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16. Wirkliches Denken

Gedächtnis ohne Gedächtniszeichen ist nicht möglich; und Zeichen sind im weites­ten Sinne sprach­li­che Akte.”

Von der physio­lo­gi­schen Psychologie wollen wir die Kritik der älte­ren psycho­lo­gi­schen Begriffe gern anneh­men; ihrer Führung wollen wir uns jedoch nicht anver­trauen, am wenigs­ten der neuer­dings so emsi­gen Gehirnphysiologie. Die Herren, welche nach physio­lo­gi­schen Schätzen graben, geben auf wirk­lich psycho­lo­gi­schem Gebiete ihren ganzen Scharfsinn in der Negation gegen die ältere Psychologie aus und behal­ten viel­leicht darum so wenig für Selbstkritik übrig. Ein so verdienst­vol­ler Forscher wie WERNICKE kennt WUNDTs Fehler besser als die eige­nen. Er sagt gele­gent­lich, wo er sich mit der Erscheinung des Bewußtseins beschäf­tigt und darum Messer und Mikroskop beiseite legen muß: “Fragen wir nach dem Aufschluß, den uns die Sektionen von Geisteskranken über den uns beschäf­ti­gen­den Gegenstand geben, so ist bekannt­lich der Befund meist nega­tiv.” Aber in seiner sehr geschätz­ten Arbeit über den apha­si­schen Symptomenkomplex verrät sich plötz­lich der heim­li­che Wortaberglaube der mate­ria­lis­ti­schen Schulen, welche sich so frei von jedem Aberglauben wähnen.

Er spricht es da ganz unbe­fan­gen aus, daß die typi­schen klini­schen Bilder, ans welchen man Schlüsse auf die Lokalisation im Gehirn ziehen könnte, zahl­rei­cher beob­ach­tet würden, wenn man nur die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hätte. Jeder forschende Arzt wird das in gutem Glauben hinneh­men und wirk­lich recht viele einschlä­gige Krankengeschichten mit Sektionsbefunden veröf­fent­li­chen, nach­dem er sich die Begriffe für die verschie­de­nen Assoziationszentren geläu­fig gemacht hat. Ich meine aber, die gegen­wär­tige Gehirnphysiologie verfällt da (gar viel feiner frei­lich) in den glei­chen Fehler wie die alte Phrenologie, die brutal und makro­sko­pisch den Sitz der vermeint­li­chen geis­ti­gen Eigenschaften Großmut, Liebe, Geiz u.s.w. suchte. Eine konse­quente Physiologie dürfte gar nicht die Faserbahnen für psycho­lo­gi­sche Vorgänge suchen, die nur Hypothesen unse­res Selbstbewußtseins sind. Der Mann am Mikroskop findet nur zu leicht, was er sucht. So ist es in der Gehirnanatomie gegan­gen, so in der Bakteriologie.

Gewiß kann die natur­wis­sen­schaft­li­che Forschung nicht vorwärts kommen, wenn sie sich nicht Fragen stellt, die über bereits bekannte Tatsachen hinaus­ge­hen. Aber die Fragen müssen aus reiner Wissenschaft hervor­ge­hen. Der Mathematiker darf nicht die Fragen eines Astrologen beant­wor­ten wollen, sonst wird er wie KEPLER gele­gent­lich (und nicht nur da, wo der Arme wie ein gefäl­li­ger Journalist für Kalender oder für WALLENSTEIN arbei­tete) selbst zum Astrologen. Für den konse­quen­ten Physiologen dürfen die alten Fragen der meta­phy­si­schen Psychologie nicht exis­tie­ren, solange er im Gehirn nicht Korrelate zu den alten Begriffen gefun­den hat. Und davon sind wir weit entfernt. Was etwa an Lokalisationen fest­ge­stellt worden ist, das bezieht sich ausschließ­lich auf die Zentralstellen der Sinnesorgane. Das Denken ist vorläu­fig von der alten Psychologie immer noch besser analy­siert worden als von der Gehirnanatomie. Die verschie­de­nen Zentralstellen für das Denken sind bislang sche­ma­ti­sche Hypothesen. Die neuen Begriffe der moto­ri­schen und der senso­ri­schen Aphasie geben keine Beschreibung der Tatsache, sondern nur die sche­ma­ti­sche Hypothese einer Erklärung; die Asymbolie ist nur ein sche­ma­ti­sches Bild für die seit KANT geläu­fige Annahme, daß auch zum Zustandekommen von Wahrnehmungen Verstand nötig sei.

Auch wir können die Daten der Gehirnphysiologie nur benüt­zen, um für unsere Frage, die sich mit den Mitteln unse­rer Sprache gar nicht fassen läßt, etwas passen­dere Wortbilder zu wählen. Wir wissen, daß zwischen den Menschen, in der Sozialpsychologie, ein Denken ohne Sprechen unaus­denk­bar und unsag­bar ist. Wir wissen, daß der Individualmensch ein Sprechen ohne Denken nicht besitzt. Gibt es aber im Individualgehirn dennoch ein Denken ohne Sprechen?

Da wollen wir uns erin­nern, daß sich uns zu Beginn unse­rer Untersuchung die Sprache als etwas Unwirkliches entzo­gen hat, daß selbst die Einzelsprachen, ja sogar die Individualsprachen der Einzelmenschen sich als unwirk­lich auswie­sen, daß nur der augen­blick­li­che Sprachlaut etwas Wirkliches war, soweit er noch wirk­lich bleibt, wenn wir ihn als eine Bewegung erkannt haben. Genau so steht es mit dem Denken, was nicht wunder­bar ist, wenn Denken und Sprechen iden­tisch sind. Das Denken ist ein wissen­schaft­li­cher Begriff und Wissenschaft gehört bereits zur Sozialpsychologie. Der Einzelmensch weiß mancher­lei; Wissenschaft ist eine Konstruktion außer­halb des Einzelmenschen. Der Mensch besitzt kein abstrak­tes Denkvermögen, sondern er kennt die Tatsache, daß in ihm Denkakte voll­zo­gen werden. Diese Denkakte sind allein wirk­lich, wobei ich mich dage­gen verwahre, “wirk­lich” in atomis­ti­schem Sinne zu verste­hen; die Physiologen, welche die hypo­the­ti­schen mole­ku­la­ren Veränderungen in den Ganglien allein wirk­lich nennen, finden den Weg zur Psychologie nicht zurück. Unsere einzel­nen Denkakte sind allein wirk­lich, trotz­dem sie weiter­hin geis­tige Vorgänge heißen mögen.

Wir stehen also vor der enge­ren Frage: gibt es Denkakte ohne Sprachakte? Gewiß, es handelt sich nur um die ganz mensch­li­che, ganz will­kür­li­che Definition der Begriffe Denken und Sprechen. Fast alle Empfindungen und sehr viele Wahrnehmungen haben wir ohne Hilfe der Sprache; und da Empfindungen und Wahrnehmungen uns leicht zu verstän­di­gem Handeln veran­las­sen, was unge­nau auch auf Denken zurück­ge­führt werden kann, so gibt es da so etwas wie Denken ohne Sprechen. Verstehen wir jedoch unter Denken nur dieje­ni­gen Prozesse in unse­rem Gehirn, bei denen sich Empfindungen oder Wahrnehmungen mit Vorstellungen asso­zi­ie­ren, oder Vorstellungen unter­ein­an­der, so kann von einem Denken ohne Sprechen nicht die Rede sein. Denn die Vorstellung ist ein Erinnerungsbild und unter­schei­det sich etwa von der Erinnerung an eine einfa­che Empfindung gerade dadurch, daß sie ein Bild ist, ein Zeichen für die Beziehungen verschie­de­ner Erinnerungen. Wir kommen da ohne das Bild von Bildern oder Zeichen nicht aus. Gedächtnis ohne Gedächtniszeichen ist nicht möglich; und Zeichen sind im weites­ten Sinne sprach­li­che Akte.

Wiederholte nun jemand den eige­nen Einwurf, daß nach unse­rer instink­ti­ven Empfindung dennoch ein Unterschied bestehe zwischen Sprechen und Denken, so kann ich jetzt darauf erwi­dern, daß dieser Unterschied nur in unse­rem Denken oder Sprechen vorhan­den ist, weil Denken oder Sprechen die einfa­che Wirklichkeit nicht einfach sehen kann. So ist für den Menschen unge­zählte Jahrtausende lang ein Unterschied gewe­sen zwischen der Schwere des ruhen­den Steines und der Geschwindigkeit des fallen­den Steines; viel­leicht ersteht uns einmal ein NEWTON der Psychologie, der die einfa­che Bewegungserscheinung erkennt, die wir bald Denken, bald Sprechen nennen. Es muß die Bereitschaft in der Ganglienzelle, bevor durch eine Anregung Denken oder Sprechen ausge­löst wird, mit der laten­ten Gravitation des ruhen­den Steines manche Ähnlichkeit haben.

Die gegen­wär­tige Naturwissenschaft hat das mate­ri­elle wie das geis­tige Weltall teils als Bewegung, teils unter dem Bilde der Bewegung verste­hen gelernt. Was wir hören, sind Stoßbewegungen elas­ti­scher Körper, was wir schme­cken, wird uns als ein System chemi­scher Bewegungen beschrie­ben, was wir sehen, nennt man Ätherbewegungen. Was wir spre­chen, kommt erst durch Bewegungsgefühle zu stande; was wir denken, hat unbe­schrie­bene Molekularbewegungen im Gehirn zum Korrelat. Warum sollte unser Denken oder Sprechen mehr sein als ein Ausklingen der Bewegungen im Weltall.

LOTZE hat darauf hinge­wie­sen, daß im Schall, der den Mund verläßt, die Wellen austö­nen, die unsere Sinnesorgane tref­fen. Der Gedanke ist viel­leicht realis­ti­scher zu nehmen, als man glaubt. Vielleicht muß der Mensch nach star­ken Wellenschlägen (die sein Auge oder Ohr z.B. getrof­fen haben) den Mund zum Schreien oder Reden aufrei­ßen, wie der Kanonier beim Feuern den Mund öffnet, damit er nicht taub werde. Vielleicht ist wirk­lich die Bewegung der Wellen, die unsere Organe tref­fen, oft zu stark, als daß die von ihr veran­laßte chemi­sche Bewegung in den Nerven u.s.w. ihre Energie ganz verbrau­chen könnte. Vielleicht ist es der Überschuß an Energie, der im Gehirn Assoziationen bewirkt und als Schallwelle aus dem Munde fährt. Experimentell wird sich das wohl kaum nach­wei­sen lassen, so lange man die chemi­schen und sons­ti­gen Vorgänge in den Nerven nicht besser kennt.

Aber auch wenn diese Hypothese abzu­wei­sen ist, wenn die einwir­kende Energie der äuße­ren Molekülbewegungen zur Ruhe, zur Kräfteausgleichung in dem kommt, was in unse­rem Gehirn vorgeht und veran­laßt wird, auch dann müßte man aus dem Gesetze der Erhaltung der Energie schlie­ßen, daß keine einzige neue oder irgend­wie diffe­ren­zierte Wahrnehmung ohne folgen­des Denken bleibt, daß dieses Denken unmög­lich ohne gewisse psycho­lo­gi­sche Änderungen vor sich geht, daß — da diese neue Wahrnehmung im Gedächtnis haftet — sie sich mit der Summe der frühe­ren Wahrnehmungen asso­zi­iert, das heißt dem Gedächtnis oder Sprachschatz einver­leibt wird, daß also auch der einfachste wirk­li­che Denkprozeß gar nicht möglich ist ohne Sprache, ja eigent­lich iden­tisch ist mit der Sprachbewegung, welche immer zugleich Sprachübung oder Wachstum ist.

Vielleicht wäre es frucht­bar, das Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht nur auf die Wortsprache, sondern auch auf die so verständ­li­che Zeichensprache der Tränen und des Lachens anzu­wen­den. Gewisse Schutzmaßregeln des Ohres und des Auges (die bekann­teste ist das Verengen der Pupille bei star­kem Lichtreiz) lassen erken­nen, daß der Organismus über­große Energie der Außenwellen fürch­tet. Kommen sie dennoch über­mäch­tig heran, so hilft er sich gar mit Ohnmachten und endlich — aus Verzweiflung — wenn’s nicht anders geht, mit dem Selbstmord, der dann Tod heißt.

Man hat unsere Zeit oft und rich­tig mit dem verfal­len­den Altertum vergli­chen. Wie die Gesellschaft der römi­schen Kaiserzeit keine geschlos­sene Weltanschauung mehr hatte, weil ihr alle mögli­chen Anschauungen zu bunter Auswahl gefäl­lig vorla­gen, so glaubt auch heute eigent­lich keiner mehr an etwas. Religionen und Philosophien werden neben­ein­an­der in Jahrmarktbuden ausge­schrieen, so wie in den Möbelhandlungen die Stoffe und Formen aller Zeitstile und Stilrevolutionen neben­ein­an­der zu haben sind. Und wie damals die Männer, die aus der Jesuslegende das Christentum schu­fen, zu groß oder zu klein, um für sich selbst aus der Welt zu gehen, der Weltsehnsucht nach dem Tode Worte liehen, wie der Selbstmord der Weltfreude anfing, die Gedanken der damals Modernen zu beherr­schen, so äußert sich die Verrottung unse­rer Gesellschaft in den Predigten aller unse­rer Dichter und Denker seit mehr als hundert Jahren. Wer modern ist, sehnt sich nach dem Ende, und wer modern schei­nen will, spricht vom Ende.

Kaum aber ist bisher beach­tet worden, daß der faulige Zustand der Weltanschauung sich zumeist und für helle Ohren am deut­lichs­ten in der Sprache verrät. Das Latein der Kaiserzeit war eine totkranke Sprache, bevor es eine tote Sprache wurde. Und unsere Kultursprachen von heute sind zerfres­sen bis auf die Knochen. Nur bei den Ungebildeten, beim Pöbel, gibt es noch gesunde Muskeln und eine gesunde Sprache. Die Sprache der Bildung hat sich meta­pho­risch entwi­ckelt und mußte kindisch werden, als man den Sinn der Metaphern verges­sen hatte. Wie die römi­sche Dame in ihrem Boudoir Fetische oder Götter aller Zeiten und Völker beisam­men hatte, und darum in der Not nicht wußte, zu welchem beten, so hat der Dichter und der Denker unse­rer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende in seinem Gehirn beisam­men und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr ausdrü­cken, ohne daß die Worte wie ein gespens­ti­scher Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein Maskenkostüm nach dem ande­ren abstrei­fen und ihn ausla­chen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verra­ten, daß sie halb­ver­weste Gerippe sind.

In bunten Farben schim­mern unsere Sprachen und schei­nen reich gewor­den. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind herun­ter­ge­kom­men wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfer­tigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spie­len mit den Sprachen, die wie alte Dirnen unfä­hig gewor­den sind zur Lust wie zum Widerstand. Alt und kindisch sind die Kultursprachen gewor­den, ihre Worte ein Murmelspiel.

Abseits von der Sprache stei­gert sich der wollüs­tige Komfort bis zum Blödsinn und glaubt darum an einen Höhepunkt der Menschheit. In der Sprache verrät sich ihr tiefer Stand. Und zum ersten Mal, seit­dem Menschen spre­chen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft voran­gin­gen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsehnsucht. Um sich zu verstän­di­gen, haben die Menschen spre­chen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verlo­ren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schwei­gen zu lernen.

Nicht nutz­los schei­nen mir alle diese Betrachtungen über das Verhältnis von Denken und Sprechen. Aber denk­haft sind sie und sprach­haft, vor der letz­ten sprach­kri­ti­schen Arbeit ange­stellt. Darum klin­gen sie aus in der tragi­schen Verzweiflung, die fast wieder Wortknechtschaft ist, anstatt in dem resi­gnier­ten lachen­den Zweifel sprach­kri­ti­scher Befreiung. Am Ende des Weges hätte ich einfach fragen dürfen: Was geht es mich an, daß die Worte Denken und Sprechen zufäl­lig entstan­den sind? Daß die beiden Worte im Sprachgebrauche einan­der unre­gel­mä­ßig durch­schnei­den? Daß ihre Umfänge sich nicht zu saube­ren Kreisen gestal­ten? Und hätte ich nicht ebenso breit und gewis­sen­haft ähnli­che Verhältnisse analy­sie­ren müssen? Gott und Welt? Energie und Stoff? Leben und Organismus? Sprechen und Verstehen? Und scho­las­tisch nicht immer wieder auf den Gegensatz von subjek­tiv und objek­tiv kommen müssen?

Am Ende des Weges könnte ich aber doch, anschau­li­cher als bisher, klar zu machen suchen, warum ich Denken und Sprechen immer wieder gleich setzen muß, als die beiden gleich­wer­ti­gen Begriffe für die Summe des mensch­li­chen Gedächtnisses, warum ich trotz­dem die verschie­dene Tönung der Begriffe im Sprachgebrauche zugebe. An dieser Stelle muß ich kurz vorweg­neh­men, was erst bei der Kritik des Zeitworts (im 2. Kapitel des 3. Bandes, 1. Abt.) deut­lich werden wird.: Daß es irgend ein Verbum in der Welt unse­rer Vorstellungen nicht gibt, daß die Vorstellungen des Handelns insge­samt durch einen heim­li­chen Zweck entste­hen, durch den Zweck im Verbum, außer­halb der Natur, durch die mensch­li­che Zweckvorstellung. Es gibt nirgends etwas wie “graben” oder “gehen”, es gibt nur unzäh­lige Bewegungen oder Handlungsdifferentiale, die wir je nach dem Zwecke der Handlung als “graben” oder als “gehen” begrei­fen. Es gibt nirgends ein “Begreifen” , es gibt nur unzäh­lige mikro­sko­pi­sche (bild­lich, nicht mate­ria­lis­tisch) Bewegungen oder Veränderungen, die wir als “begrei­fen” begrei­fen oder zusammenfassen.

Solche Verba sind auch Denken und Sprechen. Zusammenfassungen mensch­li­cher Bewegungen zu einem Zweck. Handlungen, die ausein­an­der­fal­len, wenn der Ort der Handlung in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt. Die zusam­men­fal­len, wenn die Aufmerksamkeit sich rich­tet auf den Erzeuger des Verbums den Zweck. Sprache oder Denken ist da, so oft mensch­li­ches oder tieri­sches Handeln durch Gedächtniszeichen erleich­tert wird, also eigent­lich immer. Im wissen­schaft­li­chen Sprachgebrauch wird bald der Begriff Denken, bald der Begriff Sprechen unkon­trol­lier­bar erwei­tert und dann decken sich beide Begriffe für ein Weilchen nicht. In der Sprache nicht. Das diskur­sive Denken ist mit der Sprache iden­tisch. Das Denken kann aber auch sprung­haft werden und dann läßt es die Krücken der Sprache los. Wie beim Sprunge über den Graben, beim verstan­des­mä­ßi­gen Handeln von Mensch und Tier.Wirklich ebenso. Das verstan­des­mä­ßige Handeln fällt unter den erwei­ter­ten Begriff Denken. Nicht anders könnte man auch den Begriff “spre­chen” erwei­tern auf jede Benützung von Gedächtniszeichen, mit deren Hilfe sich das Tier in der Welt orien­tiert. Sprunghaft wären dann die InstinkthandIungen bei Mensch und Tier.

Der Zweck im Verbum ist zum gegen­sei­ti­gen Verstehen notwen­dig. Darum ist die Mitteilungsmöglichkeit bei den Tieren (Tierstaaten ausge­nom­men) so gering. Darum verste­hen Menschen und Tiere einan­der nicht leicht. Der Mensch sagt: “Ich denke und spre­che; der Hund bellt.” Der Hund bellt viel­leicht: “Ich denke und spre­che; der Mensch bellt.” Der Mensch: “Ich spre­che; der Buchfink singt.” Der Buchfink: “Ich spre­che; der Mensch singt.” A sagt: “Ich denke; B spricht.” B sagt: “Ich denke; A spricht.”

Noch ein Beispiel, um das Verhältnis von Denken und Sprechen lachend klar zu machen. Wie bei der Handlung des Sprechens der Zweck im Verbum oft nicht zum Bewußtsein kommt, so auch nicht immer bei der Handlung des Gehens. Man nennt die zweck­lose Fortbewegung “gehen”, land­schaft­lich auch laufen oder sprin­gen. (Ähnlich für spre­chen: reden oder sagen.) Läuft aber der Hund oder der Mensch dem Hasen nach, so jagt er den Hasen. Da haben wir zwei Worte, jagen und laufen, die sich ebenso weit vonein­an­der entfer­nen wie denken und spre­chen, und die dennoch zusam­men­fal­len, bis in ihre Bewewegungsdifferentiale.

Der Zweck erzeugt sich das Verbum, die zweck­mä­ßige Menschensprache mit ihren Begriffen und Kategorien erzeugt sich das Denken. Vielleicht ist die hier versuchte Darlegung des Verhältnisses von Denken und Sprechen nicht gar zu ferne von KANTs tiefs­ter Lehre, seiner wahr­haft koper­ni­ka­ni­schen Revolution. “Zur Erfahrung wird Verstand erfor­dert.” Und Vernunft. Denn die objek­tive Welt stammt von unsrer Begriffswelt ab, die eroberte Gedankenwelt von der ererb­ten Sprache.

Published inDas Wesen der Sprache 2

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