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8. Recht

Ohne den Gleichheitsbegriff der Person ist Recht über­haupt nicht denkbar.”

Wenn unsere Interessen mit ande­ren kolli­die­ren, gibt es zwei Möglichkeiten, einen Streit zum Austrag zu brin­gen. Die eine beruth auf dem Verzicht einer gegen­sei­ti­gen Rechtfertigung des Handelns und wird gewöhn­lich mit dem Namen Gewalt bezeich­net. Der ande­ren liegt die Idee des mora­lisch, bzw. recht­lich gere­gel­ten Verfahrens zugrunde. Die Idee einer über­ge­ord­ne­ten Autorität besteht darin, die Konkurrenz unter den Interessengruppen inner­halb der Gesellschaft unpar­tei­isch zu über­wa­chen und zu regu­lie­ren. Der gesetz­li­che Rahmen soll einen Faktor der Sicherheit und Gewißheit in das soziale Leben einführen.

Gesellschaftliche Organisation heißt im Staat, daß das Verhalten von Menschen durch verfes­tigte Erwartungen gere­gelt wird. Ordnung bedeu­tet vor allen Dingen Sicherheit und Sicherheit vor allem Rechtssicherheit. Der Staat soll die Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage bestim­me­ter Regeln und Gesetze sein, denen sich jeder Bürger zu fügen hat. Der Staat ist deshalb als Machtverhältnis defi­niert. “Ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.” 1) Staat heißt Herrschaft kraft Legalität. Legalität ist die logi­sche Vorraussetzung des Staatsbegriffs.

Eine demo­kra­ti­sche Regierung leitet die Ausübung von Gewalt von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten her. Wirklicher Träger der Verfassung soll das Volk sein und das Gesetz der Ausdruck des allge­mei­nen Willens. Jeder Staat gibt deshalb vor, die Interessen der Allgemeinheit zu vertre­ten. Der poli­ti­sche Apparat ist auf den Willen des Volkes hin orga­ni­siert, dessen Artikulation dann zu Rechtfertigung poli­ti­scher Entscheidungen wird. Die Abstraktion vom Willen des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffent­li­chen Gewalt und muß durch allge­meine Wahlen zum Ausdruck kommen. Die Wahl soll der Ausdruck des demo­kra­ti­schen Prozesses sein. Eine Demokratie scheint zu funk­tio­nie­ren, solange der Wahlritus funktioniert.

Demokratie beruht auf der Idee der Kommunikation und nicht auf Autorität oder Gewalt und gilt deshalb als die ideale Verfassungsform, in der sich die Bevölkerung zu arti­ku­lie­ren vermag und ihre Bedürfnisse reali­sie­ren kann und soll. Die Idee der Demokratie besteht darin, daß Macht nicht in geball­ten Organisationen liegen darf. Gewaltenteilung, Wahlen und Gerichte sollen Institutionen sein, die den Kampf der Interssengruppen auf Austragungsformen beschrän­ken, die physi­sche Waffengewalt ausschlie­ßen. In der Rechtstheorie wird deshalb versucht, die Legalität von Macht zu bestim­men. Jede gesell­schaft­li­che Institution benö­tigt eine, wie auch immer gear­tete, Legitimation.

Dies gilt nicht nur für Regierungen, sondern auch für Gewerkschaften, Fabriken oder Universitäten. Von entschei­den­der Wichtigkeit ist immer, wie die Legitimation zustande kommt. Legitimität kann nur exis­tie­ren, wo sich Macht recht­fer­ti­gen läßt und ist deshalb immer ein bestreit­ba­rer Geltungsanspruch. Die Repression liegt weni­ger in der Existenz der Institutionen, als in ihrer Legitimation. Legitimität bedeu­tet die Anerkennungswürdigkeit einer Ordnung. Die Gewalt allein stützt eine Regierung nicht, es bedarf dazu aner­ken­nungs­wür­di­ger Gesetze. Hierin unter­schei­det sich die Legalität von der Legitimität eines Gesetzes. Legitimität ist ein ethi­sches und kein juris­ti­sches Problem.

Recht bedeu­tet vor allen Dingen Rechtfertigung. Recht ist aber eine Norm und exis­tiert nur in den Köpfen der Menschen. Eine Norm ist eine Idee eines rich­ti­gen Verhaltens. Die Idee eines rich­ti­gen Verhalten bedeu­tet, daß das rich­tige Verhalten nicht als Tatsache, sondern als Aufgabe, nicht als etwas Wirkliches, sondern als etwas zu Verwirklichendes vorzu­stel­len ist. Normen, bzw. Werte und Ziele sind keine Gegenstände der Erkenntnis, sondern der subjek­ti­ven Wahl. Jede Rechtfertigung geschieht in Bezug auf subjek­tive Wertvorstellungen und Interessen, beruth aber nicht auf der Notwendigkeit zwin­gen­der Tatsachen. Die logi­schen Gesetze, das ideale Recht und die Werte machen den Bereich eines Gesollten aus; stehen also für etwas, das sein soll und nicht für etwas, das ist.

Der recht­li­che Begriff hat es mit dem Ordnen von subjek­ti­ven Willensinhalten und nicht mit der objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis der prak­ti­schen Körperwelt zu tun, aber
“der Empirismus macht, … wie die tradi­tio­nelle Erkenntniskritik über­haupt, den Versuch, Geltung strik­ten Wissens durch Rekurs auf die Quellen des Wissens zu recht­fer­ti­gen. Indessen fehlt den Quellen des Wissens, dem reinen Denken und der Überlieferung ebenso wie der sinn­li­chen Erfahrung, Autorität. Keine von ihnen kann unver­mit­telte Exiden und origi­näre Geltung, keine kann mithin Kraft der Legitimation bean­spru­chen. Die Quellen des Wissens sind immer schon verun­rei­nigt, der Weg zu den Ursprüngen ist uns verstellt. Daher muß die Frage nach der Herkunft der Erkenntnis durch die Frage nach ihrer (prak­ti­schen) Geltung ersetzt werden.” 2)
Es ist nicht das Wissen, welches das Recht schafft, sondern der Wille. Jedes Gesetz verdankt seinen Ursprung einem prak­ti­schen Motiv. Die Gesetze des Staates sind allen­falls erwünschte Zweckmäßigkeiten. Staat und Recht stehen in einem Wechselverhältnis, eines ist ohne das andere nicht zu haben. Die Fragen nach dem Zweck des Rechts und dem Zweck des Staates sind untrenn­bar. Rechtsetzung ist deshalb die Hauptfunktion der Staatsgewalt.

Demokratie ist das glei­che Recht für alle. Das ganze Recht kann seiner Definition nach nur in der Anwendung von glei­chem Maßstab bestehen. Die Grundthese der Demokratie ist, daß es keine Klassen gibt. Die Definition der Gleichheit im klas­si­schen Liberalismus ist die poli­ti­sche, d.h. die abstrakte Gleichheit vor dem Gesetz. Daß die Bürger vor dem Gesetz gleich sind heißt nichts ande­res, als daß Gesetze herr­schen. Staatliche Macht leitet sich ab aus Regeln, die allge­mein, d.h. prin­zi­pi­ell für jeden gelten sollen.
“Das Grundprinzip der Demokratie ist die Auffassung, daß die allen Menschen gemein­sa­men Wesenszüge, Bedürfnisse und Interessen Vorrang haben vor denen einzel­ner Organisationen, Institutionen oder Gruppen.” 3)
Maßgebend sind nur glei­che Eigenschaften und Bedürfnisse der Menschen, also allge­meine Merkmale, die auf viele Menschen zutref­fen. Ohne den Gleichheitsbegriff der Person ist Recht über­haupt nicht denk­bar.
“Wenn nicht im Hintergrund jener sozia­len Typen der Gleichheitsbegriff der Perso stünde, so fehlte es an dem Generalnenner, ohne den eine Vergleichung und Ausgleichung, ohne den Erwägungen der Gerechtigkeit, ohne den Privatrecht und viel­leicht über­haupt Recht nicht denk­bar wären.” 4)
Die juris­ti­sche Isolierungs- und Systematisierungstendenz der typi­sie­ren­den Methode verhält sich indif­fe­rent gegen die indi­vi­du­elle Besonderheit und zieht aus der konkre­ten Ganzheit der Erlebnisse nur einen abstrak­ten, allge­mei­nen Faktor heraus. Das Recht ist darum immer im Rückstand auf die indi­vi­du­el­len Tatsachen. Gerade weil die Logik nicht immer mit der Wirklichkeit über­ein­stimmt, erge­ben sich in der Praxis der Rechtsprechung immer Fälle, welche nach den bestehen­den Gesetzen nicht behan­delt werden können. Diese werden dann unter analoge Fälle gerech­net und oft gera­dezu gewalt­sam unter gewisse Gesetze subsu­miert. Wenn neue Fälle, d.h. unver­gleich­bare Tatsachen auftre­ten, dann erweist sich das Gesetz immer als ungenügend.

Da alle Gesetze nur allge­meine Prinzipien nieder­le­gen, müssen sie ausge­legt werden. In diesen Auslegungen wird aber weni­ger das Gesetz den Menschen ange­passt, sondern die Menschen im Sinne des Gesetzes inter­pre­tiert. Wo wir aber das Problem der Individualisierung nicht beach­ten, inden­ti­fi­zie­ren wir Recht und Gesetz, also Legitimität und Legalität, wodurch eine Legitimation über­flüs­sig wird. Sokrates verwei­gerte deshalb seinen Richtern jegli­che objek­tive Bestimmung seines Lebens. Niemand kann von einer Person spre­chen, ohne wirk­li­che Einfühlung und Verständnis dieser Person. Jeder Fall ist singu­lär. Der Begriff der juris­ti­schen Person ist eine erfun­dene Konstruktion. Ein Legalist versteht von den Menschen nur so viel, wie er für die Rechtsprechung braucht. Es gibt aber kein objek­ti­ves, das heißt von den beson­de­ren Umständen unab­hän­gi­ges Gesetz, weil es keinen objek­ti­ven Menschen gibt. Verschiedene Rechtsnormen exis­tie­ren in verschie­de­nen Ländern, weil es mehrere irre­du­zi­ble, also nicht mehr weiter rück­führ­bare Grundnormen gibt. Der Geist der Gesetze ist über­all verschieden.

Alles Recht beruht auf Übereinstimmung und Vertrag. Daß Gesetze zustim­mungs­be­dürf­tig sind, ist die formale Voraussetzung der demo­kra­ti­schen Freiheit. Bloße Fakten oder bloße Gewalt können kein Recht schaf­fen. Wo objek­tive Fakten Recht schaf­fen, gilt keine Moral. Voraussetzung für Recht und Moral ist der freie Wille. Jedes Rechtsverhältnis ist ein Willensverhältnis. Immer gilt der Grundsatz: Legitimität geht vor Legalität. Sittlichkeit, als Voraussetzung allen Rechts, schafft sich allein durch persön­li­che Überzeugung Geltung, nicht durch physi­sche oder ideo­lo­gi­sche Gewalt. Die legi­time Ausübung von Macht kann deshalb immer nur einen Folge eines Rechtsvertrages sein, zu dem sich zwei Seiten frei­wil­lig beken­nen. Ein allge­mein­gül­ti­ges objek­ti­ves Recht, das nicht der ausdrück­li­chen Zustimmung bedarf, ist ein Unding. Der Gewalt nach­ge­ben ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des Willens. Gesetze, denen nicht wirk­lich frei­wil­lig zuge­stimmt wird, haben auch keine Rechtskraft dem einzel­nen gegenüber.

Jeder Rechtssatz, der sich aus objek­ti­ven Tatsachen ablei­tet, entspringt dem Bedürfnis, einen Status, er im Prinzip das Ergebnis roher Gewalt ist, mit irgend­ei­ner Ideologie zu recht­fer­ti­gen. Ause einer abso­lu­ten und tota­li­tä­ren Auffassung ergibt sich aber allen­falls Macht, kein Recht. Wo im Recht die Möglichkeit der Übereinstimmung, bzw. Zustimmung aufhört, da verkehrt sich Recht in Unrecht und recht­li­cher Zwang in Gewalt. Legalität ohne Legitimation ist die Definition von Diktatur. Allgemeingültigkeit kann nicht anders, als durch die konkrete, persön­li­che und ausdrück­li­che Zustimmung jedes einzel­nen Menschen in einem Sozialverband erreicht werden. Da der allge­meine Wille nur in der idea­len und utopi­schen Vorstellung exis­tiert, wird darum in der Regel die still­schwei­gende Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag schon als eine ausdrück­li­che behandelt.

Eine wesent­li­che Problematik des Demokratieprinzips liegt in der Verallgemeinerbarkeit der indi­vi­du­el­len Willen, Meinungen und Bedürfnisse. Demokratie ist Wahl, Wahl ist Willensübertragung. Jede Wahl ist ein abstrak­ti­ves Verfahren, das auf der Verallgemeinerung indi­vi­du­el­ler Interessen und des freien Willens der Menschen zu einem Allgemeininteresse beruth. Und hier liegt das Problem: In einer Mehrheitsdemokratie gibt es ledig­lich Machtansammlungen, aber keine Willensansammlungen. Macht kann zwar über­tra­gen werden, nicht aber der Wille. Ein Mensch selbst kann nicht vertre­ten werden. Vertreten werden besten­falls einzelne Interessen. Über den Wahlmodus ist aber der ganze Bürger reprä­sen­tiert. Kein Wille, weder der Wille des Einzelnen, noch der Wille des Volkes ist über­trag­bar ohne Willensentäußerung. Niemand kann seinen Willen verall­ge­mei­nern, ohn ihn nicht zugleich aufzu­ge­ben. Ein Wille kann nur funk­tio­nie­ren, wenn er unge­bro­chen einer und in sich unteil­bar ist. Ein geteil­ter Wille ist unvor­stell­bar. Keiner kann deshalb für den andern wollen. Wenn der Wille eines Einzelnen nicht über­trag­bar ist, dann ist es auch der Wille eines ganzen Volkes nicht. Es gibt keinen Willen des Volkes. Und deshalb ist es auch Unsinn, im Namen des Volkes Recht zu sprechen.

Wille ist ohne Allgemeinheit. Der freie Gesellschaftsvertrag als Grundlage für den staat­li­chen Vertretungsanspruch eines allge­mei­nen Interesses ist nur eine Fiktion.
“Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herr­schen­den Willen gibt, und dieser herr­schende Wille für gleich­be­deu­tend mit dem eige­nen Willen ange­se­hen wird. Es kann sich der Staat des Anspruchs nicht entschla­gen, den Willen des Einzelnen zu bestim­men, darauf zu speku­lie­ren und zu rech­nen. Für ihn ist’s unum­gäng­lich nötig, daß Niemand einen eige­nen Willen habe; hätte ihn Einer, so müßte der Staat diesern ausschlie­ßen (einsper­ren, verban­nen usw.); hätten ihn Alle, so schaff­ten sie den Staat ab.” 5)
Durch den Mehrheitskonsens der Untertanen wird der Staat nicht begrün­det. Der staat­li­che Apparat wird durch das Wahlrecht ledig­lich lega­li­siert, aber keines­wegs legi­ti­miert. Souveränität ist daher die zentrale Frage des Staats. Das Recht behält nur soweit Recht, wie die Macht reicht. Oft wird darum von Rechtsfragen gere­det, wo es sich ledig­lich um Machtfragen handelt. Der Machtkampf maskiert sich als Rechtsstreit. “Das posi­tive Recht ist Herrschaftstechnik, ist eine beson­ders dünn auflie­gende Herrschaftsideologie.” 6)

Alles Recht ist wesent­lich dazu bestimmt, prak­ti­sche Ordnungsfunktionen zu erfül­len. Der Zweckgedanke des Rechts zielt auf eine harmo­ni­sie­rende Gestaltung des Gemeinschaftslebens ab. Politische Programme empfeh­len daher Strategien zur Herbeiführung unpro­ble­ma­ti­scher Situationen in Bezug auf Herrschaft und Ordnung. Durch ein Gefüge von Sanktionen wird ein einheit­li­cher Konsens herbei­ge­führt. Physische Gewalt findet nur noch da Anwendung, wo die ideo­lo­gi­sche Beherrschung versa­gen sollte. Das Rechtsbewußtsein ist deshalb Teil des poli­ti­schen Bewußtseins. Alle staat­li­chen Gesetze sind poli­tisch. Politik heißt Integration der ewig antago­nis­ti­schen gesell­schaft­li­chen Vielheit zur staat­li­chen Einheit. Im Recht wird die Gewalt mono­po­li­siert. Der theo­re­ti­sche, bzw. juris­ti­sche Anspruch wird dem prak­ti­schen, poli­ti­schen Nutzen untergeordnet.

Alle Rechtfertigungen sind prag­ma­ti­scher Art.
“Bei der zu bevor­zu­gen­den Tatbestandsfeststellung kommt es nicht so sehr darau an, daß die abso­lute Wahrheit eruiert wird, sondern daß des Streitens ein Ende werde. Hätte das Suchen nach dem wirk­li­chen Tatbestand, das Forschen nach der Wahrheit kein Ende — und wie könnte es ein Ende haben, da dem Menschen doch abso­lute Wahrheit uner­reich­bar bleibt -, dann würde das gerech­teste Recht im Prozess seiner Anwendung verei­telt. Darum will das posi­tive Recht Recht vor allem eine Friedensordnung sein. Auch im Interesse von Ruhe und Sicherheit muß es ausge­schlos­sen sein, daß jeder belie­bige seine subjek­tive Meinung über das, was gerecht sei, an Stelle der von der beru­fe­nen Autorität gesetz­ten Normen stel­len dürfe. Anstelle des Ideals der Gerechtigkeit tritt mit dem Prinzip der Rechtskraft das Ideal des Friedens. Und dieses Friedensideal ist dem Gerechtigkeitsideal direkt entge­gen­ge­setzt.” 7)
Die Demokratie des Mehrheitsrechts ist viel­leicht sogar gefähr­li­cher, als die offene Diktatur, weil sie den Menschen die Illusion von Freiheit und Legitimität gibt und die Notwendigkeit des Widerstands deshalb gar nie ins Bewußtsein tritt.
“Der tech­no­kra­ti­sche Konservatismus ist ein beson­ders subtile Form anti­de­mo­kra­ti­schen Denkens und Handelns, weil er die Demokratie nicht auto­ri­tär abschafft, sondern etatis­tisch tech­no­kra­tisch aufhebt: Wenn alle Fragen Sachfragen sind, haben Partizipation und Interessenpluralismus ihre Bedeutung verlo­ren.” 8)
Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist erst im 18.Jahrhundert von Locke und Rousseau entwi­ckelt worden. Mit dem Demokratiegedanken änderte sich auch die Definition von Legitimität. Die Legitimität des demo­kra­ti­schen Staates beruhte nicht mehr auf der Natur oder auf Gott, sondern auf einem Vertrag. Im Gesellschaftsvertrag wird die Nation zum Ursprung aller Legalität und zur Quelle des Rechts. Die Grundlage einer recht­mä­ßi­gen Regierung kann jetzt nur noch auf Abstimmungsmehrheit gegrün­det werden. Der allge­meine Wille ist aber Resultat, nicht Ursprung des Staates. Parlamente gab es lange, bevor es das allge­meine Stimmrecht gab. Jeder Staat entstand und behaup­tete sich anfangs durch äußere Gewalt. Zuerst kam die Gewalt, der Gedanke zu über­zeu­gen ist erst später gekom­men. Das Stimmrecht war noch vor nicht allzu­lan­ger Zeit auf Eigentümer von Grundbesitz und freie Mitglieder von Zünften beschränkt. Es galt ein auf die Vermögenskreise beschränk­tes Zensuswahlrecht. Für das aktive Wahlrecht mußten z.B. im Frankreich des letz­ten Jahrhunderts noch 1000 Francs, für das passive 300 Francs bezahlt werden. Im England des 17.Jahrhunderts waren Almosenempfänger, Bedienstete und Lohnempfänger vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Das Wahlrecht war auf Eigentum gegrün­det. Diejenigen Bürger, die wenig oder gar keinen Steuerbetrag zahl­ten, besa­ßen keiner­lei poli­ti­schen Rechte und durf­ten auch nicht wählen. Bis zum 19.Jahrhundert
“lag die Aufgabe der Gesetze haupt­säch­lich darin, Eigentum zu schüt­zen, nicht Freiheit zu garan­tie­ren, denn die Freiheit mit allen ihren Rechten und Privilegien war grund­sätz­lich durch Eigentum garan­tiert.” 9)
Solange vom Wahlrecht eine konkrete Änderung der bestehen­den Verhältnisse befürch­tet werden mußte, durf­ten nur dieje­ni­gen wählen, die ein Interesse an der herr­schende Ordnung hatten. Mit dem allge­mei­nen Stimmrecht wurde der poli­ti­sche Kampf dann auf den Wahlkampf beschränkt. Der Stimmzettel hatte die Flinte ersetzt. Mit dem Aufkommen der Demokratie trat an die Stelle der offe­nen Gewalt die versteckte Gewalt der Mehrheitsbeschlüsse. Die poli­ti­sche Existenz der Bürger wurde auf den Wahlvorgang redu­ziert. Heute ist das Prinzip der Mehrheitsherrschaft die Grundlage des demo­kra­ti­schen Glaubensbekenntnisses. Wahlen bieten aber immer nur die Möglichkeit zwischen verschie­de­nen Herrschaftsausübern zu wählen, nicht aber die Möglichkeit sich der Beherrschung durch andere zu entziehen.

Allgemeines Wahlrecht ist das Recht der Mehrheit, ihren Willen der Minderheit aufzu­zwin­gen. Das Mehrheitsprinzip heißt im wesent­li­chen, daß die Gemeinschaft in allen sozia­len Beziehungen das Recht hat, nach dem Nützlichkeitsprinzip für die größte Zahl einzu­grei­fen. Der Allgemeinnutz soll dem Eigennutz vorge­hen. Interessen sind poli­tisch nur als Gruppeninteressen von Bedeutung. Was ein Mensch für rich­tig hält, hat keine poli­ti­sche Bedeutung, solange er dafür nicht eine ausrei­chende Mehrheit gewinnt. Die formale Demokratie beruht auf einer mecha­ni­schen Gleichheit, auf dem Prinzip der Zahl. Das gesamte Wahlrecht ist ein Verfahren, bei dem die Wahrheit auf Zahlen gegrün­det ist. Jeder Zählvorgang verlangt aber Vergleichbarkeit des zu Zählenden und diese Vergleichbarkeit ist nur über Verallgemeinerung zu errei­chen. Menschen werden deshalb poli­tisch auf die abstrakte Zahl herab­ge­wür­digt.
“Siegessicher prokla­mier­ten sie das allge­meine Wahlrecht … als Grundlage der neuen Staatsordnung. Diese arith­me­ti­sche Flagge war ihnen sympa­thisch, die Wahrheit ließ sich durch Addition und Subtraktion ermit­teln, man konnte sie auf dem Rechenbrett ausrech­nen und mit Stecknadeln abste­cken.” 10)
Die Zahl entschei­det über Sieg und Niederlage. Stimmen werden gezählt, anstatt gewo­gen. Die Theorie der Repräsentationsdemokratie entspre­chend ist die Unterdrückung der knap­pen Hälfte einer Bevölkerung durch die knappe Mehrheit erlaubt. Unter Umständen bestim­men 51% der Wähler über 49% der Stimmen. Es ist also eine äußerst frag­wür­dige Verpflichtung der Minderheit, sich der Wahl einer Mehrheit unter­wer­fen zu müssen. “Die Demokratie … sie beruth nur auf der Zahl und hat als Maske den Namen des Volkes.” 11)

Demokratie ist die Regierungsform, in der das Volk durch gewählte Vertreter die regie­rende Macht ausüben soll. Allein die Existenz eines Parlaments ist noch lange kein Beweis für eine demo­kra­ti­sche Ordnung. Im Parlament wird meist über Sachen abge­stimmt, die zum Zeitpunkt der Wahl noch gar nicht zur Debatte stan­den. In der Demokratie stimmt der Bürger auch dem Gesetz zu, das gegen seinen Willen geht. Das Volk fügt sich Entscheidungen, die von andern oft eilfer­tig getrof­fen werdn, die von den vorlie­gen­den Problemen meist auch nicht viel Ahnung haben und oft auch nicht beson­ders an ihnen inter­es­siert sind. Auftretende Meinungsverschiedenheiten mögen wich­tig oder unwich­tig sein, sie werden immer nach dem Willen der Mehrheit entschie­den. Das Mehrheitsprinzip ist aber keine Begründung von Herrschaft, sondern selbst eine Form der Herrschaft. Die Mehrheit hat immer recht ist ledig­lich eine Umformung des Slogans: Der Stärkere hat immer recht!
“Oktroyiert ist jede nicht durch persön­li­che freie Vereinbarung aller Beteiligten zustan­de­ge­kom­mene Ordnung. Also auch der Mehrheitsbeschluß, dem sich die Minderheit fügt.” 12)
Die Mehrheitsdemokratie ist auch nur ein Anpassungssystem wie alle andern auch.

LITERATUR — Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit — Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
Anmerkungen:

IMMANUEL KANT, Metaphysik der Sitten, o.J., Seite 30
JÜRGEN HABERMAS in THEODOR ADORNO, Der Positivismusstreit in der deut­schen Soziologie, Frankfurt 1989, Seite 240
LEWIS MUMFORD, Mythos der Maschine, Frankfurt 1980, Seite 271
GUSTAV RADBRUCH, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1973, Seite 226
MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 214
ERNST BLOCH, Naturrecht und mensch­li­che Würde, Frankfurt 1985, Seite 208
HANS KELSEN, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, Seite 109
RICHARD STÖSS, Konservative Aspekte der Ökologiebewegung in Ästhetik und Kommunikation Heft 36, Berlin 1979, Seite 28
HANNAH ARENDT, Über die Revolution, München 1974, Seite 233f
ALEXANDER HERZEN, Die geschei­terte Revolution, Frankfurt 1977, Seite 169
PIERRE-JOSEPH PROUDHON in OTTHEIN RAMMSTEDT (Hrsg), Anarchismus, Köln/Opladen 1968, Seite 36
MAX WEBER, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 1978, Seite 74

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