“Die Schrift ist nicht nur die Dauerform der Gedächtniszeichen, die Schrift ist eine künstliche Verbesserung des Gedächtnisses, wie die Photographie eine Verbesserung des Sehorgans.”
Unbeirrt wiederhole ich bei jeder Gelegenheit, daß Denken und Sprechen ein und dieselbe Geistestätigkeit bezeichne, und doch weiß ich, daß die beiden Begriffe nicht ganz gleich sind. Das Identische in beiden Begriffen festzuhalten wird zur Pflicht gegenüber den ewigen Unklarheiten, welche seit Jahrtausenden in der Sprache nur ein mechanisches Werkzeug des Denkens, im Denken irgend eine übermenschliche Kraft sehen wollen. Solchem Aberglauben gegenüber halte ich es für Pflicht, einen Nachdruck auf die Identität zu legen und insbesondere. darauf hinzuweisen, daß ein sogenanntes Denken ohne Sprechen weniger übermenschlich und göttlich als vormenschlich und tierisch ist. Man wird diese paradoxe Behauptung besser verstehen, wenn ich das Verhältnis zwischen Denken und Sprechen mit dem Verhältnis zwischen Lautsprache und Schriftsprache verglichen habe.
Die Schrift, wie sie heutzutage in gedruckten Büchern psychologisch oft stundenlang die alleinige Sprache der Gebildeten ist, ist doch ohne Frage nur eine andere Form der Lautsprache. Die Lautsprache hat gegenüber der Schrift den Vorteil der Unmittelbarkeit, der größeren Anpassungsfähigkeit, der rascheren Veränderlichkeit; aber nicht nur für die leichtere Mitteilung durch Zeit und Raum hat die Schrift ihre Vorteile, sondern auch für die höchsten Formen des abstrakten Denkens. Die sichtbaren und darum dauernden Schriftzeichen lassen die Begriffe länger und ungestörter festhalten als die flüchtigen Lautzeichen. So hat die Schrift gegenüber der Sprache Vorteile und Nachteile, ist aber im Grunde die gleiche Geistestätigkeit. In ähnlicher Weise kann man annehmen, daß das tierische, vorsprachliche Denken, welches man darum auch ungern Denken nennt, unmittelbarer, anpassungsfähiger ist als das Denken in Sprachlauten, welches wieder nicht nur für die Mitteilung unersetzlich, sondern eben für das Festhalten der Begriffe überaus nützlich ist. Hätten die Tiere ein besseres Gedächtnis, so hätten sie eine Lautsprache, was man auch freilich dahin umkehren kann, daß die Tiere ein besseres Gedächtnis hätten, wenn sie eine Lautsprache besäßen. Die Lautsprache ist das Gedächtnis des menschlichen Tieres; die Schrift ist nicht nur die Dauerform der Gedächtniszeichen, die Schrift ist eine künstliche Verbesserung des Gedächtnisses, wie die Photographie eine Verbesserung des Sehorgans.
In diesem Gedankengange ist schon ein Beispiel dafür gegeben, wie die Sprache die beiden Begriffe Denken und Sprechen bald identifiziert, bald durch Begriffsnuancen auseinander hält. In diesem Gedankengange ist aber, wie man sieht, das Denken dem Sprechen nicht übergeordnet, sondern es ist die Sprache der reichere Begriff, sie ist das Denken + Lautzeichen , wie die Schrift das Sprechen + Schriftzeichen ist.
Analysiert man aufmerksam allgemeine, und wie man sagt, gedankenreiche Sätze, in denen vom Denken und Sprechen die Rede ist, so wird man immer solche Begriffsnuancen finden, welche den Sätzen vorausgehen, oder welche durch die Sätze in die Worte hineingelegt werden. Hören wir z.B. das Aphorisma: “Sprechen ist leicht, Denken ist schwer” — so erzeugt die Antithese in unserer Vorstellung sofort für das Sprechen und für das Denken kleine Begriffsnuancen. Und das Geistreiche des Satzes besteht eben nur darin, daß diese Nuancen nicht besonders ausgedrückt, sondern mitverstanden werden. Es wäre sonst gar keine Antithese. Es wäre banal, zu sagen: “Nachsprechen ist leicht, Selbstdenken ist schwer”. Und doch liegt in jedem der beiden Begriffe die Nuance drin, wenn wir sie so verbinden. Der Gegensatz erzeugt sich die Nuance. Es ist das ein feiner psychologischer Vorgang, den wir in seiner größten Ausdehnung als den Einfluß der gesamten Gegenwart, der Seelenstimmung oder des augenblicklich vorhandenen Gedankeninhalts auf den jeweilig gesprochenen Begriff kennen lernen werden. Wenn ich den Satz beginne: “Sprechen ist leicht, Denken ist schwer”, so ist der Inhalt dieses Satzes bei mir schon beisammen, und ich stelle mir unter dem ersten Worte “Sprechen” schon ungefähr ein Nachsprechen vor. Dem Hörer gibt das erste Wort “Sprechen” die Begriffsnuance noch nicht. Die folgenden Worte können noch jede andere Nuance hineinlegen. Ich könnte fortfahren “Sprechen Sie französisch” oder “Sprechen Sie lauter” oder “Sprechen Sie mit meinen Eltern!” oder “Sprechen Sie im Parlament! ” Erst wenn ich meinen Satz beendet habe, legt der Hörer in das noch nachklingende “Sprechen” die Nuance des Nachsprechens hinein.
Doch selbst dieses Aphorisma, in welchem Sprechen und Denken geradezu als Gegensätze auftreten, stimmt mit unserer Auffassung vom Sprechen und Denken überein. Das Selbstdenken, das im Verhältnis zum Nachplappern so schwer, das heißt so wenig Menschen möglich ist, ist nämlich eigentlich immer ein Neudenken und dieses ein Verlassen der hergebrachten Sprache, eine Bereicherung der Sprache, die Bildung eines neuen Begriffs, der nicht immer ein neues Wort zu sein braucht. Schwer, das heißt für die allermeisten Menschen unmöglich, ist das Denken eines SPINOZA der zum ersten Male mit voller Klarheit den Begriff der Notwendigkeit auf das Naturgeschehen anwendet, Natur und Gott identifiziert und so den Begriff dieser drei Worte verändert; schwer ist das Denken eines NEWTON der den Begriff der Schwere auf die Planeten anwendet und so diesen Begriff vermehrt; schwer ist das Denken eines BERKELEY oder KANT, die den Begriff der Vorstellung auf die vorgestellten Dinge anwenden und so das alte Wort um einen neuen Begriff bereichern. Das Aphorisma sinkt also zu der wenig geistreichen Behauptung herunter, daß es leicht sei, etwas Altes zu denken oder zu sprechen, daß es schwer bei, etwas Neues zu denken oder zu sprechen.
Denken wir uns in die Zeit der Sprachentstehung hinein, so müssen wir uns allerdings mit einer schematischen Vorstellung begnügen, weil wir doch von den wirklichen Vorgängen nichts wissen. Einer der sichersten Züge jener schematischen Vorstellung wäre aber eine große Armut an Worten und darum ein großer Begriffsreichtum der einzelnen Worte; ein anderer sicherer Zug wäre das rasche Wachstum der Sprache in einer solchen Urzeit, in welcher die Sprachbereicherung alle energischen Köpfe etwa so beschäftigt haben mag, wie später einmal das Entdecken neuer Länder oder wie heute das Erfinden elektrischer Maschinen. In jener problematischen Urzeit war das Sprechen sicherlich noch ungemein schwer, weil es fast unaufhörlich ein Neudenken oder Neusprechen war. So ein Urmensch besaß z. B. im Gebrauche seines Stammes schon ein Wort, welches ungefähr so viel wie unser “Hülsenfrüchte” bedeutete, oder auch nur die allgemeine Bedeutung Pflanzennahrung hatte. Nun folgte dieser Kerl einmal der Not oder der Neugier oder seinem Geruch oder dem Zureden eines fremden Tauschhändlers, kostete Reiskörner und fand sie schmackhaft und bekömmlich. Wenn er nun zu seinen Stammesgenossen zurückkehrte, eine Handvoll Reis mitbrachte und sie mit dem Worte überreichte, das vorher halb Pflanzennahrung halb Hülsenfrucht bedeutet hatte, so dachte und sprach er neu. Das Beispiel ist natürlich erfunden, aber wir können nicht umhin, uns die Sprachentwicklung der Urzeit so zu denken.
Verfolgen wir dieses phantastische Beispiel weiter, so sehen wir, wie die Psychologie des Urmenschen sich von der des heutigen nicht unterscheiden konnte. Sein “Denken” wirkte auf das Sprechen, sein “Sprechen” aber auch auf das Denken. Eine neue Beobachtung, eine neue, sinnliche Erfahrung hatte ihn das Wort auf die Reiskörner ausdehnen lassen. Das Denken beeinflußte das Sprechen. Jetzt aber mußte das Wort, welches bis dahin gelegentlich zwischen Hülsenfrucht und Pflanzennahrung schwankte, eine Neigung zu dem weiteren Begriffe erhalten. Durch den Besitz des in seinem Begriffsumfang erweiterten Wortes mußte dem Kerl näher zu Gemüte geführt werden, daß es eine Klasse von Dingen gebe, die man eßbare Pflanzen nennen könnte. Und es mußte eine Zeit kommen, wo er, wenn er den Kindern z.B. aus der Entfernung die freudige Nachricht mitteilen wollte, ein besonderes Wort oder ein adjektivisches Kennzeichen für Hülsenfrucht erfand. Hatte er bis dahin nur Erbsen und Linsen gekannt und fand nun eines Tages auch Bohnen, so wurde das neue Wort für Hülsenfrüchte wieder mit tätig bei der Bildung eines neuen Klassenbegriffs. So wirkte das Sprechen auf das Denken. Noch im 17. Jahrhundert, als man schon anfing, die 6000 bekannten Pflanzenarten in künstlichen Systemen zu ordnen, galt es nicht für unwissenschaftlich, die Nutzpflanzer, die eßbaren Pflanzen als besondere Abteilungen zu behandeln. Und den unsystematischen Gattungsbegriff “Obst” wird die Gemeinsprache niemals los werden.
Seit langer Zeit zerbrechen, sich die Psychologen die Köpfe darüber, wie dieser gefährliche Zirkel zu vermeiden sei, daß die Sprache dem Denken entsprungen sei, das Denken aber Sprache voraussetze. Dieser Zirkel ist aber nur vorhanden, wenn man sich mit der alten Psychologie das Denken als die Tätigkeit einer besonderen übermenschlichen Denkkraft vorstellt. Für unsere Anschauung macht es nicht die geringste Schwierigkeit, wenn wir zu diesem Zwecke überhaupt die Begriffe Sprechen und Denken trennen wollen, auch diese sogenannte Wechselwirkung zu begreifen. Hier ist es wieder eine ähnliche Wechselwirkung, wie sie zwischen Sprache und Schrift besteht. Der Vorgang im Gehirn hat auch nicht den Charakter einer Wechselwirkung, sondern einer langsamen Steigerung. Das vorsprachliche Denken ist ein Beobachten, ein allmähliches Sammeln von Ähnlichkeiten, ein Aufmerken, ein Einüben der Gedächtnisbahn, das so lange fortgesetzt wird, bis die neue Bekanntschaft das Bedürfnis erzeugt, sie durch ein Zeichen festzuhalten. Ist das Zeichen einmal gebraucht und durch den Verkehr bestätigt, so geschieht nichts weiter, als daß die Einübung des neuen Begriffs oder des neuen Begriffsinhalts noch rascher erfolgen kann, weil ein sinnliches Zeichen dafür vorhanden ist. Diese Bequemlichkeit bei der Einübung, dieser Zwang, bei dem gewählten Zeichen zu bleiben, erscheint uns dann als eine Rückwirkung der Sprache auf das Denken.
Das Kreuz besteht in dem Widerspruche, daß all unser Denken nichts anderes ist als Sprechen, und daß doch eine Gehirnarbeit, die wir mit den Mitteln unserer Sprache nicht anders als Denken nennen können, ohne Sprache möglich ist. Wenn ein einjähriges Kind, das noch kein Wort sprechen kann und ganz gewiß nichts von NEWTON und der Schwerkraft gehört hat, einen Kuchen mit den Händchen festhält, damit er nicht zu Boden falle, so hat dieses Kind aus zahlreichen Beobachtungen schon die Erfahrung gesammelt, daß Körper ohne Unterstützung auf den Boden fallen; so hat es diese Erfahrung generalisiert und hat sein Handeln nach einem Naturgesetze eingerichtet. Es ist eine Leistung seines Gehirns, wenn das Kind den Kuchen festhält. Wodurch unterscheidet sich diese Gehirnleistung von dem Denken, das an die Sprache gebunden ist, das Sprache ist?
In dem Mangel der Mitteilbarkeit scheint der wesentliche Unterschied nicht zu bestehen; denn auch das tiefste und letzte Denken ist schwer mitteilbar Wir helfen uns einstweilen mit der Worterklärung, daß dieses vermeintliche Denken ohne Sprache nur ein Wissen ist; es wird aber manches Bedenken haben, ein Wissen, also eine durch das Gedächtnis geordnete Sammlung von Erfahrungen, uns ohne Denken vorzustellen. Das kommt aber nur daher, daß wir auf unserer Entwicklungsstufe uns das Wissen gern als ein allgemeines, abstraktes Wissen vorstellen, daß wir abgeneigt sind, die sogenannten Instinkte im Handeln der Tiere und die sogenannten Gewohnheiten im Handeln der schlichten Menschen oder die ersten Anpassungen des Kindes ein Wissen zu nennen. Man könnte sagen, das Wissen werde eben erst durch seinen allgemeinen Ausdruck zum Denken, und das sei erst durch die Sprache möglich. Der Sprachgebrauch ist aber in diesen Dingen nicht konsequent, weil die Menge, welche doch den Sprachgebrauch schafft, sich mit solchen Fragen noch niemals beschäftigt hat. Es ließe sich freilich gegen diese Terminologie wiederum einwenden, daß das Wissen des Kindes vom Fallen des Kuchens auch schon eine Allgemeinheit ist. Die Begriffe fließen wie immer ineinander. Rechnen ist Rechnen, ob es ein Bantuneger mit Hilfe seiner zehn Finger oder ein Astronom mit Hilfe algebraischer Zeichen ausführt. Je kühner das Denken sich verallgemeinert, je abstrakter die Zeichen des Denkens werden, desto klarer wird dem Forscher die Identität von Denken und Sprechen. LAVOISIER, der Neubegründer der Chemie, sagte einmal, die Algebra, die zu gleicher Zeit eine Sprache und eine analytische Methode ist, sei die einfachste, die genaueste und die zweckdienlichste Art des Ausdrucks. “Die Kunst zu denken ist eigentlich nichts weiter als eine wohlgeordnete Sprache.”
Das letzte Wort über das Verhältnis zwischen Denken und Sprechen kann auch von der Sprachkritik nicht gefunden werden, weil die Sprachkritik sowohl an der Bedeutungskonstanz der zu erklärenden und zu vergleichenden Begriffe oder Worte zweifeln muß, als auch an der wissenschaftlichen Brauchbarkeit der für die Erklärung und Vergleichung notwendigen psychologischen Begriffe oder Worte. Das alte Kreuz meiner Aufgabe: die Psychologie der Sprache möchte ich reformieren und fühle bei jedem Schritte, daß die Sprache der Psychologie vorher umzuschaffen ist. Unmöglich, eines vor dem anderen zu tun. Unmöglich, beide Arbeiten zugleich vorzunehmen. Nur ein Philister; weil er bloß die eine Seite der Dinge sieht, kann glauben, das letzte Wort gesagt zu haben. So behalten streitsüchtige Frauen das letzte Wort, wenn der Klügere nachgegeben hat.
Der logische und fast mathematische Beweis für die Identität von Denken und Sprechen wäre die einfachste Sache von der Welt, wenn man sich mit dem scholastischen Gerede begnügen wollte: Denken ist immer nur ein Denken in Begriffen, Begriffe sind Worte, also ist das Denken immer nur Sprechen. So eindeutig ist jedoch der wilde Sprachgebrauch des Begriffes Denken leider nicht. Mit Denken bezeichnet man gelegentlich jede psychische Tätigkeit vom spekulativen Denkgeschäft des Denkvirtuosen oder Philosophen angefangen bis herab zum tierischen Wahrnehmungsakte, weil auch dieser an ein Zentralorgan, an die Mitwirkung des Verstandes gebunden ist. Nichts ist leichter, als so den Begriff des Denkens über den gewöhnlichen Sprachgebrauch hinaus auszudehnen und einen Unterschied zwischen Denken und Sprechen zu statuieren; aber nichts wäre sodann leichter, als auch den Begriff des Sprechens über den Sprachgebrauch hinaus auszudehnen und die Identität von Denken und Sprechen wieder in Worten herzustellen. Die ganze Doktorfrage kann nicht entschieden werden, solange nicht die alte mythologische Psychologie mit ihrer noch mythologischern Terminologie zertrümmert ist, solange nicht zwischen den philosophierenden Menschen ein Verständigungsmittel besteht, wie die Alltagssprache zwischen den handeltreibenden Menschen. Es müßten gültige Wortwerte für die Tatsache geschaffen werden, daß alle psychische Tätigkeit nur ein Assoziieren von Vorstellungen ist, daß alle Vorstellungen nur Erinnerungebilder für Wahrnehmungen sind.
Ein gültiger Wortwert für die Wirklichkeit dessen, was als Assoziation einen so breiten Raum in den psychologischen Schriften einnimmt, fehlt uns bis zur Stunde; nach dem wirklichen Vorgang der Assoziation suchen die Denker und die Gehirnanatomen mit verzweifelten Anstrengungen von zwei Seiten und können nicht zueinander kommen. Nicht viel besser steht es im Grunde mit den assoziierten Vorstellungen selbst, wenn wir diese auch als Erinnerungsbilder etwas besser zu begreifen glauben. Die wirkenden Kräfte jedoch, welche die Verarbeitung der Vorstellung oder das Denken veranlassen, sind uns womöglich noch rätselhafter als die wirkenden Kräfte, welche nach den Zwecken des Lebens die aufgenommene Nahrung in Blut u.s.w. verwandeln. Auch hier ist wieder fast jedes Wort undefinierbar und “Leben” ist wieder so ein mythologischer Begriff; und es ist ein vergebliches Hoffen, die Dunkelheiten der Psychologie mit den Dunkelheiten der Physiologie aufhellen zu wollen.
Auch den Begriff Gedächtnis werden wir über den Sprachgebrauch hinaus ausdehnen oder einengen müssen, wenn wir unser Denken darüber in Sprache übersetzen wollen. In der Gemeinsprache ist das Gedächtnis ein Gespenst, ein Seelenvermögen, eine personifizierte Kraft. Wir werden als die einzige Wirklichkeit auf diesem Gebiete nur die einzelnen Gedächtnisakte oder Erinnerungen vorfinden, die wir dann nur in Bezug auf die zu Grunde liegenden Wahrnehmungen Erinnerungsbilder oder Vorstellungen nennen. Aber die oberste Tatsache unseres Bewußtseins, die Assoziation dieser Vorstellungen, ist doch wieder Gedächtnisarbeit, weil es keine Erinnerung gibt, die nicht an eine andere geknüpft wäre, und weil die Verknüpfung eben auch wieder Erinnerung ist. Wir können das Gespenst “Gedächtnis” nicht entbehren, wie anderswo nicht das Gespenst “Wille”, nicht das Gespenst “Vorstellung”. Die Sprache hält uns mit ihren Worten. Die Sprache legt auch dem Anarchisten den Strick des Gesetzes um den Hals. Und auch der freieste Philosoph denkt mit den Worten der philosophischen Sprache.
So taumeln wir, wenn wir ehrlich reden wollen, hilflos zwischen den psychologischen Begriffen umher und müssen zugestehen, daß auch die vorhin aufgestellte Formel: “Wie verhält sich das Gedächtnis zu den Gedächtniszeichen?” die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sprechen nicht löst. Vielleicht wird sie uns aber in der Wirrnis des Sprachgebrauchs ein wenig die Wege weisen.
Besäßen wir nämlich nach dem Wunsche der Gehirnanatomen einen Einblick in die moIekularen Veränderungen, deren Wirkungen oder Bewußtseinserscheinungen die Erinnerungsbilder sind, so wüßten wir, was die Gedächtnisakte sind; und “das Gedächtnis” selbst wäre dann ein abgesetztes Wort, oder es wäre das Denken, oder es wäre die Sprache, oder es wäre die Summe aller Gesetze der molekularen Veränderungen in den Gehirnzellen. Dann besäßen wir auch wirklich eine physiologische Psychologie und diese hätte unsere Fragen zu beantworten. Eine solche Wissenschaft besitzen wir jedoch nicht, wenn wir auch Lehrbücher haben, die sich so oder ähnlich nennen. Deutlicher als je zuvor ist es in WUNDTs “Völkerpsychologie”, allzu gläubig freilich, ausgesprochen. “Wie experimentelle und Völkerpsychologie die einzigen Teile sind, so sind sie auch die einzigen Hilfsmittel der Psychologie.” Nehmen wir die Bezeichnung auf, die WUNDT anzuwenden zögert, so gibt es eine Individual- und eine Sozialpsychologie. Die psychischen Erscheinungen (wenn man das Wort so ausdehnen darf) ereignen sich entweder zwischen den Menschen einer weiteren, einer engeren Genossenschaft, oder sie ereignen sich einzig und allein im Kopfe des lebendigen Menschenorganismus.
Nun scheint es mir über jeden Einwurf klar, daß auf dem Gebiete der Sozialpsychologie von einem Unterschiede zwischen Denken und Sprechen nicht die Rede sein kann. Gedächtnis als eine Funktion der organisierten Materie ist nur im Individuum möglich und denkbar. In der Sozialpsychologie, zwischen den Menschen einer Volks- oder Kulturgemeinschaft, sind Gedächtniserscheinungen ohne Gedächtniszeichen ein Nonsens, weil diese Gedächtniserscheinungen doch nicht Bewußtseinserscheinungen sein können, sondern auf Mitteilungen, Wahrnehmungen, Nachahmungen u.s.w. beruhen. Selbst wo Vererbung zu Grunde liegt, bleiben Religion, Sitte und Sprache unbewußte Gedächtniserscheinungen, sind also nicht Erinnerungsakte. Zwischen den Menschen gibt es keine abstrakte Religion ohne bestimmte religiöse Vorstellungen oder Mythen, gibt es keine abstrakte Moral ohne bestimmte Sitten oder Gebräuche, gibt es kein abstraktes Denken ohne Sprache.
Wer nicht den unsinnigen Phantastereien über Okkultismus und insbesondere Telepathie verfallen will, für den ist es ein notwendiges Axiom, daß zwischen den Menschen ein Denken ohne Sprechen unmöglich ist, daß zwischen den Menschen Denken und Sprechen nur die verschiedene Auffassung der gleichen Sache ist. Wenn ein Einzelmensch die Natur verstehen, mit der Natur verkehren will, so bleibt die Natur verhältnismäßig passiv; und es ist eine kühne Metapher, da von einer Sprache der Natur zu reden. Wenn jedoch ein Einzelmensch einen anderen verstehen, mit ihm verkehren will, so bleiben beide nicht passiv (sobald es sich nicht um Beobachtung des anderen wie eines Naturobjekts handelt), so verstehen sie einander durch irgendwelche Ausdrucksbewegungen, so ist es eine ganz gewöhnliche Metapher, alle Ausdrucksbewegungen: Gebärden, Kultusübungen und andere Gebräuche unter dem Gesamtbegriffe Sprache mit zusammen zu fassen.
Die Schwierigkeit besteht also allein für die Individualpsychologie. Unter den Tätigkeiten im Kopfe eines einzelnen Menschenorganismus kann es allerdings kein Sprechen ohne Denken geben; denn ein Wort oder ein Satz ohne Sinn und Bedeutung ist für uns nicht Sprache. Im Kopfe des einzelnen Menschenorganismus geht jedoch sehr häufig etwas vor, was seit PLATON bis auf die Gegenwart immer wieder ein Denken ohne Sprechen, oder ein lautloses Denken, oder ein unbewußtes Denken genannt worden ist.
Für die konsequenten Vertreter der physiologischen Psychologie dürfte die Schwierigkeit nicht vorhanden sein. Sie müssen mit uns die technischen Ausdrücke Wahrnehmung, Vorstellung und Assoziation als unkontrollierbare Phantasien einer subjektiven, vorwissenschaftlichen Psychologie betrachten und können sich auf die freilich trügerische Hoffnung zurückziehen, daß die Forschungen der Gehirnanatomen. dereinst die Frage nach dem Wesen des Denkens beantworten werden. Auf diesem Wege hat aber jedenfalls ZIEHEN (Physiologische Psychologie) sehr hübsch gezeigt, daß zwischen dem angestrengten, vermeintlich willkürlichen Denken und dem (wie man gewöhnlich sagt) unbewußten Denken kein erheblicher Unterschied bestehe. In dem einen wie dem anderen Falle knüpft sich an irgend eine Anregung Assoziation nach Assoziation, bis die Bewegung inne hält, weil entweder (beim unbewußten Denken) die letzte Vorstellung unser Bewußtsein weckt oder weil (beim vermeintlich willkürlichen Denken) die letzte Vorstellung endlich diejenige ist, welche wir als Ziel der ganzen Assoziationenreihe im Auge behalten haben.
Ich möchte die Sache durch ein Bild deutlich machen. Ob wir eine Stunde lang im Walde spazieren gehen und uns bald durch das Vorhandensein eines betretenen Weges, bald durch den Reiz eines Dickichts hierhin und dorthin lenken lassen, oder ob wir einem Ziele zustreben, das eine Stunde entfernt liegt, beidemal haben wir die gleichen Gehbewegungen gemacht, langsamer oder schneller, eifriger oder schläfriger, absichtsvoller oder unabsichtlicher, aber gegangen sind wir in beiden Fällen. Und wenn ich es recht bedenke, so war das eben Vorgetragene nicht so sehr ein Bild als ein Beispiel; denn auch für den Standpunkt der physiologischen Psychologie fällt das Gehen wie das Denken unter den oberen Begriff der Bewegung. Wir werden gleich sehen, daß wir ohne den Wortaberglauben der Physiologen ebenfalls einen kleinen Schritt weiter kommen, wenn wir du Denken mit dem Sprechen gleichsetzen und uns erinnern, es als Bewegung aufgefaßt zu haben.
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