“Jedenfalls ist der Mensch durch die Sprache unter allen Tieren der beste Lügner.”
Von seiner augenblicklichen Stimmung oder von seiner Lebensstimmung, also von seinem Charakter, wird es abhängen, ob der Mensch lieber spricht oder lieber schweigt.
Zweierlei Bestien sind die dümmsten. Die gar nicht reden können, wie z.B. vermutlich die Austern; und die gar nicht schweigen können. Beiden ist es versagt, sich mitzuteilen. Die einen sind stumm, und die anderen machen nur Geräusch. Daher kommt es, daß in Gesellschaft mitunter sehr viele unaufhörlich zugleich zu sprechen scheinen. Sie haben einander nichts zu sagen, und es ist ganz belanglos, daß das Geräusch mit artikulierten Lauten erzeugt wird.
Die Geschichte vom Schatzgräber, dessen Schätze sich beim ersten ausgesprochenen Wort in dürres Laub oder Asche verwandelten, oder aber tausend Fuß tiefer in die Erde sanken, wiederholt sich alltäglich. Der Denker und der Dichter wühlt sich ein in die bessere Erkenntnis von Welt und Menschen. Solange er schweigt, solange ihn die Wollust des Findens nicht zu Verstand kommen läßt, solange glaubt er Gold in der Hand zu halten. Will er es aber aussprechen, will er dem Funde einen Namen geben, will er die Erkenntnis aussprechen, so erfährt er entweder, daß er der geglaubten Erkenntnis gar nicht näher gekommen ist, daß sie tausend Fuß tiefer im Dunkel versunken ist, oder daß das Gold, das er in der Hand zu halten glaubte, und das er darum nicht losläßt, sich sichtbar in dürres Laub oder Asche verwandelt. Und der Schmerz des Denkers, der Schmerz darüber, daß auch die Wollust des Findens eine Jllusion ist, der ein grauer Kater auf dem Rücken sitzt, er wird nicht geringer, wenn geringere Leute die Asche als Gold bewundern und beneiden.
Schöner und tiefer hat MEISTER ECKHART über die Herrlichkeit des Schweigens gesprochen:
“Könntest du aller Dinge zumal unwissend werden, ja könntest du in ein Unwissen deines eigenen Lebens kommen … da hätte der Geist alle Kräfte so ganz in sich gezogen, daß er des Körpers vergessen hätte, da wirkte weder Gedächtnis noch Verstand, noch die Sinne, noch die Kräfte.… So sollte der Mensch allen Sinnen entweichen und all seine Kräfte nach innen kehren und in ein Vergessen aller Dinge und seiner selber kommen.… Alle Wahrheit, die die Meister je lehrten mit ihrer eigenen Vernunft und ihrem Verstande oder in Zukunft lehren bis an den jüngsten Tag, die verstanden nie das mindeste von diesem Wissen und diesem Verborgenen. Wenn es schon ein Unwissen heißt und eine Unerkanntheit, so hat es doch mehr in sich drinnen als alles Wissen und Erkennen von außen: denn dies äußere Unwissen reizt und zieht dich von allen Wissensdingen ab und auch von dir selbst. Das meinte Christus, als er sprach: Wer sich nicht selbst verleugnet und nicht Vater und Mutter läßt und alles, was äußerlich ist, der ist meiner nicht würdig. Als ob er spräche: Wer nicht alle Äußerlichkeit der Kreaturen läßt, der kann in diese göttliche Geburt weder empfangen noch geboren werden. Ja: wenn du dich deines Selbst beraubst und alles dessen, was äußerlich ist, dann findest du es in Wahrheit.” (Ausg. v. GUSTAV LANDAUER.)
Noch feiner als von SPINOZA und von MEISTER ECKHART wird das Schweigen schon im Upanishad gerühmt. Bâhva wurde gebeten, das Brahman, das Weltprinzip, zu erklären. Bâhva schwieg stille. Als der Frager zum zweiten und zum dritten Male fragte, sprach Bâhva: “Ich lehre es ja, du aber verstehst es nicht; dieser Atman ist stille (Atman das Selbst, das Wesen der Dinge).” Und die indischen Weisen bilden dazu noch den Begriff einer Überstille aus. Zu praktischen Zwecken des Yoga, ihrer Askese. Der heilige “Om“laut kann unser Schweigen sein. Ist noch ein Wort. Zum höchsten Einssein der Vernichtung gelangt man durch das Nichtwort. Schweigen ist noch ein Wort. Was Schweigen heißt, das “Om”, ist noch wie ein “Fahrweg; zur Höhe führt der Fußweg des Überschweigens.” (Vgl. DEUSSEN)
Man glaubt gewöhnlich, es sei schwer, reden zu lernen. Umgekehrt. Reden lernt sich von selbst, nicht in der Schule, nicht unter der Zucht des Vaters: beim Spielen mit der Mutter, die Muttersprache. Schwer ist es, schweigen zu lernen. Es ist die wichtigste passive Lüge, auf eine starke Empfindung hin nicht sofort durch das entsprechende Geschwätz zu reagieren. Das bringt kein Tier zu stande. Der Indianer und der Japaner hält es für Ehrensache, Martern stumm zu ertragen. Der spartanische Knabe von gutem Hause wurde so erzogen, das hatte er gestohlen — er sich zu keinem Geständnis bringen ließ. Das sind auch für unsere gebildeten Stände die beiden Hauptpunkte. Nicht gleich schreien, wenn’s weh tut, und sich nicht verraten, wenn man ein Lump ist. Im Schweigenkönnen, in der passiven Lüge besteht der Hauptunterschied vom Tiere. Auf das aktive, das gewöhnliche Lügen versteht sich das Tier, das nicht dressiert worden ist, sehr gut. Sonst wäre der Mensch das lügende Tier, wie er das feuermachende Tier ist. Jedenfalls ist der Mensch durch die Sprache unter allen Tieren der beste Lügner.
Man hat mir nicht ohne zitternde Stimme entgegengehalten, daß die Lüge nicht mehr unsittlich sein werde, wenn man die Sprache als ein schlechtes Werkzeug der Erkenntnis erkannt habe; wenn jeder Satz falsch wäre, so käme es auf ein bißchen Fälschung mehr nicht an.
Darauf habe ich zunächst zu erwidern, daß mich die Geschichte der menschlichen Sitte hier wenig angeht, daß der Vorwurf der Unsittlichkeit oder Härte den Gedanken so wenig trifft wie den Diamanten der Vorwurf der Unsittlichkeit oder der Härte, daß die Lüge überhaupt an sich so wenig in das Gebiet der Moral gehöre wie andere Waffen, und daß nur der Gebrauch der Lüge wie der Gebrauch anderer Waffen unter den Begriff der Bräuche oder Sitten falle.
Sodann aber wird der Charakter, der unbeugsam auf seiner Meinung beharrt, erst recht eigensinnig werden, wenn sich ihm die Sprache als das mangelhafte System von Zeichen für mangelhaft bewußte Empfindungen enthüllt hat. Der Bekenner von ehemals, der sich für seinen Begriff von der Dreieinigkeit verbrennen ließ, mußte eigentlich mitunter den fürchterlichen Einfall haben: “Wie, wenn meine Gegner recht hätten?” Er starb für Worte, deren Sinn auf eine Autorität gegründet war, auf die der Bibel, auf die eines Lehrers, auf die der Tradition. Der Märtyrer von ehemals starb also, weil er seinen Glauben an andere nicht verleugnen wollte.
Nach unserer Vorstellung sind alle unsere Kenntnisse schließlich die Folgen unserer eigensten Empfindungen. Wir müßten also den Glauben an uns selbst verleugnen, wollten wir unsere Überzeugungen abschwören. Und da meine ich doch, es werden zahlreichere Menschen für ihre Empfindungen eintreten wollen als für Worte fremder Leute. So schuftig ist doch nicht leicht ein Mensch, daß er blau nennt, was er weiß sieht.
Märtyrer übrigens, welche, wie z.B. die gläubigen Mohammedaner, um eines jenseitigen Lohnes willen tapfer sterben, kann man gar nicht zu den Bekennern rechnen; sie sind waghalsige Spekulanten, die selbst den Tod kaufen, weil sie á la hausse spekulieren.
Die Hilflosigkeit gegenüber dem Wort, die wir bei den Agenten und Lagermeistern des spekulativen Denkgeschäftes immer wahrnehmen, wird verzeihlicher, wenn wir auf die Frechheit achten, mit der das Wort wie ein schamloser Geschäftsreisender nach jeder Abweisung sich immer wieder einführt.
Das frechste Wort ist wohl die alte platonische “Idee”. Es hat die Gründung des Wortrealismus verschuldet.
Frech ist “Kategorie”.
Eine gewisse humoristische Frechheit liegt z.B. in den Worten “die beste aller Welten”. Schon die Mehrzahl von Welt zu bilden ist eine Frechheit, weil es doch nie und nimmer mehr als eine Welt gegeben hat, und die Vergleichung darum unmöglich ist. Darum ist ja der Superlativ “beste” unsäglich frech, auch wenn es überhaupt gestattet wäre, von “gut” einen Superlativ zu bilden. Ich behaupte freilich, daß das Wort “der beste” überhaupt nur den Sinn von “sehr gut” hat, daß dieser Superlativ aber nur gebildet worden ist, weil die Grammatik so etwas unter ihren Formen hatte. Es ist freilich zu beachten, daß in den meisten unserer Sprachen “der beste” unregelmäßig ist. Daß also der Superlativ von “gut” nicht analogisch, nicht sprachlich gebildet ist. Daß also “best” ursprünglich wer weiß welchen Sinn gehabt hat.
Vielleicht die letzte große nachhaltige Frechheit des Wortes war im “kategorischen Imperativ”. Seitdem haben sich die besten Köpfe von der wissenschaftlichen Behandlung der Ethik und Religion zurückgezogen.
Die Einsicht, daß die Sprache wertlos sei für jedes höhere Streben nach Erkenntnis, würde uns nur vorsichtiger in ihrem Gebrauche machen. Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen, der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.
Die Sprache ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit peitschen. Jeder ist Fronvogt und jeder Fronknecht. Wer die Peitsche nicht führen und unter ihren Hieben nicht schreien will, der heißt ein stummer Hund und Verbrecher und wird beiseite geschafft. Die Sprache ist der Ziehhund, der die große Trommel in der Musikbande des Menschenheeres zieht. Die Sprache ist der Hundsaffe, der Prostituierte, der mißbraucht wird für die drei großen Begierden des Menschen, der sich brüllend vor den Pflug spannt als Arbeiter für den Hunger, der sich und seine Familie verkauft als Kuppler für die Liebe, und der sich all in seiner Scheußlichkeit verhöhnen läßt als Folie für die Eitelkeit, und der schließlich noch der Luxusbegierde dient und als Zirkusaffe seine Sprünge macht, damit der Affe einen Apfel kriege und eine Kußhand und damit er selbst Künstler heiße.
Die Sprache ist die große Lehrmeisterin zum Laster. Die Sprache hat die Menschheit emporgeführt bis zu der Galgenhöhe von Babylon, Paris, London und Berlin, die Sprache ist die Teufelin, die der Menschheit das Herz genommen hat und Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür versprochen. Das Herz hat die Sprache gefressen wie eine Krebskrankheit, aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen, schallende Backpfeifen als Antwort auf die ewige Klage, wie andere Lehrer andere Kinder durch Schlagen zum Schweigen bringen. Erkenntnis haben die Gespenster aus dem Paradies der Menschheit versprochen, als sie die Sprache lehrten. Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradies vertrieben. Hätte die Menschheit aber die Sprache lieber den Affen oder den Läusen geschenkt, so hätten die Affen oder die Läuse daran zu tragen, und wir wären nicht allein krank, vergiftet, in der ungeheuren sprachlosen, heilen Natur. Wir wären dann Tiere, wie wir es hochmütig nennen in unserer protzigen Menschensprache, oder wir wären Götter, wie wir es empfinden, wenn ein Blitz uns verstummen macht oder sonst ein Wunder der sprachlosen Natur.
MACAULAY hat einmal die Beschäftigung der scholastischen Philosophen (im Gegensatz zum natürlichen Denken) mit dem Gehen in einer Tretmühle verglichen; und ich weiß nicht einmal, ob er dabei den boshaften Nebengedanken hatte daß es meistens Esel sind, die dadurch Tretmühlen treiben daß sie die Bewegung des Gehens machen, ohne vorwärts zu kommen. Dieser Vergleich enthält eine Ungerechtigkeit gegen die alte Philosophie insofern, als jeder Versuch aller Zeiten, im Rade der Sprache gehend weiter zu kommen, ebenso fruchtlos ist, nicht zuletzt BACONs Versuch, Regeln für das Erfinden aufzustellen, wie ARISTOTELES Regeln für das Verstehen aufstellte. Wie es Taschenspieler gibt, welche für den Schluß ihrer Vorstellung eine Erklärung der angewandten Mittel versprechen, welche aber am Ende eine falsche Erklärung geben, um sich vor Nachahmern ihrer Kunststücke zu schützen, und wie diese schließlich doch auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit beruhen, — so geben ARISTOTELES und BACON (freilich unbewußt) ebenfalls falsche Erklärungen ihrer Kunststücke und haben durch ihre scharfsinnigen Regeln noch keinen Menschen in den Stand gesetzt, Schöpfer zu werden. Weder das Organon noch das neue Organon haben etwas Organisches hervorgebracht.
Der Philosoph, der auf dem in sich selbst zurückkehrenden Wege der Sprache zu neuen Einsichten kommen will, gleicht auch gar nicht dem gewöhnlichen Esel in der Tretmühle, welcher ja doch nur vom Futter gelockt und von der Peitsche getrieben ein Bein vors andere setzt; er würde nur dem gelehrten Zirkusesel gleichen, der es bis zur menschlichen Freiheit gebracht hätte, sich das Feld seiner Tätigkeit selbst auszusuchen, der dann das Tretrad zum Schauplatz seiner Kunst gewählt hätte und in diesem Rade eitel und elegant wie ein Seiltänzer arbeitete, scheinbar immer aufwärts, wirklich immer auf derselben Stelle und ergebnisloser als der gewöhnliche Esel; denn das Tretrad der Sprache hat keine Mahlsteine.
Durch die ganze Geschichte der Philosophie, das heißt durch die Reihe von Gedankenwerken bedeutender Männer, zieht sich der auffallende Gegensatz, daß alle Köpfe ersten Ranges das Elend, ja das Grauen des Lebens durchschaut haben und von HOMEROS bis SCHOPENHAUER den Satz des SOPHOKLES irgendwie aussprechen, es wäre besser nicht geboren worden zu sein, daß anderseits dieselben Köpfe eine überlegene Heiterkeit des Geistes entweder zeigen oder doch empfehlen. Wie kann die tiefere Einsicht zugleich zum Pessimismus und Optimismus — wie man das gewöhnlich nennt führen, zum Weltschmerz und zur ruhigen Heiterkeit?
Das Rätsel lichtet sich ein wenig, wenn man beachtet, daß, wer die Welt am tiefsten zu kennen sich bemüht, auch am besten die Betrügerin Sprache durchschauen wird. Und da kann es nicht fehlen, daß jeder blitzartig schnelle Blick hinter die Schleier des Lebens uns mit dem furchtbarsten Entsetzen, dem Entsetzen vor der Bestie in uns, erfüllt, daß aber diese Erkenntnis selbst sich zur Heiterkeit abklären kann, wenn wir wissen, daß diese Erkenntnis nichts anderes ist als Sprache, ein Windhauch der Erinnerung.
Es ist nämlich das Entsetzen vor dem Leben, der Weltschmerz oder Pessimismus — den darstellen zu wollen nach SCHOPENHAUER überflüssig und eitel wäre wie EDUARD von HARTMANN — es ist das Grauen vor der Gemeinheit der drei treibenden Mächte doch nicht eigentlich eine Einsicht, sondern eine Gefühlsfarbe, eine Stimmung, die bei den besten Denkern nur darum stets anzutreffen ist (auch bei den Verfassern von Theodiceen), weil doch die Fähigkeit zu so ungeheurer Kopfarbeit niemals ohne starke Erregbarkeit anderer Nervengruppen vorhanden sein dürfte. In der Gegenwart ist es, wo der Mensch leidet, immer leidet, wenn er feine Sinne hat durch die Niedrigkeit der Menschennatur (auch seiner eigenen), durch das Leiden anderer (auch der Tiere), durch ewige Unbefriedigung. Das ist die Gegenwart, die doch immer da ist, und darum ruht auf dem Leben des Denkers der Weltschmerz, der Schmerz um und durch die Welt, wie eine dunkle Wolke.
Was sich nun von dieser Wolke wie ein Regenbogen abhebt, und zwar so, daß jeder Mensch der Mittelpunkt seines eigensten Regenbogens ist, das ist die Heiterkeit des Geistes, die von SOKRATES bis KANT jeder große Kopf gelehrt hat. Nur daß es falsch war, sie lehren zu wollen, weil sie sich aus der Einsicht von selbst ergibt. Einsicht ist nämlich immer heiter, weil Einsicht, Kenntnis, Philosophie, Denken, oder wie man es nennen will, immer nur in Sprache besteht, Sprache aber nichts ist als Erinnerung, die Summe der Erinnerungen des Menschengeschlechts, weil Erinnerung heiter ist, selbst die Erinnerung an Trübstes.
Das klingt paradox, ist aber eine alltägliche Erfahrung. Nur das Leben tut weh, die Gegenwart. Die Einsicht selbst in dieses Weh muß aber die Form der Sprache annehmen, und so ist die Sprache die Befreiung vom Schmerz durch die Erinnerung. Und wir sehen schon hier die Sprache den Tränen verwandt.
Genau besehen ist auch die Einsicht in künftige Schmerzen als Einsicht ein Grund zur Heiterkeit; solange wir nämlich künftige Leiden uns denkend, das heißt in Worten, ausmalen, so lange tun wir es ja durch das Werkzeug der Erinnerung, so lange macht es keinen Unterschied, ob der Schmerz uns bevorsteht oder vergangen ist. Und Martern, die wir nicht kennen, können wir uns darum ohne jede Bewegung vorstellen; wie denn junge Leute in gewissen Jahren sich zum Vergnügen ausmalen, sie würden gepfählt, gerädert oder so. Es ist eben nicht Erfahrungserinnerung, sondern Bucherinnerung. Da ist der furchtbarste künftige Schmerz das reine Vergnügen.
Dem scheint entgegenzustehen, daß die Vorstellung künftiger Leiden (Furcht) quälen kann, ja daß sie tiefe physiologische Änderungen hervorruft. Es sind dann aber sicherlich wortlose Vorstellungen ausgelöst worden, die das Leben geradezu angreifen und darum gegenwärtige Leiden sind; so zittert das Tierchen in den Krallen des Habichts, trotzdem Zukunft denkt. Der gewöhnliche Mensch “verliert das Bewußtsein”, wenn ihm plötzlich der Henker, eine Waffe oder das Feuer droht; er verliert eben die Sprache, das heißt das Denken, er denkt die Zukunft nicht mehr, er fühlt sie als Gegenwart. Der sogenannte Philosoph nun, in seiner Virtuosität des Denkens, kann unter solchen Umständen weiter denken, das heißt die Zukunft als Zukunft mit Worten vorstellen; und sofort wird, was ein Schmerz schien, ein bloßer Lufthauch, das Leiden wird wie mit starker Hand aus der Gegenwart in die Zukunft zurückgeschoben, und GIORDANO BRUNO besteigt lächelnd den Holzstoß, SOKRATES erwartet den Tod unter freundlichem Geplauder.
So gewinnt schon hier die Sprache ihren Zauber als Kunstmittel, oder vielmehr die Kunst steigert sich zum äußersten, sie wird ein Zauber, der den höchsten Menschen in der bittersten Stunde sich selbst als Kunstwerk sehen läßt — der gräßlichste Schmerz wird nicht gefühlt, weil er gedacht wird.
Das ist die ruhige Heiterkeit der wenigen ganz Großen; die Sprache schuf ihnen diese Heiterkeit. Vor der bitteren Stunde war ihnen die Sprache ein böseres Lachen.
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