­frie­den war. So war es mir wie eine Befreiung, bei Gelegenheit der Umarbeitung, hier eine Vorstellung revi­die­ren, dort ein hartes Wort gegen Menschen tilgen zu können. Nur in den Grundgedanken brauchte ich nirgends nach­zu­ge­ben; in meiner Sache, in der unper­sön­li­chen Vertretung meiner sprach­kri­ti­schen Lehren, bin ich eher noch härter geworden.

In dem großen Haufen von Besprechungen meines Werkes finde ich nur fünf oder sechs Aufsätze, deren Verfasser eine Beziehung zu meinen Gedanken herge­stellt haben. Ganz abge­se­hen natür­lich davon, ob diese Beziehung freund­lich oder unfreund­lich war. Die Hauptmasse der Besprechungen ging an den Grundgedanken des Werkes vorüber. Daß die Kritik der Sprache ein Beitrag zur Erkenntnistheorie, ein philo­so­phi­sches Werk sei, dieser kleine Umstand sogar war den meis­ten Kritikern entgan­gen. Wie denn mein Werk, weil im Titel das Wort Sprache vorkommt, in Bibliotheken und Katalogen unter der Rubrik Philologie steht. Einige fach­män­ni­sche Kritiker, welche philo­so­phi­schen Inhalt ahnten, weil sie ganze Kapitel nicht verstan­den, bewie­sen durch ihre philo­so­phi­sche Kritik, daß sie in ihren philo­so­phi­schen Studien über die übli­che Beschäftigung mit dem klei­nen SCHWEGLER nicht hinaus­ge­kom­men waren.

Für jeden aufklä­ren­den, rügen­den, mäßi­gen­den Hinweis der Männer, die auf meinem Boden stan­den oder ihn betra­ten, war ich aufrich­tig verpflich­tet. Denen, die meine Sprache nicht verste­hen wollen oder nicht verste­hen können, würde mich auch eine Antwort nicht verständ­lich machen.

Nur auf zwei Vorwürfe möchte ich schon hier antwor­ten. Für dieje­ni­gen, welche nur das Vorwort lesen wollen und nicht das Buch. Denn beide Vorwürfe würden doch wohl durch das Buch besser entkräf­tet als durch einlei­tende Versicherungen. Die zwei Vorwürfe — daß ich kein Fachmann sei und daß ich nur Negation, nur nihi­lis­ti­sche Skepsis biete und kein posi­ti­ves erkennt­nis­theo­re­ti­sches System.

Auf den Vorwurf, kein Fachmann zu sein, möchte ich gerne, lang­sam empor­stei­gend, wie von drei oder vier wach­sen­den Stockwerken aus, antwor­ten. Nur daß ich mich auf dem nieders­ten Stockwerk zurück­hal­ten muß, das Gelächter zu dämp­fen, das laut und über­mü­tig hervor­bre­chen will. Ich habe nämlich den Vorwurf, kein Fachmann zu sein, auch von solchen fach­män­ni­schen Beurteilern vernom­men, die meine Untersuchung wert­voll, nütz­lich, anre­gend finden, und dann beinahe wohl­wol­lend hinzu­fü­gen: “Nur schade, daß er kein Fachmann ist!” Im Sinne solcher Herren bin ich nämlich wirk­lich kein Fachmann. Ich habe keinen Lehrauftrag. Mir wird für meine Arbeit keine Berufung und kein Titel. In dem wissen­schaft­li­chen Betriebe, wie er nicht nur auf den Hochschulen des deut­schen Sprachgebiets seit langer Zeit üblich ist, habe ich kein regel­rech­tes curri­cu­lum vitae hinter mir und keine Karriere vor mir. Im Sinne so wohl­wol­lend bedau­ern­der Herren bin ich wirk­lich kein Fachmann. Ich kenne nicht die loka­len Verhältnisse der einzel­nen Universitäten des deut­schen Sprachgebiets und ihrer Fakultäten. Kenne aus der Praxis nicht die Polytechnik der Universitäten. Ich habe das alles nicht studiert, ich hatte niemals Zeit dafür. Ich bin kein Fachmann. Noch schlim­mer. Von vielen Gelehrten, deren Arbeiten ich auf ihren Wert prüfen mußte, weiß ich armer Autodidakt wahr­haf­tig nicht, in welcher Universitätsstadt sie leben, ich weiß von dem oder jenem nicht, ob er über­haupt noch lebt, ob er noch zu berück­sich­ti­gen ist. Das deut­lichste Zeichen des Dilettantismus. Denn ein Dilettant ist, wer seine Arbeit aus Liebe tut, aus Liebe zur Arbeit, eben zu der Arbeit, die er tut.

Ich steige etwas höher, werde etwas ernst­haf­ter und fahre fort. Gewiß, ich bin nicht Fachmann in den vielen Wissenschaften, die ich zur Begründung und zur Exemplifizierung meiner Gedanken heran­zie­hen mußte. Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiete der Logik, Mathematik, Mechanik, Akustik, Optik, Astronomie, Pflanzenbiologie, Tierphysiologie, Geschichte, Psychologie, Grammatik, indi­scher, roma­ni­scher, germa­ni­scher, slawi­scher Sprachwissenschaft u.s.w. u.s.w. Ich habe vor vielen Jahren einen Überschlag gemacht. Ich brauchte für meine Arbeit Kenntnisse aus 50 bis 60 Disziplinen, in welche gegen­wär­tig Welterkenntnis ausein­an­der­fällt. Für jede dieser Disziplinen braucht ein fähi­ger Kopf mindes­tens 5 Jahre, um sich auch nur die Grundlagen fach­män­ni­schen Wissens anzu­eig­nen. Ich hätte also etwa 300 Jahre rast­lo­ser Arbeit nötig gehabt, bevor ich mit der Niederschrift meiner eige­nen Gedanken begin­nen durfte; denn meine Gedanken haben die Unbequemlichkeit, daß sie die Möglichkeit von Welterkenntnis nicht durch das Mikroskop einer einzi­gen Disziplin betrachten.

Ich bin nicht arbeit­scheu. Ich hätte ja gern die 300 Jahre daran­ge­setzt, wie man denn bei einer Aufgabe von solcher Größe das Maß des mensch­li­chen Lebens nicht in Betracht zu ziehen pflegt. Aber ich sagte mir: Es ist das Schicksal wissen­schaft­li­cher Disziplinen — einige wenige ausge­nom­men -, daß ihre Sätze und Wahrheiten selbst nicht 300 Jahre alt werden, daß ich also nach 300jähriger Arbeit immer nur in der zuletzt studier­ten Disziplin Fachmann gewe­sen wäre, ein Dilettant in den Disziplinen, deren Studium auch nur 10 oder 20 Jahre zurück­lag, ein Ignorant in allen übri­gen. So mußte ich mich entschlie­ßen, auf Fachmännischkeit in allen Hilfswissenschaften meiner Arbeit zu verzich­ten; mußte mich beschei­den, in drei­mal neun schwe­ren Jahren aus allen diesen Hilfswissenschaften eben nur so viel Kenntnisse anzu­eig­nen, als mir gerade für die Erreichung meiner Aufgabe nötig schien.

Meiner Aufgabe. Ich hatte eine. Ich bin kein Fachmann. Eine selbst­ge­stellte, große neue Aufgabe, die Kritik der Sprache. Und ich steige in meiner Antwort wieder etwas höher und will ganz ernst­haft sein. Wollte ich meinen Gedanken, daß Welterkenntnis durch die Sprache unmög­lich sei, daß eine Wissenschaft von der Welt nicht sei, daß Sprache ein untaug­li­ches Werkzeug sei für die Erkenntnis, — wollte ich diesen Gedanken, erschöp­fend und über­zeu­gend, klar und leben­dig, nicht logisch und wort­spie­le­risch, wach­sen lassen und darstel­len, so mußte ich als Kritiker der Sprache eben diese Sprache kennen in ihren Tiefen und Höhen, mußte dem Volke aufs Maul sehen können und den Forschern folgen können in ihr Ringen um die wissen­schaft­li­chen Begriffe. Auf allen Gebieten wissen­schaft­li­cher Arbeit mußte ich die Prinzipien der Arbeit, der Methode, die beson­dere Logik oder Sprache verste­hen lernen. Und keiner der klei­nen Kärrner auf irgend einem der beschränk­ten Arbeitsgebiete hat in seiner Gottähnlichkeit viel­leicht so stark wie ich das Gefühl empfun­den: Die Prinzipien und die beson­dere Sprache jeder Disziplin sind nicht völlig zu verste­hen ohne Durcharbeitung des gesam­ten Schutt- und Arbeitsfeldes. Nicht mehr lachend, in bitters­ter Resignation mußte ich mir jeden Tag sagen, daß ich nicht gern bei den Prinzipien stehen blieb, daß ich gern weiter gedrun­gen wäre, nicht bloß ein Spaziergänger in den Wissenschaften. Aber ich durfte nicht verwei­len, wenn ich meine Arbeit leis­ten wollte. Bei keiner Disziplin durfte ich als Fachmann verwei­len. Ich habe keine Rechenschaft darüber zu geben, ob mir das leicht fiel oder schwer.

Nur will es mir schei­nen, daß diese Arbeit, die meine eigene war und meine eigene Aufgabe dazu, doch nicht ganz frucht­los war, daß aus dieser Arbeit mindes­tens zu den vielen ande­ren Disziplinen, in denen ich nicht Fachmann bin, eine neue Disziplin hinzu­ge­kom­men ist. Kritik der Sprache. Die Schriften mehren sich, in denen von Kritik der Sprache als von einem neuen wissen­schaft­li­chen Gebiete die Rede ist. Daß von den neuen Fachleuten dieser neuen Disziplin der eine die Priorität für sich in Anspruch nimmt, weil er vor Jahren einmal geschrie­ben hat: “Ja ja, die Sprache!”, — daß der andere die Kritik der Sprache hoch stellt und mich selbst sehr nied­rig taxiert: das tut doch eigent­lich nichts zur Sache. Ich glaube immer­hin in dem neuen Fache, auf dem neuen, unge­ro­de­ten Boden flei­ßig vorge­ar­bei­tet zu haben; und wenn ich ehrgei­zig wäre, so könnte ich den Wunsch ausspre­chen, für die Disziplin, die ich geschaf­fen habe, als etwas wie ein Fachmann ange­se­hen zu werden. Es ist aber ganz recht und eigent­lich fast teleo­lo­gisch verwend­bar, daß das erst später gesche­hen wird.

Und da ich die Frage der Priorität nun einmal heiter gestreift habe, so will ich gleich gewis­sen­haft, fast pedan­tisch, einige Schriften anfüh­ren, in denen der Gedanke oder doch die Wortfolge “Kritik der Sprache” schon zu finden war. Auf HAMANN, FRITZ JACOBI und HEBBEL ist im Werke selbst schon gebühr­lich hinge­wie­sen. Ein Schulprogramm von Dr. BUSSE (Berlin 1844, Real-Gymnasium) ist über­schrie­ben: “Über Kritik der Sprache”. Ein sehr lesens­wer­ter Essay (fast ein Buch) von R. HAYM (Artikel Philosophie in ERSCH und GRUBERs Enzyklopädie, 1848) bringt gegen das Ende folgende Sätze. Indem die Gebilde der Spekulation auf ihrem (der Sprache) Boden erwach­sen, sind sie zunächst aus ihr zu erklä­ren und auf sie zu redu­zie­ren. Die Sprache wird dadurch das nächste Kriterium für die Kategorien der Spekulation. Die verglei­chende Grammatik wird für die neue Philosophie das Gegenstück der Logik in der alten und die Kritik der Vernunft verwan­delt sich in die Kritik der Sprache.” Eine Doktor-Dissertation von SIEGMUND LEVY (Bonn 1868) beti­telt sich: “KANTs Kritik der reinen Vernunft in ihrem Verhältnis zur Kritik der Sprache”. Bei BUSSE und LEVY wird niemand einen Schimmer von dem finden, was meine Leser mit mir unter “Kritik der Sprache” verste­hen. Das über­ra­schende Wort HAYMs ist aus seiner gründ­li­chen Beschäftigung mit HAMANN, HERDER und HUMBOLDT zu erklären.

Nicht so sicher fühle ich mich bei der Abweisung des zwei­ten Vorwurfs: daß ich kein posi­ti­ves, kein rundes System biete und daß ich unsys­te­ma­tisch darstelle. Denn ein unbe­sieg­bar schmerz­li­ches Gefühl sagt mir, daß wenigs­tens der zweite Teil dieses Vorwurfs nicht unbe­rech­tigt sei. Das hängt gewiß mit den eben vorge­tra­ge­nen Tatsachen zusam­men. Ein besse­rer Kopf, dessen Wissen nicht Stückwerk wäre, der die Studienarbeit von 300 Jahren, ohne zu altern oder zu ster­ben geleis­tet hätte und die Frucht dieser Arbeit unver­al­tet als präsen­tes Wissen besäße, ein solcher Kopf hätte sich nie wieder­holt, hätte sich nie wider­spro­chen, hätte nie einen Umweg gemacht, hätte fein ordent­lich alle Belege auf sein Paragraphenwerk verteilt. Ich bin da nur wenig ironisch. Ich kenne die Schwächen meines Werks, die wahr­schein­lich die Schwächen meiner Arbeitsweise sind. Meiner subjek­tiv notwen­di­gen, für diese meine Aufgabe viel­leicht objek­tiv notwen­di­gen Arbeitsweise. Ich bin mir bewußt, viel freier von der Sprache zu sein, als mein Buch sein kann. Ein großes Haus zu bauen hatte ich mir vorge­setzt, aus einem neuen Material, in einem neuen Stil. Jede Linie des neuen Stils hatte ich selber zu zeich­nen, jeden Stein des neuen Materials hatte ich selbst aus einem Felsen zu brechen. Ich weiß, ich weiß es am besten, daß die Architektur des Ganzen arg dabei gelit­ten hat. Mag ein glück­li­che­rer Nachfolger das echte Material und die ehrli­che Zeichnung zu, einem symme­tri­schen Bau verwen­den. Da — die Tonne für die fach­män­ni­schen Walfische.

Die saubere Systematik der Darstellung gebe ich also preis. Nicht aber gebe ich die Verpflichtung zu, ein System zu bieten in der Kritik der Sprache.

Das war ja der tragi­sche Fluch großer Philosophen, daß sie sich von falschen Vorbildern bestim­men ließen, ein System zu brin­gen in die flackern­den Flammen ihrer Gedanken. Ein Fluch, der lächer­lich wurde in den Bestrebungen der Geschichtschreiber von Philosophie, der ordent­li­chen Männer, die System brin­gen woll­ten in die Folge von Systemen. Die Veden bieten kein System. Orient? PLATON bietet kein System, der Grieche. Steckt ein System in der Welt, die unsere Sprachen verste­hen und beschrei­ben wollen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Gewiß aber steckt in der Welt kein mensch­li­ches, kein wissent­li­ches, kein sprach­li­ches System. Noch hat man die Pflanzen, noch hat man die Tiere nach keinem natür­li­chen System geord­net. Nur nach einem künst­li­chen, mensch­li­chen, sprach­li­chen. Steckte in dem Zusammenhang aller Stoffe und Kräfte ein mensch­li­ches Weltsystem und könn­ten wir mit den Begriffen und Urteilen der armen Menschensprache an die Stoffe und Kräfte der Natur heran, dicht heran, zum Greifen nahe, daß wir die Erscheinungen mit den Zangen unse­rer Worte fassen könn­ten, — ja, dann besä­ßen wir frei­lich ein adäqua­tes System der Welterkenntnis durch Sprache. Die Untersuchung aber, die eben die ewige Unnahbarkeit zwischen Wort und Natur bewei­sen wollte und bewie­sen hat, die Untersuchung, die ein mensch­li­ches, ein sprach­li­ches System in der Welt nicht zu erbli­cken vermag, kann kein System der Welterkenntnis bieten, kann darum viel­leicht nicht einmal von der Darstellung des Verhältnisses Systematik verlangen.

Jedermann hat die Fehler seiner Vorzüge. Glücklich genug, wenn ich die Vorzüge meiner Fehler gehabt habe.

Wer Sprachkritik trei­ben will, ernst­haft und radi­kal, den führen seine Studien uner­bitt­lich zum Nichtwissen. Der Forscher auf klei­nem Gebiete muß sich auf die Forschungsergebnisse der Nachbargebiete verlas­sen. Gerade aber auf die Grundbegriffe, auf die Prinzipien oder Elemente der großen Wissensgebiete ist kein Verlaß. Unbewiesen sind die obers­ten Sätze der Mathematik und der Mechanik, der Chemie und der Biologie. Undefiniert sind alle obers­ten Begriffe. Und mit diesen obers­ten Sätzen und Begriffen muß die Sprachkritik arbei­ten. Daher mag es kommen, daß die Männer keine Systematiker waren, die in ihrer Weltanschauung zuerst sprach­kri­ti­sche Ahnungen äußer­ten. VICO und WILHELM v. HUMBOLDT waren keine Systematiker.

Der genia­li­sche Sprachkritiker HAMANN haßte und verach­tete die Eitelkeit, gleich Systeme zu machen”.
“Diejenigen Studierenden, deren Bücher alle­zeit sehr rich­tig gestellt sind, in deren Stube es alle­zeit ordent­lich und aufge­räumt aussieht, so, daß jedes seinen eige­nen Nagel hat, haben eine gewisse Art von Einbildungskraft, welche dem Verstande und dem Gedächtnisse ganz zuwi­der ist.“
Der ausge­zeich­nete Menschenkenner HUART hat diesen Satz geschrie­ben, der junge Gelehrte LESSING hat ihn so über­setzt. In der halb­ver­schol­le­nen “Prüfung der Köpfe”.

Ein System also kann Sprachkritik nicht sein, ihrem Wesen nach nicht. Nur der Vortrag meiner Gedanken hätte wohl — wie gesagt — ordent­li­cher werden können, wenn ich über einen bessern Kopf verfügte als den meinen.

Und auch manche Überhebung des Ausdrucks wäre besser fort­ge­blie­ben. Ich verfüge aber auch über kein reine­res Herz als das meine.

Es gab in den Monaten der Umarbeitung hoch­mü­tige Stunden, in denen ich die Macht fühlte, erden­feste und erden­nahe Mystik mit himmel­hei­te­rer und himmel­fer­ner Skepsis zu verbin­den, in denen ich meine Aufgabe gelöst zu haben glaubte: Unmöglichkeit von mensch­li­cher Welterkenntnis zu lehren. Denn unsere viel­ge­rühmte Beherrschung der Natur ist nur Ausbeutung der Natur, ohne Verständnis. Wie das Altertum seine Sklaven ausbeu­tete, ohne das Menschliche in ihnen zu erken­nen. Ein Lehrer mußte kommen, Achtung vor dem wimmern­den Menschen zu predi­gen. Unser Geständnis des Nichtwissens wird Achtung vor der sprach­lo­sen Natur lehren.

Es gab demü­tige Stunden, in denen alle aufrei­bende Arbeit an sprach­kri­ti­schen Aufgaben nur gering­wer­tig erschien gegen die Tätigkeit von Männern, die kämp­fend im Leben stehen, gegen das Bemühen der Naturwissenschaft, der Menschheit mehr Lebensfreude, einem armen Kinde ein dicke­res Butterbrot zu verschaffen.

Und ich könnte nicht einmal sagen, ob die hoch­mü­ti­gen oder die demü­ti­gen Stunden die bessern waren.

Ich könnte nach so erns­ten und erre­gen­den Stunden der Selbstprüfung und Zerknirschung, der Selbstgerechtigkeit und Beichte nicht in die Niederungen einer persön­li­chen Antikritik hinab­stei­gen. Die Antworten wären zu leicht. Ein unbe­trächt­li­cher Gelehrter, der noch nie einen eige­nen Gedanken vorge­tra­gen, der immer nur aus den Büchern ansehn­li­che­rer Forscher seine Büchlein syste­ma­tisch zusam­men­ge­zupft hat, wirft mir vor, viele meiner Urteile über heute ange­se­hene Herren seien abspre­chend. Ich möchte ihm nicht gern erst erwi­dern: Absprechen ist nicht so leicht wie Abschreiben.

Ein gründ­li­cher Fachmann, den ein Kollege mahnte, sich mit den Gedanken meiner Sprachkritik ausein­an­der zu setzen, rief in mensch­lich begreif­li­cher Entrüstung aus: “Soll ich meine Kollegienhefte verbren­nen?” Ich möchte darauf nicht gern mit einem einfa­chen “Jawohl” antworten.

An dieser Stelle, wo Persönlichstes zu Worte gekom­men ist, wollte ich noch Zweien danken, ohne deren starke und schlichte Hilfe ich einige Jahre von Krankheit und Arbeit schwer­lich über­stan­den hätte. Nennen darf ich aber nur meinen Bruder Gustav, der mir öffent­li­chen wie priva­ten Dank bei Lebzeiten verwehrt hätte; jetzt aber ist er seit vier Jahren tot. Und den andern Dank, der im ersten Vorwort zu Worte kam, möchte ich erneuern.

Freiburg i. B., im Sommer 1906.
Fritz Mauthner

Published inDas Wesen der Sprache 2

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