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7. Das Schweigen

Jedenfalls ist der Mensch durch die Sprache unter allen Tieren der beste Lügner.”

Von seiner augen­blick­li­chen Stimmung oder von seiner Lebensstimmung, also von seinem Charakter, wird es abhän­gen, ob der Mensch lieber spricht oder lieber schweigt.

Zweierlei Bestien sind die dümms­ten. Die gar nicht reden können, wie z.B. vermut­lich die Austern; und die gar nicht schwei­gen können. Beiden ist es versagt, sich mitzu­tei­len. Die einen sind stumm, und die ande­ren machen nur Geräusch. Daher kommt es, daß in Gesellschaft mitun­ter sehr viele unauf­hör­lich zugleich zu spre­chen schei­nen. Sie haben einan­der nichts zu sagen, und es ist ganz belang­los, daß das Geräusch mit arti­ku­lier­ten Lauten erzeugt wird.

Die Geschichte vom Schatzgräber, dessen Schätze sich beim ersten ausge­spro­che­nen Wort in dürres Laub oder Asche verwan­del­ten, oder aber tausend Fuß tiefer in die Erde sanken, wieder­holt sich alltäg­lich. Der Denker und der Dichter wühlt sich ein in die bessere Erkenntnis von Welt und Menschen. Solange er schweigt, solange ihn die Wollust des Findens nicht zu Verstand kommen läßt, solange glaubt er Gold in der Hand zu halten. Will er es aber ausspre­chen, will er dem Funde einen Namen geben, will er die Erkenntnis ausspre­chen, so erfährt er entwe­der, daß er der geglaub­ten Erkenntnis gar nicht näher gekom­men ist, daß sie tausend Fuß tiefer im Dunkel versun­ken ist, oder daß das Gold, das er in der Hand zu halten glaubte, und das er darum nicht losläßt, sich sicht­bar in dürres Laub oder Asche verwan­delt. Und der Schmerz des Denkers, der Schmerz darüber, daß auch die Wollust des Findens eine Jllusion ist, der ein grauer Kater auf dem Rücken sitzt, er wird nicht gerin­ger, wenn gerin­gere Leute die Asche als Gold bewun­dern und beneiden.

Schöner und tiefer hat MEISTER ECKHART über die Herrlichkeit des Schweigens gespro­chen:
“Könntest du aller Dinge zumal unwis­send werden, ja könn­test du in ein Unwissen deines eige­nen Lebens kommen … da hätte der Geist alle Kräfte so ganz in sich gezo­gen, daß er des Körpers verges­sen hätte, da wirkte weder Gedächtnis noch Verstand, noch die Sinne, noch die Kräfte.… So sollte der Mensch allen Sinnen entwei­chen und all seine Kräfte nach innen kehren und in ein Vergessen aller Dinge und seiner selber kommen.… Alle Wahrheit, die die Meister je lehr­ten mit ihrer eige­nen Vernunft und ihrem Verstande oder in Zukunft lehren bis an den jüngs­ten Tag, die verstan­den nie das mindeste von diesem Wissen und diesem Verborgenen. Wenn es schon ein Unwissen heißt und eine Unerkanntheit, so hat es doch mehr in sich drin­nen als alles Wissen und Erkennen von außen: denn dies äußere Unwissen reizt und zieht dich von allen Wissensdingen ab und auch von dir selbst. Das meinte Christus, als er sprach: Wer sich nicht selbst verleug­net und nicht Vater und Mutter läßt und alles, was äußer­lich ist, der ist meiner nicht würdig. Als ob er sprä­che: Wer nicht alle Äußerlichkeit der Kreaturen läßt, der kann in diese gött­li­che Geburt weder empfan­gen noch gebo­ren werden. Ja: wenn du dich deines Selbst beraubst und alles dessen, was äußer­lich ist, dann findest du es in Wahrheit.” (Ausg. v. GUSTAV LANDAUER.)
Noch feiner als von SPINOZA und von MEISTER ECKHART wird das Schweigen schon im Upanishad gerühmt. Bâhva wurde gebe­ten, das Brahman, das Weltprinzip, zu erklä­ren. Bâhva schwieg stille. Als der Frager zum zwei­ten und zum drit­ten Male fragte, sprach Bâhva: “Ich lehre es ja, du aber verstehst es nicht; dieser Atman ist stille (Atman das Selbst, das Wesen der Dinge).” Und die indi­schen Weisen bilden dazu noch den Begriff einer Überstille aus. Zu prak­ti­schen Zwecken des Yoga, ihrer Askese. Der heilige “Om“laut kann unser Schweigen sein. Ist noch ein Wort. Zum höchs­ten Einssein der Vernichtung gelangt man durch das Nichtwort. Schweigen ist noch ein Wort. Was Schweigen heißt, das “Om”, ist noch wie ein “Fahrweg; zur Höhe führt der Fußweg des Überschweigens.” (Vgl. DEUSSEN)

Man glaubt gewöhn­lich, es sei schwer, reden zu lernen. Umgekehrt. Reden lernt sich von selbst, nicht in der Schule, nicht unter der Zucht des Vaters: beim Spielen mit der Mutter, die Muttersprache. Schwer ist es, schwei­gen zu lernen. Es ist die wich­tigste passive Lüge, auf eine starke Empfindung hin nicht sofort durch das entspre­chende Geschwätz zu reagie­ren. Das bringt kein Tier zu stande. Der Indianer und der Japaner hält es für Ehrensache, Martern stumm zu ertra­gen. Der spar­ta­ni­sche Knabe von gutem Hause wurde so erzo­gen, das hatte er gestoh­len — er sich zu keinem Geständnis brin­gen ließ. Das sind auch für unsere gebil­de­ten Stände die beiden Hauptpunkte. Nicht gleich schreien, wenn’s weh tut, und sich nicht verra­ten, wenn man ein Lump ist. Im Schweigenkönnen, in der passi­ven Lüge besteht der Hauptunterschied vom Tiere. Auf das aktive, das gewöhn­li­che Lügen versteht sich das Tier, das nicht dres­siert worden ist, sehr gut. Sonst wäre der Mensch das lügende Tier, wie er das feuer­ma­chende Tier ist. Jedenfalls ist der Mensch durch die Sprache unter allen Tieren der beste Lügner.

Man hat mir nicht ohne zitternde Stimme entge­gen­ge­hal­ten, daß die Lüge nicht mehr unsitt­lich sein werde, wenn man die Sprache als ein schlech­tes Werkzeug der Erkenntnis erkannt habe; wenn jeder Satz falsch wäre, so käme es auf ein bißchen Fälschung mehr nicht an.

Darauf habe ich zunächst zu erwi­dern, daß mich die Geschichte der mensch­li­chen Sitte hier wenig angeht, daß der Vorwurf der Unsittlichkeit oder Härte den Gedanken so wenig trifft wie den Diamanten der Vorwurf der Unsittlichkeit oder der Härte, daß die Lüge über­haupt an sich so wenig in das Gebiet der Moral gehöre wie andere Waffen, und daß nur der Gebrauch der Lüge wie der Gebrauch ande­rer Waffen unter den Begriff der Bräuche oder Sitten falle.

Sodann aber wird der Charakter, der unbeug­sam auf seiner Meinung beharrt, erst recht eigen­sin­nig werden, wenn sich ihm die Sprache als das mangel­hafte System von Zeichen für mangel­haft bewußte Empfindungen enthüllt hat. Der Bekenner von ehemals, der sich für seinen Begriff von der Dreieinigkeit verbren­nen ließ, mußte eigent­lich mitun­ter den fürch­ter­li­chen Einfall haben: “Wie, wenn meine Gegner recht hätten?” Er starb für Worte, deren Sinn auf eine Autorität gegrün­det war, auf die der Bibel, auf die eines Lehrers, auf die der Tradition. Der Märtyrer von ehemals starb also, weil er seinen Glauben an andere nicht verleug­nen wollte.

Nach unse­rer Vorstellung sind alle unsere Kenntnisse schließ­lich die Folgen unse­rer eigens­ten Empfindungen. Wir müßten also den Glauben an uns selbst verleug­nen, woll­ten wir unsere Überzeugungen abschwö­ren. Und da meine ich doch, es werden zahl­rei­chere Menschen für ihre Empfindungen eintre­ten wollen als für Worte frem­der Leute. So schuf­tig ist doch nicht leicht ein Mensch, daß er blau nennt, was er weiß sieht.

Märtyrer übri­gens, welche, wie z.B. die gläu­bi­gen Mohammedaner, um eines jensei­ti­gen Lohnes willen tapfer ster­ben, kann man gar nicht zu den Bekennern rech­nen; sie sind waghal­sige Spekulanten, die selbst den Tod kaufen, weil sie á la hausse spekulieren.

Die Hilflosigkeit gegen­über dem Wort, die wir bei den Agenten und Lagermeistern des speku­la­ti­ven Denkgeschäftes immer wahr­neh­men, wird verzeih­li­cher, wenn wir auf die Frechheit achten, mit der das Wort wie ein scham­lo­ser Geschäftsreisender nach jeder Abweisung sich immer wieder einführt.

Das frechste Wort ist wohl die alte plato­ni­sche “Idee”. Es hat die Gründung des Wortrealismus verschuldet.

Frech ist “Kategorie”.

Eine gewisse humo­ris­ti­sche Frechheit liegt z.B. in den Worten “die beste aller Welten”. Schon die Mehrzahl von Welt zu bilden ist eine Frechheit, weil es doch nie und nimmer mehr als eine Welt gege­ben hat, und die Vergleichung darum unmög­lich ist. Darum ist ja der Superlativ “beste” unsäg­lich frech, auch wenn es über­haupt gestat­tet wäre, von “gut” einen Superlativ zu bilden. Ich behaupte frei­lich, daß das Wort “der beste” über­haupt nur den Sinn von “sehr gut” hat, daß dieser Superlativ aber nur gebil­det worden ist, weil die Grammatik so etwas unter ihren Formen hatte. Es ist frei­lich zu beach­ten, daß in den meis­ten unse­rer Sprachen “der beste” unre­gel­mä­ßig ist. Daß also der Superlativ von “gut” nicht analo­gisch, nicht sprach­lich gebil­det ist. Daß also “best” ursprüng­lich wer weiß welchen Sinn gehabt hat.

Vielleicht die letzte große nach­hal­tige Frechheit des Wortes war im “kate­go­ri­schen Imperativ”. Seitdem haben sich die besten Köpfe von der wissen­schaft­li­chen Behandlung der Ethik und Religion zurückgezogen.

Die Einsicht, daß die Sprache wert­los sei für jedes höhere Streben nach Erkenntnis, würde uns nur vorsich­ti­ger in ihrem Gebrauche machen. Zum Hasse, zum höhni­schen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr inne­woh­nende Frechheit. Sie hat uns frech verra­ten; jetzt kennen wir sie. Und in den lich­ten Augenblicken dieser furcht­ba­ren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächs­ten Menschen, der uns um unse­ren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betro­gen hat.

Die Sprache ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegen­sei­tig zur Arbeit peit­schen. Jeder ist Fronvogt und jeder Fronknecht. Wer die Peitsche nicht führen und unter ihren Hieben nicht schreien will, der heißt ein stum­mer Hund und Verbrecher und wird beiseite geschafft. Die Sprache ist der Ziehhund, der die große Trommel in der Musikbande des Menschenheeres zieht. Die Sprache ist der Hundsaffe, der Prostituierte, der mißbraucht wird für die drei großen Begierden des Menschen, der sich brül­lend vor den Pflug spannt als Arbeiter für den Hunger, der sich und seine Familie verkauft als Kuppler für die Liebe, und der sich all in seiner Scheußlichkeit verhöh­nen läßt als Folie für die Eitelkeit, und der schließ­lich noch der Luxusbegierde dient und als Zirkusaffe seine Sprünge macht, damit der Affe einen Apfel kriege und eine Kußhand und damit er selbst Künstler heiße.

Die Sprache ist die große Lehrmeisterin zum Laster. Die Sprache hat die Menschheit empor­ge­führt bis zu der Galgenhöhe von Babylon, Paris, London und Berlin, die Sprache ist die Teufelin, die der Menschheit das Herz genom­men hat und Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür verspro­chen. Das Herz hat die Sprache gefres­sen wie eine Krebskrankheit, aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen, schal­lende Backpfeifen als Antwort auf die ewige Klage, wie andere Lehrer andere Kinder durch Schlagen zum Schweigen brin­gen. Erkenntnis haben die Gespenster aus dem Paradies der Menschheit verspro­chen, als sie die Sprache lehr­ten. Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradies vertrie­ben. Hätte die Menschheit aber die Sprache lieber den Affen oder den Läusen geschenkt, so hätten die Affen oder die Läuse daran zu tragen, und wir wären nicht allein krank, vergif­tet, in der unge­heu­ren sprach­lo­sen, heilen Natur. Wir wären dann Tiere, wie wir es hoch­mü­tig nennen in unse­rer prot­zi­gen Menschensprache, oder wir wären Götter, wie wir es empfin­den, wenn ein Blitz uns verstum­men macht oder sonst ein Wunder der sprach­lo­sen Natur.

MACAULAY hat einmal die Beschäftigung der scho­las­ti­schen Philosophen (im Gegensatz zum natür­li­chen Denken) mit dem Gehen in einer Tretmühle vergli­chen; und ich weiß nicht einmal, ob er dabei den boshaf­ten Nebengedanken hatte daß es meis­tens Esel sind, die dadurch Tretmühlen trei­ben daß sie die Bewegung des Gehens machen, ohne vorwärts zu kommen. Dieser Vergleich enthält eine Ungerechtigkeit gegen die alte Philosophie inso­fern, als jeder Versuch aller Zeiten, im Rade der Sprache gehend weiter zu kommen, ebenso frucht­los ist, nicht zuletzt BACONs Versuch, Regeln für das Erfinden aufzu­stel­len, wie ARISTOTELES Regeln für das Verstehen aufstellte. Wie es Taschenspieler gibt, welche für den Schluß ihrer Vorstellung eine Erklärung der ange­wand­ten Mittel verspre­chen, welche aber am Ende eine falsche Erklärung geben, um sich vor Nachahmern ihrer Kunststücke zu schüt­zen, und wie diese schließ­lich doch auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit beru­hen, — so geben ARISTOTELES und BACON (frei­lich unbe­wußt) eben­falls falsche Erklärungen ihrer Kunststücke und haben durch ihre scharf­sin­ni­gen Regeln noch keinen Menschen in den Stand gesetzt, Schöpfer zu werden. Weder das Organon noch das neue Organon haben etwas Organisches hervorgebracht.

Der Philosoph, der auf dem in sich selbst zurück­keh­ren­den Wege der Sprache zu neuen Einsichten kommen will, gleicht auch gar nicht dem gewöhn­li­chen Esel in der Tretmühle, welcher ja doch nur vom Futter gelockt und von der Peitsche getrie­ben ein Bein vors andere setzt; er würde nur dem gelehr­ten Zirkusesel glei­chen, der es bis zur mensch­li­chen Freiheit gebracht hätte, sich das Feld seiner Tätigkeit selbst auszu­su­chen, der dann das Tretrad zum Schauplatz seiner Kunst gewählt hätte und in diesem Rade eitel und elegant wie ein Seiltänzer arbei­tete, schein­bar immer aufwärts, wirk­lich immer auf dersel­ben Stelle und ergeb­nis­lo­ser als der gewöhn­li­che Esel; denn das Tretrad der Sprache hat keine Mahlsteine.

Durch die ganze Geschichte der Philosophie, das heißt durch die Reihe von Gedankenwerken bedeu­ten­der Männer, zieht sich der auffal­lende Gegensatz, daß alle Köpfe ersten Ranges das Elend, ja das Grauen des Lebens durch­schaut haben und von HOMEROS bis SCHOPENHAUER den Satz des SOPHOKLES irgend­wie ausspre­chen, es wäre besser nicht gebo­ren worden zu sein, daß ander­seits diesel­ben Köpfe eine über­le­gene Heiterkeit des Geistes entwe­der zeigen oder doch empfeh­len. Wie kann die tiefere Einsicht zugleich zum Pessimismus und Optimismus — wie man das gewöhn­lich nennt führen, zum Weltschmerz und zur ruhi­gen Heiterkeit?

Das Rätsel lich­tet sich ein wenig, wenn man beach­tet, daß, wer die Welt am tiefs­ten zu kennen sich bemüht, auch am besten die Betrügerin Sprache durch­schauen wird. Und da kann es nicht fehlen, daß jeder blitz­ar­tig schnelle Blick hinter die Schleier des Lebens uns mit dem furcht­bars­ten Entsetzen, dem Entsetzen vor der Bestie in uns, erfüllt, daß aber diese Erkenntnis selbst sich zur Heiterkeit abklä­ren kann, wenn wir wissen, daß diese Erkenntnis nichts ande­res ist als Sprache, ein Windhauch der Erinnerung.

Es ist nämlich das Entsetzen vor dem Leben, der Weltschmerz oder Pessimismus — den darstel­len zu wollen nach SCHOPENHAUER über­flüs­sig und eitel wäre wie EDUARD von HARTMANN — es ist das Grauen vor der Gemeinheit der drei trei­ben­den Mächte doch nicht eigent­lich eine Einsicht, sondern eine Gefühlsfarbe, eine Stimmung, die bei den besten Denkern nur darum stets anzu­tref­fen ist (auch bei den Verfassern von Theodiceen), weil doch die Fähigkeit zu so unge­heu­rer Kopfarbeit niemals ohne starke Erregbarkeit ande­rer Nervengruppen vorhan­den sein dürfte. In der Gegenwart ist es, wo der Mensch leidet, immer leidet, wenn er feine Sinne hat durch die Niedrigkeit der Menschennatur (auch seiner eige­nen), durch das Leiden ande­rer (auch der Tiere), durch ewige Unbefriedigung. Das ist die Gegenwart, die doch immer da ist, und darum ruht auf dem Leben des Denkers der Weltschmerz, der Schmerz um und durch die Welt, wie eine dunkle Wolke.

Was sich nun von dieser Wolke wie ein Regenbogen abhebt, und zwar so, daß jeder Mensch der Mittelpunkt seines eigens­ten Regenbogens ist, das ist die Heiterkeit des Geistes, die von SOKRATES bis KANT jeder große Kopf gelehrt hat. Nur daß es falsch war, sie lehren zu wollen, weil sie sich aus der Einsicht von selbst ergibt. Einsicht ist nämlich immer heiter, weil Einsicht, Kenntnis, Philosophie, Denken, oder wie man es nennen will, immer nur in Sprache besteht, Sprache aber nichts ist als Erinnerung, die Summe der Erinnerungen des Menschengeschlechts, weil Erinnerung heiter ist, selbst die Erinnerung an Trübstes.

Das klingt para­dox, ist aber eine alltäg­li­che Erfahrung. Nur das Leben tut weh, die Gegenwart. Die Einsicht selbst in dieses Weh muß aber die Form der Sprache anneh­men, und so ist die Sprache die Befreiung vom Schmerz durch die Erinnerung. Und wir sehen schon hier die Sprache den Tränen verwandt.

Genau bese­hen ist auch die Einsicht in künf­tige Schmerzen als Einsicht ein Grund zur Heiterkeit; solange wir nämlich künf­tige Leiden uns denkend, das heißt in Worten, ausma­len, so lange tun wir es ja durch das Werkzeug der Erinnerung, so lange macht es keinen Unterschied, ob der Schmerz uns bevor­steht oder vergan­gen ist. Und Martern, die wir nicht kennen, können wir uns darum ohne jede Bewegung vorstel­len; wie denn junge Leute in gewis­sen Jahren sich zum Vergnügen ausma­len, sie würden gepfählt, gerä­dert oder so. Es ist eben nicht Erfahrungserinnerung, sondern Bucherinnerung. Da ist der furcht­barste künf­tige Schmerz das reine Vergnügen.

Dem scheint entge­gen­zu­ste­hen, daß die Vorstellung künf­ti­ger Leiden (Furcht) quälen kann, ja daß sie tiefe physio­lo­gi­sche Änderungen hervor­ruft. Es sind dann aber sicher­lich wort­lose Vorstellungen ausge­löst worden, die das Leben gera­dezu angrei­fen und darum gegen­wär­tige Leiden sind; so zittert das Tierchen in den Krallen des Habichts, trotz­dem Zukunft denkt. Der gewöhn­li­che Mensch “verliert das Bewußtsein”, wenn ihm plötz­lich der Henker, eine Waffe oder das Feuer droht; er verliert eben die Sprache, das heißt das Denken, er denkt die Zukunft nicht mehr, er fühlt sie als Gegenwart. Der soge­nannte Philosoph nun, in seiner Virtuosität des Denkens, kann unter solchen Umständen weiter denken, das heißt die Zukunft als Zukunft mit Worten vorstel­len; und sofort wird, was ein Schmerz schien, ein bloßer Lufthauch, das Leiden wird wie mit star­ker Hand aus der Gegenwart in die Zukunft zurück­ge­scho­ben, und GIORDANO BRUNO besteigt lächelnd den Holzstoß, SOKRATES erwar­tet den Tod unter freund­li­chem Geplauder.

So gewinnt schon hier die Sprache ihren Zauber als Kunstmittel, oder viel­mehr die Kunst stei­gert sich zum äußers­ten, sie wird ein Zauber, der den höchs­ten Menschen in der bitters­ten Stunde sich selbst als Kunstwerk sehen läßt — der gräß­lichste Schmerz wird nicht gefühlt, weil er gedacht wird.

Das ist die ruhige Heiterkeit der weni­gen ganz Großen; die Sprache schuf ihnen diese Heiterkeit. Vor der bitte­ren Stunde war ihnen die Sprache ein böse­res Lachen.

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