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3. Sprache und Sozialismus

Der Kommunismus hat auf dem Gebiete der Sprache Wirklichkeit werden können, weil die Sprache nichts ist, woran Eigentum behaup­tet werden kann; der gemein­same Besitz ist ohne Störung möglich, weil die Sprache nichts ande­res ist als eben die Gemeinsamkeit oder die Gemeinheit der Weltanschauung.”

Das nun aber ist gerade das unge­heure Gaukelspiel der Sprache, daß der Grund und das Zeichen ihrer kläg­li­chen Armut, für maßlo­sen Reichtum gehal­ten wird, und von den Menschenmassen und Massenmenschen mit Recht dafür gehal­ten wird: weil die Sprache ein Gebrauchsgegenstand ist, der durch die Ausbreitung des Gebrauchs an Wert gewinnt. Das Wunder ist leicht aufzu­klä­ren. Alle ande­ren Gebrauchsgegenstände werden durch den Gebrauch entwe­der vernich­tet wie die Nahrungsmittel, oder verschlech­tert wie Werkzeuge und Maschinen. Wäre die Sprache ein Werkzeug, so würde auch die Sprache verschlech­tert und verbraucht werden. Nur Worte werden aber verbraucht, verschlis­sen, entwer­tet. Werden aber dadurch erst recht wert­voll für die Masse. Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, auch kein Werkzeug, sie ist über­haupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts ande­res als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch. Da ist es doch kein Wunder mehr, wenn der Gebrauch mit dem Gebrauche sich steigert.

Diese Tatsache, welche ja nicht ganz über­se­hen werden konnte, hat man seit HEGEL so zu verdre­hen gesucht, daß man die Sprache mit der Kunst, der Religion und den Staatseinrichtungen zu den Schöpfungen des soge­nann­ten objek­ti­ven Geistes rech­nete. Eigentlich ist Geist das Subjektive im Menschen; indem man nun dieses Subjektive über den Einzelmenschen hinaus­schleu­dert und es objek­tiv nennt, schafft man sich einen neuen Gott, mit dem sich die Sozialdemokraten abfin­den soll­ten. Denn dieser objek­tive Geist denkt und will und tut, was die Masse denkt und will und tut. In Wahrheit ist die Tatsache, welche so groß­wor­tig als objek­ti­ver Geist auftritt, nichts ande­res als die Abhängigkeit des Einzelmenschen von der Sprache, die er von den aufein­an­der folgen­den Massen seiner Volksvorfahren geerbt hat, und die nur darum einen Gebrauchswert für ihn besitzt, weil sie Gemeineigentum aller Volksgenossen ist. Gebrauchsgegenstände blei­ben unver­än­dert, wenn weder mensch­li­cher Gebrauch noch ihr unge­woll­ter Verbrauch durch die Naturkräfte sie verzehrt. Die Sprache dage­gen, weil sie kein Gebrauchsgegenstand, sondern selbst Gebrauch ist, stirbt ohne Gebrauch. Und da ist es nun von ausschlag­ge­ben­der Wichtigkeit, daß alle Teile der Sprache irgendwo im Volke immer im Gebrauch sind. Der Einzelmensch gebraucht viel­leicht jahre­lang kaum den zehn­ten Teil der Worte, die die Sprache ihm zur Verfügung stellt, und nur einen winzi­gen Bruchteil der Kombinationen dieser Worte. Der Einzelne beherrscht seine Muttersprache nicht — wie gesagt. Anderswo jedoch ist wieder ein ande­res Zehntel im Gebrauch, und an das Ohr des Einzelmenschen schla­gen von Zeit zu Zeit von den unge­brauch­ten Zehnteln so viele Assoziationszentren der Sprache, daß schließ­lich ein weit größe­rer Teil der Gesamtsprache durch passive Einübung in steter Bereitschaft steht.

Der Kommunismus hat auf dem Gebiete der Sprache Wirklichkeit werden können, weil die Sprache nichts ist, woran Eigentum behaup­tet werden kann; der gemein­same Besitz ist ohne Störung möglich, weil die Sprache nichts ande­res ist als eben die Gemeinsamkeit oder die Gemeinheit der Weltanschauuung. Die Menschenmassen und die Massenmenschen freuen sich stau­nend dieses Besitzes und ahnen nicht, daß er eine Selbsttäuschung ist. Licht und Luft sind auch gemein­sam, aber sie sind etwas, und jeder Wärmestrahl, jedes Luftatom, das der eine verbraucht, wird dem ande­ren entzo­gen. Licht und Luft sind noch Werte. Der Städter muß sie teuer bezah­len. Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch umso zwin­gen­der wird, je mehr Mitspieler sich ihr unter­wer­fen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begrei­fen will. In dem welt­um­span­nen­den und fast majes­tä­ti­schen Gesellschaftsspiel der Sprache erfreut es den einzel­nen, wenn er nach der glei­chen Spielregel mit Millionen zusam­men denkt, wenn er z.B. für alte Rätselfragen die neue Antwort “Entwicklung” nach­spre­chen gelernt hat, wenn das Wort Naturalismus Mode gewor­den ist, oder wenn die Worte Freiheit, Fortschritt ihn regi­men­ter­weise aufregen.

Von star­ken Naturen, welche den Menschenmassen in diesem Weltgesellschaftsspiel die Worte zuru­fen, wird Geschichte gemacht. Sie passen in die Welt. Die geis­tige Geschichte wird von Ausnahmsmenschen gemacht, welche nicht in die Welt passen, welche abseits vom Spiele die Welt anders betrach­ten, als die Vorgängermassen sie betrach­tet haben und als die ererbte Sprache es verlangt, von Menschen, welche, erblos und eigen, die Welt neu zu erken­nen glau­ben und sich’s kaum einge­ste­hen dürfen, daß auch sie mit Aufopferung ihres Lebens nichts weiter erson­nen haben als nur kleine Abänderungen der Spielregeln für das Gesellschaftsspiel der Welt. Man kann sie auch betrach­ten als zufäl­lige Variationen, welche die feste Erblichkeit der Art durch­bre­chen und viel­leicht zu einer leisen Abänderung der Art beitra­gen werden. Sie wissen wenig anzu­fan­gen mit dem Gemeineigentum der Sprache, und die Gesellschaft, die Gemeine, weiß nicht viel mit ihnen anzufangen.

Man hat die Sprache so oft ein bewun­de­rungs­wür­di­ges Kunstwerk genannt, daß die meis­ten Menschen diese schwe­bende Nebelmasse in einem verflie­ßen­den Begriffe wirk­lich für ein Kunstwerk halten. Nur daß der eine dieselbe Bildung für eine Wiesenfläche, der zweite sie für einen alten Tempel und der dritte sie für das Porträt seines Großvaters hält.

Ein Kunstwerk kann die Sprache schon darum nicht sein, weil sie nicht die Schöpfung eines Einzigen ist. Ich kann es mir (wie gesagt) nicht eigent­lich vorstel­len, aber ich kann es mit Worten denken, daß die Menschheit wort­los und begriff­los jahr­tau­sen­de­lang dahin gelebt hätte, zwei­fel­los und lügen­los wie die Tierwelt, und dann einmal plötz­lich ein Riesenmensch entstan­den wäre, ein Klaftermensch unter Ellenmenschen. Und der wäre ein Dichter gewe­sen. Weil die Sprache nie ein Kunstwerk war, aber immer das Kunstmittel der Poesie. Er hätte sich, er für sich ganz allein, als ob er in einem Donner die Spannung hätte entla­den wollen, die Sprache ersehnt, erfun­den und ausge­baut, Das wäre dann ein Kunstwerk gewor­den. Das Werk Eines. Aber auch ein Monolog. Die Ellenmenschen hätten ihn nicht verstan­den. Die Sprache aus dem Donnerbedürfnis hätte ein Kunstwerk werden können. Die Sprache aus dem gemei­nen Mitteilungstrieb ist schlechte Fabrikarbeit, zusam­men­ge­stop­pelt von Milliarden von Tagelöhnern.

Wie aber die Sprache kein Kunstwerk sein kann, weil nicht ein einzi­ger sie geschaf­fen hat, so ist sie auch kein Kunstwerk, weil sie nicht gemacht ist für das große Bedürfnis der Klaftermenschen, sondern für die klei­nen Bedürfnisse aller. Die Sprache ist gewor­den wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und das alles ist inein­an­der geschach­telt, mitein­an­der verbun­den, durch­ein­an­der geschmiert, durch Röhren und Gräben, und wenn man einen Botokuden (unzi­vi­li­sier­ter Mensch) davor­stellt und ihm sagt, das sei ein Kunstwerk, so glaubt es der Esel und hat doch zu Hause die eigene Hütte, rund und frei.

Ist die Sprache aber kein Kunstwerk, so ist sie dafür bis heute die einzige Einrichtung der Gesellschaft, die wirk­lich schon auf sozia­lis­ti­scher Grundlage beruht. Zwar hat auch die Stadt wie die Sprache ihre Gasröhren, die ein vergif­te­tes Licht in alle Kammern trei­ben, die Bleiröhren, die ein verseuch­tes Wasser in alle Küchen liefern, die Kanäle, die den Unrat der Millionen in schö­ner Symmetrie zu dem ober­ir­di­schen Leben munter unter der Erde weiter­plät­schern lassen nach neuen Gebieten der kommen­den Menschheit, den Rieselfeldern. Aber Kohlendunst, Sumpfwasser und Dünger sind noch nicht über­all Gemeingut. Der Steuerexekutor steht am Hahn und verlangt Geld. Da ist die Sprache eine weit lusti­gere Sache. Um es grell auszu­drü­cken: In ihren verros­te­ten Röhren fließt durch­ein­an­der Licht und Gift, Wasser und Seuche und spritzt umsonst über­all aus den Fugen, mitten unter den Menschen; die ganze Gesellschaft ist nichts als eine unge­heure Gratiswasserkunst für dieses Gemengsel, jeder einzelne ist ein Waaserspeier, und von Mund zu Mund speit sich der trübe Quell entge­gen und vermischt sich träch­tig und anste­ckend, aber unfrucht­bar und nieder­träch­tig, und da gibt es kein Eigentum und kein Recht und keine Macht. Die Sprache ist Gemeineigentum. Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es, und alle geben es von sich.

Utopisten hoffen und lehren, die ganze Natur werde einmal so gemein werden wie die Sprache, wenn erst alles Eigentum gemein­sam und wohl­feil sein wird wie die Sprache.

Seitdem man gelernt hat, die Sprache wie alle Volkspsychologie als etwas zu betrach­ten, was nicht in meinem und nicht in deinem Kopfe vorgeht, sondern was zwischen den Menschen schwebt wie der Äther, seit­dem hätte man auch die Logik der Volkspsychologie zuwei­sen und auch das Denken als etwas erken­nen müssen, was als flie­ßen­des Gewässer die Menschen trennt, oder als federnde Brücke hinüber­führt, was aber niemals dem festen Lande gleicht.

Insofern frei­lich das Denken oder die Sprache etwas Selbsterzeugtes ist, eine Sammlung von Erinnerungszeichen, um sich in der Fülle der Eindrücke nicht zu verir­ren, haftet die Sprache aller­dings am Individuum, an meinem und deinem Gehirn. Das ist aber der kleinste Teil der Sprache, der wert­vollste für die Persönlichkeit, der wert­lo­seste auf der Börse des mensch­li­chen Verkehrs; denn dieser Teil ist nicht verkäuf­lich, ist nicht über­trag­bar, ist unver­ständ­lich, unmitteilsam.

Insofern jedoch der Einzelne fertige Wortzeichen für fertige Begriffe von der Amme, vom Lehrer, von seiner Zeitung ins Gehirn gedrückt bekommt, ist die Sprache (die eben Denken genannt wird, sobald sie in Bewegung gerät) zwar durch solche Zeichen leise mit allen Einzelgehirnen in Kontakt gebracht, aber zitternd und flim­mernd lebt sie ihr eigent­li­ches Leben zwischen den Menschen. Aus der Tradition holt sie ihre Begriffe, auf der Börse des Verkehrs läßt sie ihre Werte prägen.

Wer darum vermes­sen genug wäre, sich aus diesem umstri­cken­den Verbindungsnetze der gemein­sa­men Sprache zu lösen, um mit seinem einzel­nen Gehirn nicht anschau­end, sondern denkend oder spre­chend über den Abgrund unse­res Nichtwissens zu kommen, der würde sich gewiß vermes­sen in der Weite des Sprungs. Zum Glück für ihn kann er sich gar nicht loslö­sen von der gemein­sa­men Sprache; auch ihm sind die gemein­sa­men Zeichen einge­drückt worden, auch er denkt sein lautes Denken gewis­ser­ma­ßen außer seinem Kopfe zwischen den Menschen. Und wie die sympa­thi­schen Nerven, die das unbe­wußte Leben der Atmung und Verdauung bedie­nen, dennoch mit dem Zentralnervensystem in Verbindung stehen, so hängt auch der einsamste Mensch, sobald er spricht, eben von der Sprache ab, die zwischen den Menschen entstan­den ist.

Und so berich­tigt sich auch die Behauptung, es gebe zuletzt keine allge­meine Sprache, es gebe nur Individualsprachen. Wohlgemerkt: dabei bleibt es, daß die Individualsprache einer mögli­chen Wirklichkeit noch am nächs­ten kommt. Aber weil Sprache immer etwas zwischen den Menschen ist, sozial ist, so kann sie wieder bei einem Einzigen nicht sein. Wer nun darauf achtet, wird bald bemer­ken, daß man außer von Individualsprachen auch von Individualsprachen zwischen je zwei Menschen reden könnte. Man spricht mit jedem Freunde — Höflichkeit und Nachahmung bei Seite — eine etwas andere Sprache.

Wenn Begriff und Wort, wenn Denken und Sprechen ein und dasselbe ist, wenn ferner die Sprache sich histo­risch und im Gebrauche des Individuums nicht anders als sozial bilden konnte, so muß auch das Erkennen der Wirklichkeit eine gemein­same Tätigkeit der Menschen sein. Ich könnte weiter schlie­ßen: und weil diese Gemeinsamkeit eine Abstraktion ist, so kann auch das Erkennen unmög­lich etwas Wirkliches sein.Der Schluß ist bündig; aber ich würde dem Wortaberglauben verfal­len, wollte ich mich bei dieser in Worten ausge­führ­ten Schlußfolgerung beru­hi­gen. Das Ergebnis erscheint schon zuver­läs­si­ger, wenn wir es auf einem Gebiete bestä­tigt finden, welches seit undenk­li­chen Zeiten für Offenbarung aus dem Jenseits, also für das sicherste Erkennen galt, auf dem Gebiete der Ethik. Das Individuum, wenn wir es ohne Zusammenhang mit den ande­ren Menschen fänden, kann gar keine Ethik haben. Ethik ist eine soziale Erscheinung. Ethik ist wie die Sprache nur etwas zwischen den Menschen, weil die Ethik eben auch nur Sprache ist. Ethik ist die Tatsache, daß zwischen den Menschen Wertbegriffe entstan­den sind, welche sich bei der Betrachtung von mensch­li­chen Handlungen als Werturteile aufdrängen.

Um die Werturteile steht es aber ebenso wie um die meis­ten ande­ren Urteile; sie grün­den sich nicht auf die indi­vi­du­elle Erfahrung des Urteilenden, sondern auf die Erfahrung der Vorfahren und der Mitlebenden, welche Erfahrung nicht nur in Religion und Sitte, sondern eigent­lich in jeder Erkenntnis der Wirklichkeitswelt Glaube, Überlieferung ist. Und die Überlieferung ist nicht nur in der Sprache nieder­ge­legt, sondern sie ist neben­bei die Sprache selbst.

Ich bin mit diesem letz­ten Satze der Untersuchung voraus­ge­eilt. Für uns, für die die Sprache nichts ist als das bequeme Gedächtnis des Menschengeschlechts und das soge­nannte Wissen nichts ist als dieses selbe Gedächtnis in der ökono­mi­schen Ordnung des Einzelmenschen, für uns kann es zwischen Sprache und Erkenntnis nur leise nüan­cierte Unterschiede geben. Beide sind Gedächtnis, beide sind Überlieferung. Wir diffe­ren­zie­ren nur gern inner­halb der Sprache zwischen Wissen und Überlieferung oder Tradition, je nach­dem die dem Gedächtnisse zu Grunde liegen­den Wahrnehmungen nach­zu­wei­sen, zu wieder­ho­len sind oder nicht. Weil das auf dem Gebiete der Religionen und ihres spezi­el­len Glaubens beson­ders schwer ist, darum haben sich diese Begriffe dort ausge­bil­det und man scheut sich beinahe, Überlieferung und Glauben auch auf dem Gebiete des Erkennens zu entde­cken. Und dennoch werden wir starr und rück­sichts­los einse­hen müssen, lehren müssen, daß auch das Wahrnehmungswissen, als auf den sozial erblich erwor­be­nen Zufallssinnen beru­hend, doch nur anthro­po­mor­phisch, konven­tio­nell, tradi­tio­nell sein kann.

Wir wollen nun aber weiter­ge­hen und vorläu­fig von der Frage abse­hen, ob Erkenntnis etwas Wirkliches sei, wir wollen nur noch einmal und zwar induk­tiv erklä­ren, weshalb wir die Erkenntnis eine soziale Erscheinung nennen. Die ethi­schen Urteile werden von schlech­ten Menschen nicht für voll genom­men werden. Sie werden sagen, die Ethik enthalte über­haupt keine Erkenntnis. Nicht viel anders wird es uns gehen, wenn wir jetzt den sozia­len Faktor in ande­ren Werturteilen nach­wei­sen, in den ästhe­ti­schen Werturteilen. An der Tatsache wird nicht zu zwei­feln sein, daß die schein­bar so indi­vi­du­el­len Geschmacksurteile notwen­dig von dem Geschmacke der Zeit abhän­gen, welcher sich durch das Wort Mode ausdrückt. (“Mode” wie “modern” von modo: das Jetzige, das Heutige.) Von dem Zeitgeschmack läßt sich jeder schaf­fende Künstler beein­flus­sen, der gewöhn­li­che Kunstindustrielle nach seinem gemei­nen Erwerbssinn, aber auch der stol­zeste Künstler, weil der Mensch unfä­hig ist, sich ohne Wechselwirkung, sich ohne seine Umgebung zu entwickeln.

Wo immer nun wir den Versuch machen werden, das Wesen der Erkenntnis zu entde­cken, da wird es sich so genau wie die Sprache als eine soziale Erscheinung, viel­leicht als eine soziale Illusion enthül­len. Wir dürfen nur nicht zu sehr auf die Unterschiede zwischen Sprache, Denken und Erkenntnis uns beru­fen; haben doch jahr­tau­sen­de­lange Anstrengungen der besten Köpfe nicht vermocht, selbst zwischen den faßlichs­ten Begriffen dieser weiten Gruppen: der Sprache, des Denkens und der Erkenntnis (oder: zwischen dem Satze, dem Urteil und der Wahrheit) deut­li­che Grenzen zu ziehen.

Der weitere Verlauf aller Untersuchungen dieser Sprachkritik wird uns lehren, wie alle Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften, aus deren Vorrat die Sprachkritik schöp­fen muß, zu der glei­chen Resignation, zu dem glei­chen Zweifel an der Festigkeit unse­res Wissensgebäudes kommen.

Am schnells­ten und stills­ten mag der Teil zusam­men­stür­zen, wie ein Kartenhaus, den wir die Logik nennen und den wir als das älteste, grani­tene Fundament alles Wissens zu betrach­ten pfle­gen. Wohl bindet die Logik die Menschengeister, aber nicht weil sie von irgend­wo­her über­mensch­li­che Kraft besitzt, sondern weil sie ganz und gar, mit Haut und Haar, mit Urteilen und Schlüssen und Methoden, schon in den ursprüng­li­chen Begriffen oder Worten drin­steckt, und weil diese Worte oder Begriffe erst dann einen Wert haben, wenn sie zwischen den Menschen kursie­ren, wenn sie die Menschen binden.

Unter dem Einfluß der heute herr­schen­den Ideen müssen wir dazu gelan­gen, den Kampf ums Dasein, die alltäg­li­che Not, für die Entstehung der Worte und damit für die Entwicklung der Sprache oder der Vernunft verant­wort­lich zu machen. Da werden wir das schein­bare Wunder erle­ben, daß nichts auf der Welt uns davon über­zeu­gen kann, es seien unsere Wahrnehmungen rich­tige Bilder einer Wirklichkeitswelt außer uns, und daß doch offen­bar alle norma­len Menschen diesel­ben Wahrnehmungen besit­zen und nach eini­gen Studien in diesel­ben Zweifel verfal­len. Unsere Betrachtung der Sinnesdaten wird uns lehren, daß unsere Zweifel berech­tigt waren, daß die Unendlichkeit der Wirklichkeitsbewegungen nur durch die weni­gen schma­len Tore unse­rer Zufallssinne zu uns gelan­gen können, daß alles drau­ßen blei­ben muß, was keinen Weg zu diesen Toren hat, daß wir uns mit Hilfe unse­rer fünf oder sechs Zufallssinne in unse­rer Umgebung orien­tiert haben. Wir werden aber einse­hen, daß die Allgemeingültigkeit der Gesetze, welche wir unse­ren Sinnesorganen verdan­ken, also die Allgemeingültigkeit aller wissen­schaft­li­chen Gesetze, sich verste­hen läßt, sobald unsere fünf oder sechs Zufallssinne durch Vererbung bei allen Menschen die glei­chen Zufallssinne sind. Die Gesetze der Natur- und Geisteswissenschaften werden dann zu einer sozia­len Erscheinung, zu den natür­li­chen Regeln des Gesellschaftsspiels der mensch­li­chen Welterkenntnis, sie sind die Poetik der fable conve­nue (verein­barte Fabel) oder des Wissens.

Der Satz “der Zucker ist süß” ist ein Teil unse­rer Welterkenntnis, wenn auch ein klei­ner. Doch diese kleine Erkenntnis läßt sich selbst wieder verschie­den betrach­ten, je nach­dem ich mit diesem Satze die subjek­tive Tatsache gemeint habe, daß dieses Stückchen Zucker eben die Empfindung süß in mir ausge­löst hat, oder daß nach meiner Erfahrung und der Erfahrung der Menschheit der Stoff Zucker allge­mein oder objek­tiv süße Empfindungen verur­sacht. Im zwei­ten Falle ist es die Spielregel der Menschheit, den Stoff Zucker und die Empfindung süß zu nennen, aber es ist über das Sprachliche hinaus eine Spielregel des mensch­li­chen Organismus, nach Berührung dieses Stoffes mit Zunge oder Gaumen die und die beson­ders diffe­ren­zierte ange­nehme Empfindung zu spüren. Im ersten, subjek­ti­ven Sinne ist der Satz “der Zucker ist süß”, nur eine beson­dere Anwendung der Spielregel; habe ich mich foppen lassen und Arsenik gekos­tet, so bin ich zu dumm zum Mitspielen; habe ich gelo­gen, beim Spiele gemo­gelt, so darf ich nicht mitspielen.

Es wird Sache psycho­lo­gi­scher Untersuchungen sein, zu zeigen, wie der Glaube an ein Wissen, das nur eine soziale Illusion ist, dadurch mäch­tig werden konnte, daß uns nichts ande­res übrig blieb, als die Welt anthro­po­mor­phisch zu verste­hen. Auch das Wissen ist ein Glauben, ist eine Tradition. Wie die Sprache oder das Wissen zwischen den Menschen so entstand, daß jeder einzelne dem nächs­ten seine eige­nen Wahrnehmungen und seine eige­nen Willensakte zutraute, so ging es weiter zwischen den Menschen und der Natur, der der Mensch, zwar nicht seine Sinnesorgane, aber doch seine Willensakte zuschrieb, so zu den Begriffen Objekt und Subjekt, Ursache und Wirkung u.s.w. gelangte und das Gesellschaftsspiel des Wissens nun gar mit Bäumen und Tieren weiterspielte.

Metaphorisch kann man auch dieses anthro­po­mor­phi­sche Wissen nennen, und wir werden sehen und in solchem Zusammenhange besser begrei­fen lernen, wie meta­pho­risch darum wieder die mensch­li­che Sprache ist. Die Metapher als Grundquelle aller Sprachentwicklung führt wieder, da sie durch­aus von der Sinnlichkeit ausgeht, zur Physiologie zurück und verbin­det diese mit der Sprachwissenschaft, welche uns die Wissenschaft ist von dem, was zwischen den Menschen spielt. Es wird uns dies noch viel beschäf­ti­gen. Für jetzt nur ein Wort über die sprach­li­che Bedeutung des eben verwand­ten kind­li­chen Satzes “der Zucker ist süß”. Wer die weni­gen Worte dieses einfa­chen Satzes, jedes für sich, in ihrer Sprachgeschichte und in ihrem gram­ma­ti­schen Werte zu deuten vermöchte, wer dann den Gesamtausdruck des Satzes psycho­lo­gisch mit den Vorstellungen verglei­chen könnte, deren redse­li­ger oder abge­kürz­ter Ausdruck er ist, der könnte sich rühmen, die Sprachwissenschaft bis zu einer Sprachkritik geführt zu haben. Als vorläu­fi­ges Beispiel nur einige Winke über die Aufgaben einer solchen Analyse.

Der” war ursprüng­lich demons­tra­tiv und konnte so jeden augen­blick­li­chen Bewußtseinsinhalt auch ohne Subjektwort erset­zen. “Das da ist süß”. Der Bedeutungswandel dieses Wortes vom Demonstrativum herab bis zum Artikel geht recht gut paral­lel mit der Tatsache, daß wir ein Ding zuerst empfin­den, ohne es nennen zu können, bis wir es endlich als einen Begriff im Urteil gebrau­chen, ohne es vorstel­len zu müssen. (Vgl. Kr. d. Spr. III, 3.)

Ein solcher Begriff ist “Zucker”, sobald wir den einfa­chen Satz als eine objek­tive oder allge­meine Weisheit ausspre­chen. Versuchen wir jedoch den Begriff zu defi­nie­ren, so wird selbst dieser Stoff, den jedes Kind zu kennen glaubt, zu einem Rätsel, welches die Chemiker in ihrer Geheimsprache unter das höhere Rätsel Kohlenhydrate brin­gen, während die Laien und die Kinder wirk­lich die Definition des Zuckers darauf beschrän­ken müssen, er sei etwas, was süß schmeckt. Zu diesen logi­schen Fragen kommt dann noch der Umstand, daß “Zucker” in unse­rem einfa­chen Satze bald ein konkre­tes bald ein abstrak­tes Wort sein kann.

Alle Schwierigkeiten der Verbalformen, alle Schwierigkeiten der Copula drän­gen sich um das Wörtchen “ist” in unse­rem Satze. Ob das Wörtchen die Existenz des Zuckers mitbe­deu­tet oder nur die Wahrheit der Beziehungen zwischen Süßigkeit und Zucker, ob die Eigenschaft eine Erscheinung des ruhen­den Objekts Zucker ist oder eine Wirkung der Atombewegungen des Objekts, das alles verlangt am Wörtchen “ist” nach Aufklärung. Dazu hat die Präsensforrn des Wörtchens “ist” einen ganz ande­ren Sinn, je nach­dem der einfa­che Satz ein subjek­ti­ves oder ein objek­ti­ves Urteil ausspricht.

Das Eigenschaftswort “süß” endlich regt zur Untersuchung an, ob wir von dem ganzen Komplex “der Zucker ist süß” in unse­rem Bewußtsein irgend etwas ande­res vorfin­den als die Empfindung süß, so daß der ganze Satz für den Metaphysiker nur ein wert­lo­ses Gerede über diese Empfindung wäre. Wertlos für unsere Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, wert­voll nur als ein Mittel, die Bemerkung zwischen spie­len­den Menschen hin und her geben zu lassen, ein klei­ner Beitrag zu der sozia­len Verständigung zwischen den Menschen. Und schließ­lich ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Empfindung “süß” bei allen Menschen die glei­che ist, nichts weiter als die Grundlage aller Sozietät, die Verwandtschaft der Zufallssinne; wie wenn die Menschen sich ihrer gleich­ge­hen­den Taschenuhren erfreuen, während doch der glei­che Gang zunächst durch die Konvention einer glei­chen mittel­eu­ro­päi­schen Zeit und dann durch die weitere Konvention zu stande gekom­men ist, daß wir die Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne zu unse­rem Zeitmesser gemacht haben.

Trotzdem rühmt eine ewig wieder­ge­käute Lehre an der Sprache, daß sie die Menschen verbinde. Und noch ist der Jammerruf nicht erklun­gen, daß alles Elend der Einsamkeit nur von der mensch­li­chen Sprache kommt.

Nur in der Herde ist Wohlsein. Nur im Herdenleben ist die stumme Überzeugung, daß alles, was geschieht, so und nicht anders am besten geschieht. Wir nennen diesen Zustand dump­fen Glücks den Instinkt. Die Tiere empfin­den dieses Viechsglück. Auch die Instinktmenschen, die ein Herdenleben führen, bei denen die Sprache und das Denken nicht über du Verabreden von Herdenhandlungen hinaus­ge­kom­men ist. Ob so eine Herde Menschen sich einmü­tig vor dem gemein­sa­men Götzen auf die Kniee wirft, ob die Weibchen der Herde einmü­tig den glei­chen Cape über ihre flachen Schultern werfen, ob die Männchen mit dem glei­chen Hurraruf in den Krieg ziehen oder ob sie alle zur glei­chen Stunde äsen, wieder­käuen und zur Tränke gehen, ist ein unbe­wuß­tes Viechsglück.

Bei wem aber die Sprache sich so weit diffe­ren­ziert hat, daß er die Kommandorufe des Instinkts anders versteht als die Herde, daß ihm ihr Götze, nicht Gott ist, daß er sich von den wattier­ten Schultern des Cape nicht täuschen läßt, daß er den Hurraruf des Feindes versteht und nicht mehr mittut, daß er dann frißt, wenn er selber hungert, und dann erst Mittag schla­gen hört, der ist einsam gewor­den durch die Sprache und hat als letz­ten Trost nur sein Lachen über daß Blöken der Herde. Die blökende Herde aber hat voll­kom­men recht, wenn sie seine einsame Sprache für irr erklärt. Irr ist, wer sich von der Herde und ihrer Tränke entfernt, verirrt hat.

wahn Die Herdensprache ist so wenig Gegenstand der Kritik wie das Zwitschern der Vögel. Sie steht unter der Kritik. Sie verbin­det die Menschen nicht, aber sie ist ein Zeichen der Verbindung. Zu dieser Herdensprache gehört der Glockenklang, der zur Kirche ruft, die Trommel im Felde und der Gong, der im Hotel die Dinerstunde anzeigt. Irre wird auch die Sprache erst, wenn sie sich nicht mehr damit begnü­gen will, zwischen den Menschen zu sein, ihre Notdurft stöh­nend zu beglei­ten, wenn sie über den Menschen, von Menschennotdurft gelöst, über­reiz­ten, geis­ti­gen Bedürfnissen dienen will.

Wie der Ozean zwischen den Kontinenten, so bewegt sich die Sprache zwischen den einzel­nen Menschen. Der Ozean verbin­det die Länder, so sagt man, weil ab und zu ein Schiff herüber- und hinüber­fährt und landet, wenn es nicht vorher versun­ken ist. Das Wasser trennt, und nur die Flutwelle, die von frem­den Gewalten empor­ge­ho­ben wird, schlägt bald da, bald dort an das fremde Gestade und wirft Tang und Kies heraus. Nur das Gemeine trägt so die Sprache von einem zum ande­ren. Mitten inne, wenn es rauscht und stürmt und hohler Gischt zum Himmel spritzt, wohnen fern von allen Menschenländern Poesie und Seekrankheit dicht beisammen.

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